5G-Antennen verletzten das Vorsorgeprinzip nicht
Die Swisscom plant in Steffisburg BE den Neubau einer Mobilfunkanlage mit neun Sendeantennen. Drei davon sind sogenannte adaptive Antennen nach dem neuen Mobilfunkstandard 5G, bei denen sich die Signale auf einzelne Endgeräte fokussieren. Zwei Gegner solcher Antennen argumentierten vor Bundesgericht, die Anlage verletze das Vorsorgeprinzip. Für das Bundesgericht bestehen hingegen keine hinreichenden Hinweise, wonach die Fachbehörden des Bundes eine Anpassung der Grenzwerte hätten vornehmen müssen. Die kantonalen Behörden hätten bei ihrer Prüfung zu Recht die geltenden Immissions- und Anlagegrenzwerte der Verordnung über den Schutz vor nichtionisierender Strahlung (NISV) angewendet.
Bundesgericht 1C_100/2021 vom 14.2.2023
Grossvater ohne Anspruch auf persönlichen Verkehr
Ein Grossvater unterhielt zu seinen Enkeln eine enge Beziehung und betreute sie oft. Als die Kinder zwei und vier Jahre alt waren, kam es zum Zerwürfnis mit den Eltern. Seither hat der Grossvater die Kinder mit zwei Ausnahmen nicht mehr gesehen. Er beantragte bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, ihm sei zu bewilligen, die Kinder mindestens zweimal im Monat unbegleitet besuchen zu können. Die Behörden wiesen das Gesuch ab, weil sie bei Einführung eines Besuchsrechts einen Loyalitätskonflikt befürchten. Gemäss Artikel 274a Absatz 1 ZGB kann Verwandten der Anspruch auf persönlichen Verkehr bei ausserordentlichen Umständen eingeräumt werden. Das Bundesgericht erinnert daran, dass es noch nie einen Anspruch von Grosseltern auf Kontakt zu den Enkeln bejaht hat, wenn die Eltern ihrer Erziehungsverantwortung nachkommen.
Bundesgericht 5A_550/2022 vom 23.1.2023
Handy darf bei vermutetem Autorennen entsiegelt werden
Ein Audi S8 war wahrscheinlich aufgrund zu hoher Geschwindigkeit von der Strasse abgekommen, wobei sich zwei Personen verletzten. Es besteht der Verdacht, dass ein Autorennen stattgefunden hatte. Ein anlässlich des Verkehrsunfalles von der Polizei sichergestelltes Mobiltelefon wurde beschlagnahmt und versiegelt. Die zuständigen Behörden lehnten den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Entsiegelung des Mobiltelefons ab. Deshalb gelangte sie ans Bundesgericht. Das Bundesgericht erachtet die Entsiegelung als zulässig. Mit der Durchsicht der Mobiltelefondaten soll geklärt werden, ob das Rennen geplant und gefilmt wurde. Die Entsiegelung kann auch einer allfälligen Entlastung des wegen qualifizierter grober Verletzung der Verkehrsregeln angeschuldigten Lenkers dienen. Das Kantonsgericht hatte die beantragte Entsiegelung als reine «fishing expedition» eingestuft.
Bundesgericht 1B_185/2022 vom 22.2.2023
Bankkunde klagte auf die falsche Währung
Ein Bankkunde hatte bei einer Bank Termingeschäfte mit russischem Rubel abgeschlossen. Kurze Zeit später verlor der Rubel stark an Wert, weshalb die Bank die Termingeschäfte vorzeitig auflöste. Dem Kunden entstand ein Schaden von 1,5 Millionen Franken, weil die Bank den Kontrakt vor dem vereinbarten Termin aufgelöst hatte. Er klagte gegen die Bank auf Schadenersatz. Die Zürcher Justiz wies die Klage ab, weil der Kunde Schweizer Franken statt russische Rubel eingeklagt hatte. Das Bundesgericht bestätigte den Entscheid. Es wies die Lehrmeinung von Alfred Koller ab, die es dem Geschädigten grundsätzlich freistellen will, in Schweizer Franken oder in einer Fremdwährung zu klagen.
