Fragwürdige medizinische IV-Gutachten aus Zürich
Bei Gutachten für die Invalidenversicherung (IV), die von Polydisziplinäre Medizinische Abklärungen Zürich (PMEDA) stammen, genügen relativ geringe Zweifel an der Schlüssigkeit, um eine neue Begutachtung anzuordnen. Weil das PMEDA-Gutachten im Fall eines 40-jährigen Kochs Widersprüche aufweist, muss das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich nun ein Gerichtsgutachten einholen. Vergangenen Oktober hatte das Bundesamt für Sozialversicherungen bekanntgegeben, dass die IV aufgrund formaler und inhaltlicher Mängel keine Aufträge mehr an PMEDA vergibt. Zu diesem Zeitpunkt waren noch 71 an PMEDA vergebene Gutachten ausstehend.
Bundesgericht 8C_122/2023 vom 26.2.2024
Kritik an Luzerner Regelung der Parteientschädigung
Die Luzerner Strafjustiz kassiert einen Rüffel aus Lausanne, nachdem sie zunächst die unentgeltliche Verbeiständung eines Verwahrten im Verfahren um eine bedingte Entlassung verweigerte. Das Kantonsgericht korrigierte die gemäss Bundesgericht «offensichtliche Verletzung konventions- und verfassungsmässiger Rechte» durch die erste Instanz, kürzte dann aber die Parteientschädigung um 15 Prozent oder rund 270 Franken. Dabei stützte sich das Kantonsgericht auf den höchstrichterlich schon mehrfach kritisierten § 201 Absatz 2 VRG/LU.
Die Bestimmung sei eng auszulegen, betont das Bundesgericht nun und schickt die Sache zurück an die Vorinstanz. Der Kanton Luzern muss den Anwalt des Verwahrten mit 3000 Franken für das bundesgerichtliche Verfahren entschädigen. Beim Entlassungsgesuch selbst verletzte die kantonale Verfahrensdauer von 2,5 Jahren das Beschleunigungsgebot (7B_794/2023 vom 9.11.2023).
Bundesgericht 7B_795/2023 vom 22.1.2024
Berufsausübungsverbot für Anwalt bestätigt
Ein Berufsausübungsverbot von zwölf Monaten und eine Busse von 5000 Franken sind nicht zu beanstanden, nachdem ein Anwalt trotz einer Abzahlungsvereinbarung Klientengelder von 95'000 Franken schuldig blieb. Während dieser Zeit ist eine Tätigkeit ausserhalb des Monopolbereichs weiterhin zulässig. Der 61-jährige Berner Rechtsanwalt, der allein eine Kanzlei führt, beantragte in seiner Beschwerde, es bei einer Busse zu belassen. Nur vier seiner 33 aktiven Mandate lägen im Beratungsbereich. Ein Berufsverbot führe zu einer sofortigen und irreparablen Vernichtung seiner beruflichen Existenz.
Bundesgericht 2C_33/2024 vom 13.2.2024
Keine Bewilligung nötig für Umzug mit Kind
Die Mutter eines unehelichen Kinds im Vorschulalter benötigt trotz gemeinsamer elterlicher Sorge keine Zustimmung der Kindesschutzbehörde oder des Vaters, wenn sie mit dem Kind über eine nicht allzu grosse Distanz umzieht. Voraussetzung ist, dass das vereinbarte Betreuungsmodell weitergeführt werden kann. Ein Einverständnis ist laut Bundesgericht aber erforderlich, wenn der Wohnortwechsel die Vorrechte des anderen Elternteils beeinträchtigt – in der Regel etwa bei einem Umzug über mehr als 100 Kilometer, in eine andere Sprachregion oder ins Ausland. Vorliegend zog die Mutter, der die Obhut zugeteilt war, von Genf ins Unterwallis, das Kind verbrachte jeweils fünf Tage pro Monat beim Vater.
Bundesgericht 5A_830/2023 vom 8.2.2024
Baselbieter Staatsanwalt muss in den Ausstand treten
Erweckt ein Staatsanwalt den Eindruck, er erschwere in rechtlich fragwürdiger und unlauterer Weise die Verteidigung und sei voreingenommen, liegt ein Ausstandsgrund vor. Vorliegend wurden die Verteidiger von zwei Beschuldigten bei der Einvernahme des dritten Beschuldigten in einem Nebenraum platziert, damit laut Aussage eines Polizisten «die Einvernahme in ruhiger Weise durchgeführt werden kann». Offenbar war dort die Audioübertragung aber mangelhaft.
Zudem verfügte der Baselbieter Staatsanwalt in diesem grösseren Strafverfahren wegen qualifizierter Betäubungsmitteldelikte ein «prinzipielles Verbot von Telefonaten, namentlich auch mit der Verteidigung» für die inhaftierten Beschuldigten. Termine für Einvernahmen soll er den Beschuldigten jeweils sehr kurzfristig und ohne jede Absprache mit den Verteidigern mitgeteilt und selbst begründete Verschiebungsgesuche systematisch abgewiesen haben.
