Über ergänzte Anklageschrift ist unverzüglich zu befinden
Legt die Staatsanwaltschaft in der Berufungsverhandlung eine ergänzte Anklageschrift vor, stellt sich die Vorfrage nach der massgebenden Anklage. Nach Gewährung des rechtlichen Gehörs ist darüber unverzüglich zu befinden. Die Parteirechte müssen gewahrt werden, falls nötig ist die Hauptverhandlung zu unterbrechen. Das unterliess das Aargauer Obergericht und äusserte sich selbst im begründeten Urteil nicht zur ergänzten Anklageschrift.
Dem beschuldigten Lieferwagenchauffeur war somit nicht klar, ob er sich nach einer Kollision mit der Seetalbahn nur gegen den Vorwurf der vorsätzlichen groben Verletzung von Verkehrsregeln – wie im Strafbefehl – oder auch gegen den Fahrlässigkeitsvorwurf gemäss der Ergänzung verantworten muss. Damit ist der Anklagegrundsatz verletzt. Die Vorinstanz muss den Tatvorwurf gemäss geänderter Anklageschrift nochmals prüfen.
Bundesgericht 7B_286/2022 vom 22.10.2024
Vaterschaftsklage eines 25-Jährigen nicht verspätet
Erfährt ein Kind erst einmal mündlich etwas über die Identität seines mutmasslichen Vaters, so handelt es sich nicht um eine genügend sichere Kenntnis des Abstammungsverhältnisses. Ob bei einer verspäteten Vaterschaftsklage entschuldbare Gründe gemäss Artikel 263 Absatz 3 Zivilgesetzbuch vorliegen, hängt auch davon ab, mit welchen Schritten das Kind auf die mündliche Information reagiert hat. Im vorliegenden Fall macht der 25-jährige Kläger aus dem Kanton Schwyz geltend, er habe keine sichere Kenntnis des Abstammungsverhältnisses gehabt.
Die Mutter habe ihm 24 Jahre lang verheimlicht, wer sein Vater sei. Und sein (mutmasslicher) Vater bestreite bis heute seine Vaterschaft. Das Bundesgericht gibt ihm recht und weist den Fall an das Bezirksgericht Einsiedeln zurück, damit nun eine DNA-Analyse durchgeführt wird.
Bundesgericht 5A_35/2024 vom 3.10.2024
Rentenrückerstattung schon bei grober Nachlässigkeit
Zu Unrecht bezogene Kinderrenten der Invalidenversicherung (IV) müssen nicht nur dann zurückerstattet werden, wenn der Empfänger böswillig handelte und beispielsweise Melde- oder Anzeigepflichten verletzt. Ausreichend ist schon eine grobe Nachlässigkeit, also etwa, wenn man es unterlässt, sich bei einer Amtsstelle zu erkundigen. Ein Erlass ist nur bei gutem Glauben der rückerstattungspflichtigen Person möglich.
Konkret ging es im Fall eines Ehepaars aus dem Kanton St. Gallen mit vier Kindern um 131'760 Franken Kinderrenten während rund dreier Jahre. Das kantonale Versicherungsgericht entschied, dass die rückerstattungspflichtige Ehefrau nicht mehr gutgläubig gewesen sei, nachdem sie um Einsicht in die Videos der Observation ihres Ehemanns ersuchte. Dessen IV-Rente wurde in einem Revisionsverfahren schliesslich gestrichen. Das Bundesgericht schützt den Entscheid.
Bundesgericht 8C_163/2024 vom 11.10.2024
Bedingte Entlassung: Gesuch muss rasch behandelt werden
Ein Gesuch um bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug nach zwei Dritteln der verbüssten Strafe ist zügig zu behandeln. Die kantonalen Rechtsmittelinstanzen dürfen die gesetzliche Regelung, wonach das letzte Strafdrittel in der Regel zur Bewährung ausgesetzt wird, nicht durch eine schleppende Verfahrensführung faktisch ausser Kraft setzen. Im Fall eines gewerbsmässigen Betrügers ging das Gesuch am 8. Januar ein.
Das Amt für Justizvollzug des Kantons St. Gallen wies es am 20. März ab, elf Tage nach dem «Zwei-Drittel-Termin». Diese Verzögerung ist durch das geltend gemachte Abwarten von Berichten nicht zu rechtfertigen, betont das Bundesgericht: «Es ist Sache der Behörden, das Verfahren so zu führen, dass sie ihre Entscheide innert angemessener Frist fällen können.»
Bundesgericht 7B_672/2024 vom 10.10.2024
Kein Facharzt: Versicherung darf Taggeld stoppen
Geht ein Versicherter nach einem Burn-out innerhalb von drei Monaten nicht zu einem Facharzt, darf die Versicherung die Leistungen aus der Kollektiv-Krankentaggeldversicherung einstellen. Der Fall betrifft den Geschäftsführer und einzigen Angestellten eines Unternehmens aus dem Kanton Nidwalden. Der Versicherte machte geltend, weder sein Hausarzt noch die Versicherung hätten ihn je zu einer fachärztlichen Behandlung aufgefordert. Das Bundesgericht kam zum Schluss, die Bestimmungen in den allgemeinen Versicherungsbedingungen seien hinreichend klar, wonach alle vier Wochen eine ärztliche und spätestens nach drei Monaten eine fachärztliche Konsultation verlangt seien.
