Anwaltsgeheimnis gilt über das Mandat hinaus

Das Berufsgeheimnis schützt im Entsiegelungsverfahren auch Informationen, die ein Anwalt im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit im Hinblick auf ein allfälliges künftiges Mandat erhalten hat. Das Anwaltsgeheimnis gilt zeitlich uneingeschränkt über die Beendigung des Mandats und eine ­Berufsaufgabe hinaus, also zum Beispiel auch für Anfragen zur Her­ausgabe gewisser Akten oder im Hinblick auf die Übertragung ­eines Mandats auf einen anderen Anwalt. Originäre Beweisdokumente sind zwar nicht vom Anwaltsgeheimnis geschützt – mandatsrelevante Kopien davon, die mit dem Anwalt ausgetauscht werden, hingegen schon. Denn dabei besteht keine Gefahr, dass Beweismittel dem Zugriff der Strafbehörden definitiv entzogen werden.

Bundesgericht 7B_93/2022 vom 27.8.2024

50 Franken Genugtuung pro Tag Haft sind zu wenig

Bei rechtswidrigen Haftbedingungen sind 50 Franken Genugtuung pro Tag nur dann angemessen, wenn lediglich ein Element der Haftbedingungen zu beanstanden ist, etwa eine etwas zu kleine Zelle. Im Fall Brian genügt der Betrag nicht, da der Häftling in den fraglichen 20 Tagen im Januar 2017 einer ganzen Reihe unzulässiger Einschränkungen unterworfen war, er unter anderem durchgehend Fussfesseln innerhalb der Einzelzelle tragen musste. Der Fall geht zurück ans Zürcher Obergericht. Brian forderte 2000 Franken Genugtuung pro Tag.

Bundesgericht 2C_900/2022 vom 12.7.2024

Gemeinde darf Prostitution nicht zu sehr einschränken

Lucens, eine Waadtländer Gemeinde mit knapp 5000 Einwohnern, ist mit ihrem Prostitutionsreglement zu weit gegangen. Es verbietet die Salonprostitution nicht nur in Wohngebieten und bei anderen zu schützenden Orten, sondern auch im Umkreis von 100 Metern um sie herum. Der Mindestabstand von 100 Metern zu Wohngebäuden, Schulen, Kindergärten, Kirchen, Heimen oder Spitälern geht gemäss dem in ­öffentlicher Beratung gefällten Entscheid des Bundesgerichts zu weit. Zur Gewährleistung der ­öffentlichen Ordnung und Ruhe genügt es, das Verbot auf die ­unmittelbare Umgebung dieser ­Gebiete zu beschränken. Der Verbotsrayon von 100 Metern stellt deshalb eine unverhältnismässige Beschränkung der Wirtschaftsfreiheit dar.

Bundesgericht 2C_474/2023 vom 6.9.2024

Maximalverdienstklausel für Mieter der Stadt zulässig

Entgegen der Ansicht des Zürcher Mietgerichts und des Obergerichts darf die Stadt Zürich bei ­bestehenden Mietverhältnissen in ihren Immobilien eine Maximalverdienst- und eine Mindestbelegungsklausel einführen. Auch die Beschränkung einer Untermiete der ganzen Wohnung auf maximal ein Jahr ist zulässig.

Von ­einer ohne schützenswertes Interesse erfolgten und damit missbräuchlichen Vertragsanpassung kann gemäss Bundesgericht «keine Rede sein». Auch bei Dauerschuldverhältnissen besteht kein Anspruch auf quasi «für immer» unverändert günstige Vertragsbedingungen. Die Einführung der Klauseln ist rechtens, da es um mit öffentlichen Mitteln verbilligte Wohnungen der öffentlichen Hand geht. Die Stadt Zürich übte ihr Recht schonend, jedenfalls aber nicht missbräuchlich aus.

Bundesgericht 4A_82/2024 und 4A_105/2024 vom 19.8.2024

Keine Rückzugsfiktion, wenn notwendiger Verteidiger fehlt

Erscheint der notwendige Ver­teidiger nicht zur Berufungsverhandlung, muss das Gericht ­einen neuen Termin ansetzen. Das gilt unabhängig davon, ob der notwendige Verteidiger entschuldigt oder unentschuldigt fehlt und ­unabhängig davon, ob der Beschuldigte erscheint. Die Rückzugsfiktion gemäss Artikel 407 Strafprozessordnung greift nicht, weil die notwendige Verteidigung bis zum Abschluss des Rechtsmittelverfahrens zu gewähren ist.

Im konkreten Fall ersuchte der Beschuldigte am Vortag der Verhandlung um eine Verschiebung, weil er positiv auf Covid-19 getestet worden sei. Sein Verteidiger ging von einer Verschiebung aus, doch das Kantonsgericht Schwyz schrieb die Berufung ab. Es muss nun eine Verhandlung durchführen.