Bundesgericht 4A_455/2022 vom 26.1.2023
Gewerbsmässigkeit schon bei einer Liegenschaft
Ein Ehepaar aus dem Kanton Zürich verkaufte aus seinem Besitz eine von insgesamt sechs Liegenschaften für 4,3 Millionen Franken. Das Paar hatte die Liegenschaft fünfeinhalb Jahre zuvor für 3,5 Millionen Franken mit einem Hypothekenanteil von 2,6 Millionen Franken gekauft. Die Zürcher Steuerbehörden stuften den Verkauf als gewerbsmässig ein. Der Ehemann war in der Baubranche tätig und betrieb bis zur Pensionierung eine Gesellschaft für die Herstellung von Wintergärten. Das Bundesgericht vertritt die Auffassung, dass aufgrund der Fremdkapitalquote, der Fachkenntnisse, dem zeitlichen Engagement und der planmässigen Vorgehensweise ein gewerbsmässiger Liegenschaftshandel vorliegt.
Bundesgericht 2C_643/2021 vom 13.10.2022
Dublin-Überstellungen nach Kroatien zulässig
Kroatien wird seit längerer Zeit vorgeworfen, schutzsuchende Personen in rechtswidriger Weise ohne Prüfung ihrer Asylanträge teilweise unter Anwendung von Gewalt an die bosnisch-herzegowinische oder serbische Grenze abzuschieben oder bereits unmittelbar an der Grenze abzuweisen. Das Bundesverwaltungsgericht geht von einer hohen Wahrscheinlichkeit aus, dass solche unrechtmässigen Abschiebungen regelmässig praktiziert werden. Doch für das Gericht sind Dublin-Überstellungen nach Kroatien trotzdem weiterhin zulässig. Aufgrund der verfügbaren Quellen lägen keine Hinweise dafür vor, dass im Dublin-Kontext überstellte Personen trotz bekundetem Willen, sich dem Verfahren in Kroatien zu unterziehen, in unzulässiger Weise abgeschoben würden. Sie erhalten mit andern Worten Zugang zum dortigen Asylverfahren. Das Urteil kann beim Bundesgericht nicht angefochten werden.
Bundesverwaltungsgericht E-1488/2020 vom 22.3.2023
Fussfessel muss verhältnismässig sein
Nach Artikel 28c Absatz 1 ZGB kann das Gericht seit 2022 als vorsorgliche Massnahme im Eheschutzverfahren die Verwendung einer elektronischen Vorrichtung anordnen. Das Gericht, welches das Tragen einer Fussfessel anordnet, muss die Grundrechte sämtlicher betroffener Personen berücksichtigen. Die elektronische Überwachung muss verhältnismässig sein. Das Gericht muss eine Abwägung zwischen den Interessen des möglichen Täters und jenen des Opfers der häuslichen Gewalt vornehmen. Die Anordnung einer Fussfessel für sechs Monate bei einem Ehemann, der an einer bipolaren affektiven Störung leidet, die sexuelle Enthemmtheit und Gewalt mit sich bringt, ist laut Bundesgericht zulässig. In der Vergangenheit war es wiederholt zu Gewalt- und Sexualübergriffen auf die Kinder gekommen.
Bundesgericht 5A_716/2022 vom 27.2.2023
Suva muss nach Überfall weitere Leistungen erbringen
Ein bei der Suva versicherter Maurer war Opfer eines Überfalles in seinem Einfamilienhaus. Als es an der Terrassentür klopfte, öffnete der Hausherr die Türe, worauf der Ex-Freund der von seiner Familie aufgenommenen Frau schreiend und wild mit einer geladenen und entsicherten Pistole gestikulierend in das Haus eindrang. Er bedrohte den Hausherrn vor den Augen von drei minderjährigen Kindern und setzte ihm den Lauf der Waffe auf die Brust. Nach rund 20 Minuten zog sich der alkoholisierte Eindringling zurück und verschwand. Die Suva stellte die gesetzlichen Leistungen für die gesundheitlichen Folgen dieses Schreckereignisses nach 27 Monaten ein. Das Bundesgericht hat eine dagegen erhobene Beschwerde gutgeheissen und die Suva angewiesen, weitere Leistungen zu erbringen. Die akute Bedrohungslage von rund 20 Minuten mit unmittelbarer Todesgefahr war geeignet, beim prätraumatisch erheblich vorbelasteten Opfer langjährige, die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigende psychische Beschwerden auszulösen.