Bundesgericht 4A_35/2024 vom 10.9.2024
Tod des Beschwerdeführers bewirkt keinen Rückzug
Entgegen der Ansicht der Zürcher Oberstaatsanwaltschaft hat der Tod eines Beschuldigten nicht zur Folge, dass auf seine Berufung nicht eingetreten wird und das erstinstanzliche Urteil in Rechtskraft erwächst. Vielmehr muss das Verfahren eingestellt werden. In diesem Sinn schützt das Bundesgericht einen Beschluss des Zürcher Obergerichts, das Strafverfahren gegen den Verstorbenen einzustellen, das Urteil des Bezirksgerichts Meilen – lebenslänglich wegen Mords – als gegenstandslos zu erklären, die vier Privatkläger mit ihren Schadenersatz- und Genugtuungsforderungen auf den Zivilweg zu verweisen und ihre Prozessentschädigung aus der Gerichtskasse auszurichten. Nicht relevant ist, dass die Berufungserklärung post mortem eingereicht wurde.
Bundesgericht 7B_684/2023 vom 8.10.2024
Staatstrojaner: Zufallsfund in St. Galler Fall genehmigt
Wird ein mutmasslicher Händler von Drogen im Kilobereich mittels Staatstrojaner gemäss Artikel 269ter Strafprozessordnung mit Genehmigung des Zwangsmassnahmengerichts überwacht, dürfen zufällig entdeckte Hinweise auf gewerbsmässigen illegalen Waffenhandel erst verwendet werden, nachdem das Zwangsmassnahmengericht diesbezüglich eine Überwachungsgenehmigung erteilt.
Im konkreten Fall erteilte das St. Galler Zwangsmassnahmengericht die Genehmigung erst fünf Monate nach Ende der Überwachung und war später mit einer Verwertung des Zufallsfunds einverstanden. Die Vorgabe von Artikel 278 Absatz 3 Strafprozessordnung, wonach das Genehmigungsverfahren «unverzüglich» einzuleiten ist, ist gemäss Bundesgericht im konkreten Fall nur eine Ordnungsfrist. Ihre Verletzung führt nicht zur Unverwertbarkeit der Zufallsfunde.
Bundesgericht 7B_91/2024 und 7B_92/2024 vom 16.10.2024
Stellung als Privatkläger muss klar verlangt werden
Wer sich in einer Strafanzeige wegen Veruntreuung und ungetreuer Geschäftsbesorgung nur als «Anzeiger» bezeichnet, nicht ausdrücklich eine Bestrafung des Angezeigten verlangt und darüber hinaus anwaltlich vertreten ist, hat keine Parteistellung als Privatkläger. Dass der Anzeiger die aargauische Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm zu bestimmten Editionen, einem Augenschein und Zeugenbefragungen aufforderte und er verlangte, über den Abschluss des Verfahrens orientiert zu werden, lässt nicht auf den Willen schliessen, selbst an diesen Erhebungen oder am Verfahren teilzunehmen. Gemäss dem Bundesgerichtsurteil lässt sich auch aus dem Vorbehalt, im Rahmen des Verfahrens Zivilansprüche zu stellen, kein entsprechender Wille ableiten.
Bundesgericht 7B_87/2023 vom 18.9.2024
Bancomatkamera gegen Verkehrssünder nutzbar
Die Videoüberwachung eines Bancomaten erfolgt aus Sicherheitsgründen und ist zulässig. Die Verwertbarkeit der Aufnahmen ist nicht auf den Schutz des Bancomaten begrenzt. Sie dürfen uneingeschränkt auch bei einem Strassenverkehrsdelikt verwendet werden. Das Bundesgericht weist die Beschwerde eines Aargauers ab, der im Kanton Obwalden den Pfosten einer Verkehrsinsel umfuhr. Er hatte sich aus dem Staub gemacht, konnte aber aufgrund der Videoaufnahmen ermittelt werden. Das Bundesgericht bestätigt den Schuldspruch des Obwaldner Kantonsgerichts, das den Mann zu einer bedingten Geldstrafe von 44 Tagessätzen zu 100 Franken und 1700 Franken Busse verurteilte.
Bundesgericht 7B_797/2023 vom 18.9.2024
Kein Verzicht auf mündliche Berufungsverhandlung
Das Berufungsgericht verletzt das Recht auf ein faires Verfahren, wenn es auf eine mündliche Verhandlung verzichtet, obwohl Aussage gegen Aussage steht und die direkte Wahrnehmung von Befragten wichtig ist. Im konkreten Fall sprach das Berner Obergericht in einem schriftlichen Verfahren einen erstinstanzlich verurteilten Mann vom Vorwurf sexueller Handlungen mit Kindern in dubio pro reo frei.
Bundesgericht 7B_215/2022 vom 25.10.2024