Bundesgericht 7B_409/2023 vom 19.8.2024

IV-Rente frühestens ein Jahr nach Arbeitsunfähigkeit

Der Anspruch auf eine Invalidenrente entsteht frühestens sechs Monate nach der Geltendmachung des Leistungsanspruchs und gemäss Artikel 28 Absatz 1 litera b Bundesgesetz über die ­Invalidenversicherung frühestens nach einem Jahr mit einer Arbeitsunfähigkeit von durchschnittlich mindestens 40 Prozent. Das Bundesgericht heisst deshalb eine Beschwerde der kantonalen IV-­Stelle gegen ein Urteil des Kantonsgerichts Waadt gut. Es sprach einer Frau, die 2016 einen Antrag auf Leistungen eingereicht hatte, aber erst 2019 die notwendige Arbeitsunfähigkeit erreichte, schon ab dem 1. April 2019 eine volle Rente zu.

Bundesgericht 9C_212/2024 vom 27.8.2024

Gericht muss bei Unklarheiten Postbeleg einfordern

Verschickt ein Anwalt eine Berufungserklärung am letzten Tag der Frist um 23.34 Uhr an einem My-Post-24-Automaten und stellt keine Fehlfunktion fest, so muss er nicht von sich aus unaufge­fordert und vor Ablauf der Frist ­einen Beleg einreichen, der die rechtzeitige Aufgabe bestätigt. Offenbar wandelte die Post im konkreten Fall die ursprünglich als Einschreiben aufgegebene Sendung aufgrund einer zu tiefen Frankatur in ein Paket um und klebte deshalb eine neue Trackingnummer auf den Umschlag.

Daraus leitete das Waadtländer Kantons­gericht später, dass die Sendung erst am Folgetag um 21 Uhr sortiert worden sei und schloss daraus auf eine ver­spätete Einreichung. Der Anwalt ­legte dem Bundesgericht im Beschwerdeverfahren einen Track-and-­Trace-Nachweis für die ursprüngliche Trackingnummer vor, was die rechtzeitige Aufgabe bestätigt. Da weder auf dem Umschlag noch aufgrund der (neuen) Trackingnummer das Datum und die Uhrzeit der Postaufgabe ersichtlich waren, hätte das Kantonsgericht beim Berufungskläger nachfragen müssen.

Bundesgericht 5A_11/2024 vom 2.7.2024

Vorläufiges Kopierverbot bei Videoakten zulässig

Die Schaffhauser Staatsanwaltschaft darf die Akteneinsicht respektive den Anspruch auf Erhalt oder Anfertigung von Kopien von Video- und Tonauf­zeichnungen gemäss Artikel 102 Absatz 3 vorläufig beschränken, wenn ein ­Privatkläger auf seiner justizkritischen Internetseite zuvor schon bei anderen Ver­fahren mehrfach nicht anonymisierte Ausschnitte aus Untersuchungsakten veröffentlichte. Das Bundesgericht hält die provi­sorische Einschränkung für ver­hältnismässig, zumal der Privatkläger Einsicht in alle schriftlichen Papierakten erhielt und die Video- und Tonaufzeichnungen konsultieren durfte.

Bundesgericht 7B_523/2023 vom 2.7.2024

Gericht darf Verfügung nicht per Post in Türkei schicken

In einem Verfahren um Aberkennung der Vaterschaft forderte das Aargauer Obergericht den rechtlichen Vater auf, ein Zustelldomizil in der Schweiz anzugeben. Es schickte die Verfügung zwei Mal per Einschreiben mit Rückschein an die Postadresse in der Türkei, die der Mann in der Berufungserklärung angegeben hatte. Beide Briefe kamen mit dem Vermerk «unbekannt» zurück. Nachdem auch ein Versand per E-Mail ohne Reaktion blieb, trat das Ober­gericht auf die Berufung nicht ein und publizierte diesen Entscheid im Amtsblatt.

Das Bundesgericht heisst die Beschwerde des inzwischen anwaltlich vertretenen Manns gut. Die gerichtliche Aufforderung zur Bezeichnung eines Zustelldomizils ist ein Hoheitsakt, der nicht auf dem Gebiet eines anderen Staats vorgenommen werden darf. Die Zustellung muss rechtshilfeweise erfolgen, per Post oder per E-Mail ist sie nicht zulässig.

Bundesgericht 5A_105/2024 vom 27.8.2024

Konfrontation kann man noch mit Berufung einfordern

Eine Beschuldigte verwirkt ihr Recht auf Ergänzungsfragen nicht, wenn sie ihr Recht auf Ergänzungsfragen erst im Rahmen der Berufung geltend macht. Das Bundesgericht weist einen Betrugsfall zur Neubeurteilung an das Kantonsgericht Appenzell Innerrhoden zurück, weil das Konfrontationsrecht der Beschuldigten verletzt wurde. Vor der ersten Instanz und mit der Berufungserklärung hatte die Beschuldigte  zwar noch keine Beweisanträge gestellt.

Im Hinblick auf die Berufungsverhandlung verlangte sie allerdings schriftlich eine Befragung des Privatklägers, der nur ein Mal von der Polizei befragt worden war, als er Anzeige erstattet hatte. Ihren Antrag wiederholte die Beschuldigte an der Berufungsverhandlung im Rahmen der ­Vorfragen und verwies dabei – vergeblich – auf ihr Konfronta­tionsrecht.

Bundesgericht 6B_920/2023 vom 22.8.2024