Kantonale Justiz darf sich nicht um Entscheid drücken
Der Gemeinderat von Morschach (SZ) beschloss eine Ausweitung der Verkehrsbeschränkung auf dem Stoss und revidierte das Reglement betreffend Verkehrsbeschränkungen. Ein Anwohner wehrte sich gegen den im Amtsblatt publizierten Beschluss. Der Regierungsrat trat nicht auf die Beschwerde ein, was das Schwyzer Verwaltungsgericht schützte.
Das war unzulässig: Das Reglement stellt keine generell abstrakte Norm, sondern eine generell konkrete Allgemeinverfügung dar. Die Anfechtung des geänderten Reglements muss gewährleistet sein, da es Rechte und Pflichten der Anwohner teilweise neu definiert. Eine Anfechtung beim Bundesgericht ohne vorangehendes kantonales Rechtsmittelverfahren ist somit nicht möglich. Der Streit geht zur weiteren Behandlung an die Schwyzer Behörden zurück.
Bundesgericht 1C_109/2022 vom 28.8.2023
Anzeigepflichtverletzung führt zur Kürzung der Rente
Die IV-Stelle des Kantons Aargau sprach einer Frau eine ganze Invalidenrente sowie zwei Kinderrenten zu. Probleme ergab es bei der Pensionskasse. Weil die Frau Fragen zu ihrer Gesundheit nicht korrekt beantwortete und dabei verschleierte, dass sie Jahre zuvor psychische Probleme hatte und in ärztlicher Behandlung war, erkannte die Pensionskasse auf Verletzung der Anzeigepflicht. Gleichzeitig kündigte die Pensionskasse den überobligatorischen Vorsorgevertrag per sofort und beschloss, der Frau nur eine Rente im Umfang der Mindestleistungen nach BVG auszubezahlen.
Vor Bundesgericht argumentierte die Frau, ihre Therapiesitzungen hätten ausschliesslich bei zwei Psychologinnen stattgefunden, jedoch nicht bei einem Arzt. Das Bundesgericht liess dies nicht gelten, zumal sie insgesamt 42 delegierte Psychotherapiesitzungen besucht hatte und es deshalb unwahrscheinlich ist, dass keinerlei Kontakt zum überwachenden Arzt stattgefunden hatte.
Bundesgericht 9C_527/2022 vom 12.9.2023
Zürcher Obergericht erneut gerüffelt
Das Bundesstrafgericht hat das Vorgehen des Zürcher Obergerichts in der Frage der Entschädigung von amtlichen Verteidigern erneut beanstandet. In einem Fall hatte der Verteidiger eine Honorarnote in der Höhe von 14'408 Franken eingereicht. Das Obergericht billigte ihm aber nur 10'000 Franken zu. Weil das Obergericht die konkrete Festlegung des Honorars in seinem Entscheid nicht nachvollziehbar erklärt hatte, verletzte es laut Bundesgericht das rechtliche Gehör des Anwalts.
In einem zweiten Fall war aus der Begründung des Obergerichts nicht zu entnehmen, von welchem Streitwert und von welchem Tarifrahmen bei der Bemessung der Entschädigung ausgegangen worden war. Die angegebene Begründung erlaubte es nicht, die vom Obergericht zur Festsetzung der Entschädigung gemachten Überlegungen nachzuvollziehen. In beiden Fällen muss das Obergericht noch einmal über die Bücher.
Bundesstrafgericht BB.2023.92 vom 16.8.2023 und BB.2023.82 vom 27.9.2023
Gebot der Meinungsvielfalt verletzt
Im November 2021 strahlte das Westschweizer Fernsehen im Hinblick auf die zwei Wochen später stattfindende Abstimmung über das Covid-Gesetz einen Beitrag aus. In diesem Beitrag mit dem Titel «Der Hass vor der Abstimmung über das Covid-Gesetz» ging es um das verhärtete politische Klima rund um die Abstimmung. Die Unabhängige Beschwerdeinstanz UBI hiess eine Beschwerde gegen den Beitrag gut und rügte eine Verletzung des Gebots der Meinungsvielfalt, weil praktisch ausschliesslich Leute zu Wort gekommen waren, welche die Coronamassnahmen befürworteten.
Das Bundesgericht wies eine dagegen eingereichte Beschwerde der SRG ab. Auch nach Meinung der Lausanner Richter verletzte der Beitrag das Vielfaltsgebot wegen ungenügend ausgewogener Darstellung kurz vor der Abstimmung. Die Gegner des Covid-Gesetzes wurden vorwiegend als roh und gewalttätig hingestellt.
Bundesgericht C_859/2022 vom 20.9.2023 (schriftliche Urteilsbegründung noch ausstehend)
Blockade von Klimaaktivisten war keine Nötigung
Sieben Klimaaktivisten blockierten vor vier Jahren am «Black Friday» den Haupteingang eines Einkaufszentrums in Freiburg. Sie entfernten sich trotz Aufforderung der Polizei nicht. Das Bezirksgericht in Freiburg verurteilte die Aktivisten wegen Nötigung zu Geldstrafen und Bussen. Das Kantonsgericht Freiburg sprach sie vom Vorwurf der Nötigung frei. Es verurteilte sie jedoch zu Bussen von je 150 Franken wegen Widerhandlungen gegen Anweisungen der Polizei.
