Nur 30 Minuten Mittagspause ist für Schüler zumutbar
Die Bundesverfassung gewährleistet einen Anspruch auf ausreichenden und unentgeltlichen Schulunterricht. Die räumliche Distanz zwischen Wohn- und Schulort darf den Zweck der Schulausbildung nicht gefährden. Zu gewähren ist auch eine angemessene Mittagspause. Bei einem neuneinhalb Jahre alten Schüler, dem nach Abzug der Zeit für die Bewältigung des Schulwegs zu Fuss und mit dem Bus – Hin- und Rückweg je rund 30 Minuten – eine Mittagspause von 37 Minuten verbleibt, ist diese Voraussetzung erfüllt.
Für einen Schüler in diesem Alter ist es zumutbar, zur Fortbewegung ein Kickboard oder Ähnliches zu verwenden, wodurch die Mittagspause verlängert wird. Dieselben Überlegungen gelten für einen achteinhalb Jahre alten Schüler, dem 35 Minuten Mittagspause verbleiben. Heikler liegt der Fall bei einem sechseinhalb Jahre alten Kind, dem nur 30 Minuten Mittagspause verbleiben. Da das Mädchen nur ein- oder zweimal nachmittags zur Schule muss, erachtet das Bundesgericht eine 30-minütige Mittagspause «gerade noch als zumutbar».
Bundesgericht 2C_780/2022 vom 1.6.2023
Freispruch nach Suizidhilfe bestätigt
Die basellandschaftliche Staatsanwaltschaft warf einer Ärztin und Sterbebegleiterin vor, eine Frau zumindest eventualvorsätzlich getötet zu haben, weil sie es unterlassen hatte, vor Abgabe des tödlich wirkenden Mittels Natrium-Pentobarbital ein psychiatrisches Fachgutachten über deren Urteilsfähigkeit einzuholen. Sie habe der Frau das tödlich wirkende Mittel verschrieben und die Infusion gesetzt. Die Zufuhr des Mittels soll die Sterbewillige selbst ausgelöst haben. Die Basler Justiz sprach die Ärztin vom Vorwurf der vorsätzlichen und fahrlässigen Tötung frei.
Das Bundesgericht wies eine dagegen von der Staatsanwaltschaft erhobene Beschwerde ab. Bereits das Kantonsgericht ging davon aus, dass die sterbewillige Frau bei der Durchführung des Suizids urteilsfähig gewesen war. Die dagegen erhobenen Rügen der Staatsanwaltschaft erachtet das Bundesgericht als unbegründet. Die Ärztin hatte die Urteilsfähigkeit der Frau aufgrund der psychiatrischen Diagnosen zwar als heikel erachtet, für sie hatten aber nie Zweifel an der Urteilsfähigkeit bestanden.
Bundesgericht 6B_1087/2021 und 6B_1120/2021 vom 22.5.2023
Vermittler haftet nicht für mangelhafte Ferienwohnung
Eine Frau hatte über die Buchungsplattform Booking.com eine Ferienvilla gebucht. Da die Feriengäste den Zustand der Ferienvilla als unzumutbar erachteten, bezogen sie ein Hotel. In der Folge verlangten sie von der Ferienvermittlerin die Rückerstattung des Mietzinses. Während das Bezirksgericht die Ferienvermittlerin zur Zahlung von 20'840 US-Dollar verpflichtete, wies das Aargauer Obergericht die Klage ab. Weil die Streitsumme von 30 000 Franken nicht erreicht war, stellte sich dem Bundesgericht die Frage, ob sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellte.
Eine solche sah die Mieterin in der Frage, ob eine Vermittlerin von Ferienunterkünften nach Schweizer Recht nicht verpflichtet ist, die Namen der Vermieter von Ferienwohnungen bekanntzugeben. Auch die Frage, ob die Vermittlerin dafür haftet, dass der Vermieter der Ferienvilla den Mietzins bereits vor dem Bezug der Villa der Kreditkarte der Frau belastet und diese damit in die Rolle der Rückzahlungsklägerin versetzt, ist nach Meinung des Bundesgerichts keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung.
Bundesgericht 4A_69/2023 vom 7.6.2023
Keine Berufungsanmeldung per Telefon
Ein der Gewalt und Drohung gegen Behörde und Beamte schuldig gesprochener Mann nahm drei Monate nach der Verurteilung das in unbegründeter Form schriftlich zugestellte Urteil entgegen. Zehn Tage später meldete er sich zweimal telefonisch bei der Gerichtsschreiberin und teilte ihr mit, er melde mündlich die Berufung an, was telefonisch möglich sei. Das Bezirksgericht übermittelte daraufhin die Akten an das Zürcher Obergericht. Dieses verneinte die Zulässigkeit der telefonischen Berufungsanmeldung und trat nicht auf die Beschwerde ein.