Bundesgericht 7B_122/2022, 7B_123/2022, 7B_124/2022, 7B_126/2022 vom 12.2.2024
Entlassener Zürcher Polizist unterliegt in Lausanne
Die fristlose Entlassung eines Covid-massnahmenkritischen Zürcher Kantonspolizisten wegen Verletzung der Treuepflicht war rechtens. Der Polizist bestritt eine aktive Beteiligung an der Plattform «Wir für Euch», die zu Anzeigen gegen Polizisten aufrief. Das Zürcher Verwaltungsgericht lehnte die Einvernahme eines Entlastungszeugen ab, weil der Polizist seine Schilderung des Ablaufs mehrfach angepasst habe und die neue Sachdarstellung nicht glaubhaft sei. Das Bundesgericht erkennt darin keine Willkür.
Bundesgericht 1C_330/2023 vom 3.1.2024
Direkter Konkurs nur bei Verheimlichen von Vermögen
Eine direkte Konkurseröffnung ohne vorgängige Betreibung kommt nur infrage, wenn ein Schuldner Vermögenswerte willentlich verheimlicht. Eine blosse Nichterwähnung erfüllt den Tatbestand von Artikel 190 Absatz 1 Ziffer 1 SchKG nicht. In diesem Sinn wies das Bundesgericht die Beschwerde eines Inkassounternehmens gegen den Entscheid des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt ab.
Es war zum Schluss gekommen, der strikte Beweis einer Verheimlichung sei nicht erbracht. Gemäss Zeugenaussage des Betreibungsbeamten hatte der Schuldner nämlich durchaus angegeben, dass eine Erbschaft im Raum stehe. Doch die in langwierigen Prozessen umstrittene Erbschaft wurde nicht ins Einvernahmeprotokoll aufgenommen.
Bundesgericht 5A_477/2024 vom 15.2.2024
Fehlender Bonus ein Anlass für begründete Kündigung
Bleibt der Betrieb einen vereinbarten Bonus schuldig, kann das ein begründeter Anlass zu einer Kündigung gemäss Artikel 430c Absatz 2 OR sein, womit ein vereinbartes Konkurrenzverbot dahinfällt. Verstreicht aber ein halbes Jahr zwischen dem vereinbarten Auszahlungstermin und der Kündigung, fehlt es am Kausalzusammenhang, und das Konkurrenzverbot bleibt bestehen.
Bundesgericht 4A_426/2023 vom 3.1.2024
Neue Bewilligung nötig bei Änderung der Sendeleistung
Die neue Generation der adaptiven Mobilfunkantennen sendet nicht immer gleich, sondern kann das 4G- oder 5G-Signal in Richtung der aktuellen Nutzer fokussieren. Ihre Strahlung wird wie bei anderen Antennen in einer Worst-Case-Betrachtung beurteilt. Das bedeutet, dass der Effizienzgewinn der neuen Technologie dem Schutz vor nichtionisierender Strahlung zugutekommt. Acht Anwohner einer adaptiven Antenne in Zollikon ZH befürchten gemäss ihrer Beschwerde, dass sich das ändert, weil aufgrund von Ziffer 63 Absatz 2 Anhang 1 NISV nachträglich ein Korrekturfaktor angewandt und damit die Sendeleistung erhöht wird. Das Bundesgericht betont, dass in solchen Fällen ein Baubewilligungsverfahren erforderlich wäre.
Bundesgericht 1C_481/2022 vom 13.11.2023
Versammlungsfreiheit mit Klimaprotest überstrapaziert
Eine mehr als sechsstündige Blockade der wichtigen Verkehrsachse rue Centrale in Lausanne durch Klimaaktivisten im Dezember 2019 ging über das hinaus, was der Staat bei Kundgebungen zu tolerieren hat. Stattdessen wäre auch eine legale Aktion möglich gewesen. Die Bestrafung verstösst nicht gegen das Recht auf friedliche Versammlung gemäss Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Beschwerden von fünf Beschuldigten wurden jedoch teilweise gutgeheissen. Das Waadtländer Kantonsgericht muss den Sachverhalt bezüglich Störung von Betrieben im Dienste der Allgemeinheit und Hinderung einer Amtshandlung ergänzen und neu entscheiden.
Bundesgericht 6B_1460/2022 vom 16.1.2024
Briefe aus der Haft via Verteidiger nicht zulässig
Das Recht von Inhaftierten auf freien und unkontrollierten schriftlichen Verkehr mit ihrem Verteidiger schliesst Briefe an Dritte oder von Dritten aus. Den üblichen Beschränkungen unterliegen auch Kontakte zu anderen Anwälten als dem bisherigen Verteidiger, es sei denn, es gehe darum, den Verteidiger zu ersetzen. Das Bundesgericht weist deshalb die Beschwerde eines Tessiner Untersuchungshäftlings ab, der vergeblich die Versiegelung eines abgefangenen Briefs an seinen zivilen Anwalt respektive eine Entfernung aus den Akten verlangt hatte.
Bundesgericht 7B_981/2023 vom 29.1.2024