Bundesgericht 8C_551/2022 vom 31.3.2023
Fehlendes Vertrauen zur Offizialverteidigerin
Im Rahmen eines Straffalles mit notwendiger Verteidigung im Kanton Schaffhausen besuchte die Offizialverteidigerin ihren Mandanten jahrelang nie für ein Instruktionsgespräch im Gefängnis. Besprechungen zu wichtigen Verfahrensschritten oder zur Verteidigungsstrategie fanden nicht statt. Auch nahm die amtliche Verteidigung an mehreren förmlichen Einvernahmen nicht teil. Vor Bundesgericht forderte der Inhaftierte mit Erfolg einen neuen amtlichen Verteidiger. Das Vorgehen der Anwältin war objektiv geeignet, das Vertrauen ihres Klienten in eine effiziente und ausreichend engagierte Verteidigung auszuhöhlen.
Bundesgericht 1B_479/2022 vom 21.3.2023
Anwalt pocht vergeblich auf Anwaltsgeheimnis
Die St. Galler Justiz verurteilte einen Rechtsanwalt wegen Beschimpfung zu einer bedingten Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu 200 Franken sowie zu einer Busse von 600 Franken. Der in Scheidung lebende Anwalt hatte seiner Gattin auf dem Festnetzanschluss eine Nachricht hinterlassen und sie wiederholt als «feige Sau» und als «Dreck» bezeichnet. Vor Bundesgericht argumentierte der Anwalt, die von ihm auf dem Telefonanrufbeantworter hinterlassene Sprachnachricht unterliege dem Beweisverwertungsverbot. Sie sei aufgrund einer Verletzung des Anwaltsgeheimnisses gemäss Artikel 141 StPO unverwertbar. Dieses Argument stach nicht. Es steht fest, dass der Anrufbeantworter privat genutzt wurde und die Sprachnachricht nicht im Zusammenhang mit der Ausübung der anwaltlichen Tätigkeit stand. Da sich im Wohnhaus keine Geschäftsräumlichkeiten befanden und der Anwalt seine Kanzlei in Vaduz führt, schloss das Bundesgericht eine Verletzung des Anwaltsgeheimisses aus.
Bundesgericht 6B_355/2022 vom 27.3.2023
Mittels arglistiger Täuschung beinahe zur Invalidenrente
Die St. Galler Justiz verurteilte einen Mann wegen versuchten gewerbsmässigen Betrugs zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 20 Monaten. Der Mann hatte jahrelang physische und psychische Leiden vorgetäuscht, um zu einer Invalidenrente zu kommen, und hätte über 840 000 Franken erhalten können. Vor Bundesgericht argumentierte der Betroffene vergeblich, er habe nicht arglistig gehandelt. Für das Bundesgericht legte der Mann eine beachtliche Durchtriebenheit an den Tag.
Bundesgericht 6B_1264/2022 vom 8.3.2023
Initiative für kostenlosen öffentlichen Verkehr ungültig
Eine im Kanton Freiburg eingereichte Volksinitiative fordert «kostenlose, qualitativ hochwertige und umweltfreundliche öffentliche Verkehrsmittel», die durch allgemeine Steuern finanziert werden. Der Grosse Rat erklärte die Initiative für ungültig, weil sie gegen übergeordnetes Recht verstösst. Das Bundesgericht bestätigte diese Einschätzung. Artikel 81 Absatz 2 BV bestimmt, dass die Kosten des öffentlichen Verkehrs zu einem angemessenen Teil durch die Billettpreise gedeckt werden. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer bezieht er sich auch auf den Busverkehr, um den es der kantonalen Initiative primär geht.
Bundesgericht 1C_393/2022 vom 31.3.2023