Das Bundesgericht dagegen schützte diesen Entscheid. Die mündliche Berufungsanmeldung sei grundsätzlich auf denjenigen Fall ausgelegt, in welchem eine Partei im Anschluss an die mündliche Urteilseröffnung sofort eine entsprechende Erklärung abgebe. Damit sei die Identität der die Berufung anmeldenden Partei für das Gericht unmittelbar überprüfbar und erkennbar. Eine Berufungsanmeldung per Telefon lasse eine solche Prüfung nicht zu.
Bundesgericht 6B_1279/2022 vom 14.7.2023
Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt
Eine Türkin war in erster Instanz wegen Betrugs und weiterer Delikte zu einer Freiheitsstrafe von 34 Monaten verurteilt worden. Zugleich sprach das Gericht fünf Jahre Landesverweisung aus, verzichtete aber auf deren Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS). Anders das Berufungsgericht: Es ordnete die Ausschreibung im SIS an. Das bewirkte für die Beschuldigte eine – zulässige – Verschlechterung (BGE 146 IV 172, Erwägung 3.3).
Allerdings hätte das Berufungsgericht die Frau vor seinem Entscheid explizit darauf aufmerksam machen müssen, dass es auch über die Ausschreibung im SIS befinden wird. Indem das Gericht darauf verzichtete, hat es den Anspruch der Frau auf rechtliches Gehör verletzt. Der Fall geht zur neuen Entscheidung an das Berufungsgericht zurück.
Bundesgericht 6B_225/2023 vom 7.7.2023
Straferhöhung wegen Al-Qaida-Gesetz
Im November 2020 hatte eine Frau im Warenhaus Manor in Lugano versucht, zwei Frauen mit einem Messer zu töten. Die Strafkammer des Bundesstrafgerichts verurteilte die Täterin wegen mehrfach versuchten Mordes zu neun Jahren Freiheitsstrafe. Die Strafkammer vertrat die Auffassung, dass der Straftatbestand des mehrfach versuchten Mordes als schwerwiegender einzustufen ist als die Widerhandlung gegen Artikel 2 des Al-Qaida-Gesetzes, sodass die letztgenannte Straftat gegenüber dem mehrfach versuchten Mord in den Hintergrund zu treten hat und keine Idealkonkurrenz zwischen diesen beiden Straftaten besteht.
Anders sieht dies die Berufungskammer des Bundesstrafgerichtes. Sie erkennt auf Idealkonkurrenz: Die beiden Straftatbestände sind parallel anzuwenden und die Täterin folglich wegen beiden Straftaten zu verurteilen. Das Gericht erhöhte die Strafe auf zehn Jahre und sechs Monate.
Berufungskammer des Bundesstrafgerichts CA.2022.27 vom 21.8.2023
Corona: Keine Pflicht zur Lohnfortzahlung
Drei Lehrkräfte einer Privatschule hatten im Januar 2020 ihre Arbeitsverhältnisse per Ende August 2020 gekündigt. In der Folge wurde der Schulbetrieb wegen des Coronavirus auf behördliche Anordnung im April eingestellt. Die Privatschule richtete daraufhin den Lehrkräften gekürzte Löhne aus. Da die Betroffenen gekündigt hatten, war es nicht möglich, Kurzarbeit zu beantragen. Die St. Galler Justiz hiess dagegen erhobene Klagen gut und verpflichtete die Privatschule zu Lohnnachzahlungen.
Das Bundesgericht hiess eine Beschwerde der Privatschule gut und schickte den Fall nach St. Gallen zurück. Arbeitgeber würden bei einer behördlich angeordneten Betriebsschliessung zur Bekämpfung des Covid-19-Virus keine Pflicht zur Lohnfortzahlung treffen, falls die Kurzarbeitsentschädigung den Lohnausfall nicht deckt. Das Kantonsgericht muss nun abklären, ob während der Schliessung ein hundertprozentiger Onlineunterricht möglich gewesen wäre und auf diese Weise Minusstunden der betroffenen Lehrkräfte hätten vermieden werden können.
Bundesgericht 4A_53/2023 vom 30.8.2023
Keine Witwerrente für 89-Jährigen
Im Urteil Max Beeler gegen die Schweiz vom 11.10.2022 hat die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) entschieden, dass durch Artikel 24 Absatz 2 AHVG Witwer diskriminiert werden, indem ihre Hinterlassenenrente, anders als jene von Witwen, mit der Volljährigkeit des jüngsten Kindes erlischt.
Gestützt darauf entschied das Bundesgericht, dass zwecks Herstellung eines konventionskonformen Zustands in vergleichbaren Fällen fortan darauf zu verzichten ist, die Witwerrente allein aufgrund der Volljährigkeit des jüngsten Kindes aufzuheben. Entgegen der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts bedeutet das nun aber nicht, dass einem AHV-Rentner, der mit 89 Jahren Witwer wird und dessen jüngstes Kind 55 ist, neu eine Witwerrente auszurichten ist.
Bundesgericht 9C_248/2023 vom 2.8.2023