Die Staatsanwaltschaft forderte vor Bundesgericht einen Schuldspruch wegen Nötigung. Damit kam sie nicht durch. Die Blockade sei gewaltfrei gewesen. Zudem hätten Kunden das Zentrum über andere Eingänge betreten können. Es habe keine Nötigung vorgelegen.
Bundesgericht 6B_138/2023 vom 18.10.2023
Anspruch auf ein faires Verfahren verletzt
Die Zuger Staatsanwaltschaft warf einem Ausländer vor, illegal in die Schweiz eingereist und sich bei der Zuger Polizei als Afghane unter einem falschen Namen gemeldet zu haben. Der Strafbefehl wurde dem Mann gleichentags von einem Polizeibeamten übergeben. Anlässlich der Aushändigung des Strafbefehls unterzeichnete er eine Empfangsbestätigung sowie eine Erklärung, dass er auf eine Einsprache gegen den Strafbefehl verzichte. Vor Bundesgericht rügte er dieses Vorgehen.
Ihm sei weder klar gewesen, dass er Beschuldigter in einem Strafverfahren sei, noch sei er über seine Rechte aufgeklärt worden. Erst nach Einschaltung seiner Rechtsanwältin habe er erfahren, dass er auf sein Einspracherecht gegen den Strafbefehl verzichtet habe. Das Bundesgericht hiess die Beschwerde des Mannes gut: Die Art und Weise, wie die Polizei auf einen Einspracheverzicht hingewirkt habe, sei mit dem Anspruch auf ein faires Verfahren nicht vereinbar.
Bundesgericht 6B_657/2022 vom 20.9.2023
Anwaltskorrespondenz ist auszusondern
Im Rahmen eines Strafverfahrens wegen Diebstahlverdachts nahm die Zürcher Justiz eine Hausdurchsuchung vor und stellte das Mobiltelefon des Verdächtigen sicher. In der Folge bewilligte das Massnahmengericht der Staatsanwaltschaft, das Handy zu entsiegeln und zu durchsuchen. Dies war unzulässig: Denn der Verdächtige hatte im vorinstanzlichen Verfahren klar zum Ausdruck gebracht, dass geschützte Anwaltskorrespondenz per E-Mail geführt worden war.
Auch hatte er den Behörden die E-Mail-Adresse genannt. Damit brachte er laut Bundesgericht «plausibel» vor, dass bereits vor seiner Verhaftung ein Mandatsverhältnis bestand und Korrespondenz erfolgte, die einem Beschlagnahme- und Entsiegelungsverbot unterliegt. Die Anwaltskorrespondenz ist vor der Freigabe des Handys auszusondern.
Bundesgericht 7B_487/2023 vom 25.9.2023
Siegelung in durchsichtigem Plastikbeutel ist ungenügend
Im Rahmen einer Strafuntersuchung wegen Drogendelikten stellten die Behörden ein Mobiltelefon sicher, dessen Siegelung verlangt wurde. Die Polizei legte das Telefon in einen verschliessbaren, durchsichtigen Plastikbeutel mit Druckverschluss. Der obere Teil des Beutels wurde umgeschlagen und mit einer Siegelklebeetikette an den unteren Teil geklebt. Durch einen Schlitz in der Öffnung des Beutels ragte ein Ladekabel mit einem USB-Stecker heraus, um das Handy aufladen zu können.
Das Bundesgericht hält fest, dass diese Art der Siegelung mangelhaft ist, weil das Handy durch den Plastikbeutel hindurch eingesehen und auch bedient werden könnte. Zudem kann bei einer derartigen Siegelung auch ein Datentransfer stattfinden. Die Entsiegelung des sichergestellten Mobiltelefons darf mangels rechtsgültiger Siegelung im konkreten Fall nicht erfolgen.
Bundesgericht 7B_54/2023 vom 12.10.2023
Ladung falsch gesichert – Ausweis für immer weg
Ein Autofahrer hatte seinen Ausweis mehrmals abgeben müssen, zuletzt 2016 wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand für 13 Monate und wenig später wegen einer Tempoüberschreitung von 35 km/h auf der Autobahn auf unbestimmte Zeit. Nach einer verkehrspsychologischen Begutachtung durfte der Lenker ab Ende 2018 wieder fahren. Seit einigen Monaten ist er den Führerausweis jedoch für immer los.
Denn er verlor auf dem Beschleunigungsstreifen der Autobahn A1 in Spreitenbach ZH einen von vier Rattangartenstühlen, die er auf der Ladefläche seines Fahrzeugs mitgeführt und nur ungenügend gesichert hatte. Es ist von einer Gefährdung der Sicherheit der anderen Verkehrsteilnehmer auszugehen, die nicht mehr als gering eingestuft werden kann. Aufgrund des Kaskadensystems ist der Ausweis für immer weg.
Bundesgericht 1C_156/2023 vom 8.7.2023