E-Mails mit ausländischen Anwälten nicht entsiegelt
Dass die Korrespondenz der Leiterin einer Firmenbuchhaltung möglicherweise Hinweise auf den Verbleib des Deliktbetrags von 2,2 Millionen Franken gibt, rechtfertigt es nicht, private E-Mails mit ausländischen Anwälten über Liegenschaftsgeschäfte zu entsiegeln. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde der wegen Betrugs und Urkundenfälschung Beschuldigten gegen einen Entscheid des Baselbieter Zwangsmassnahmengerichts gut. Ein Beschlagnahmeverbot gilt nicht nur für den Austausch mit dem Verteidiger, sondern auch mit allen anderen Personen mit Zeugnisverweigerungsrecht, wenn sie im gleichen Sachzusammenhang nicht selbst beschuldigt sind.
Bundesgericht 7B_777/2023 vom 17.12.2024
Mobilfunkantennen dürfen andere Bauten überragen
Die maximal zulässige Gebäude- und Firsthöhe im Baugesetz gilt nicht für Mobilfunkantennenmaste mit ihren Funkzellen. Deshalb darf eine sieben Meter hohe Antenne von Salt auf einem Mehrfamilienhaus in der Stadt Luzern die Bauhöhe von 21 Metern überschreiten, die in der dortigen Zone erlaubt ist. Ob das auch für den Technikkasten gilt, hängt von dessen Dimensionen ab. Das Bundesgericht weist die Beschwerde von zwei Anwohnern ab.
Bundesgericht 1C_616/2023 vom 8.11.2024
Pensionskasse: Partnerrente ohne gemeinsamen Wohnsitz
Der Lebenspartner hat nach dem Tod seiner Freundin Anrecht auf eine Partnerschaftsrente, obwohl die beiden formell in unterschiedlichen Gemeinden angemeldet waren. Das damalige Reglement der Pensionskasse des Kantons Waadt nannte als Voraussetzung für eine Partnerschaftsrente einen gemeinsamen Haushalt seit mindestens fünf Jahren («ménage commun»). Das Kantonsgericht kam zum Schluss, das Paar habe mit seinen beiden Kindern während 30 Jahren einen gemeinsamen Haushalt geführt. Seit 2003 gehöre ihnen die Wohnung zur Hälfte.
Es sprach dem Mann eine Rente von 1388 Franken monatlich zu. Die Pensionskasse insistierte, ein gemeinsamer Haushalt setze einen gemeinsamen Wohnsitz voraus. Das Bundesgericht weist ihre Beschwerde ab und hält fest, dass der Wohnsitz in Artikel 23 Zivilgesetzbuch definiert ist als Ort, wo sich jemand mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält. Der Ort, an dem die Ausweispapiere hinterlegt sind, stellt lediglich ein Indiz dafür dar.
Bundesgericht 9C_278/2024 vom 10.12.2024
Blosse Triageresultate bei Akteneinsicht ungenügend
Händigt die Staatsanwaltschaft bei der Akteneinsicht nur bereits triagierte Auswertungen einer grossangelegten Überwachungsaktion aus, verletzt sie das rechtliche Gehör. Eine Übersicht muss aufzeigen, welche Überwachung in welcher Art, wo, durch wen, zu welchem Zeitpunkt und mit welchem Resultat stattfand. Das bedeutet für einen des Heroin- und Kokainhandels im Kilobereich Beschuldigten aus dem Kanton Zürich, dass die Staatsanwaltschaft auch die ausgesonderten Aufzeichnungen der Überwachungsaktion grundsätzlich offenlegen muss, die in Zusammenhang mit den ihm vorgeworfenen Delikten stehen. Zudem erinnert das Bundesgericht daran, dass die Polizei nicht befugt ist, Dolmetschern und Übersetzern Anonymität zuzusichern.
Bundesgericht 7B_792/2023 vom 16.12.2023
Scheidung: Anspruch auf Teilurteil nach sechs Jahren
Ist in einem Scheidungsverfahren in erster Instanz nach sechseinhalb Jahren kein nahes Ende absehbar und will ein Partner wieder heiraten, besteht ein Anrecht auf ein Teilurteil über den Grundsatz der Scheidung. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde einer Frau gut, die seit Anfang 2015 von ihrem Ehemann getrennt lebt, der wegen Gewalt gegen sie verurteilt wurde. Sie reichte im März 2017 ein einseitiges Scheidungsbegehren ein und beantragte die alleinige Sorge und Obhut für die gemeinsame Tochter.
2022 erwartete die 32-Jährige mit ihrem neuen Lebensgefährten ein Kind. Weil sie ihren Verlobten heiraten wolle, beantragte sie ein Teilurteil zur Scheidung und Prozesskostenhilfe. Beides lehnten das Bezirksgericht de la Broye et du Nord vaudois und das Waadtländer Kantonsgericht ab, desgleichen 2023, worauf die Frau ans Bundesgericht gelangte. Nun muss das Bezirksgericht die Scheidung aussprechen.
Bundesgericht 5A_727/2023 und 5A_798/2023 vom 6.12.2024
Lachen des Strafrichters kein Ausstandsgrund
Eine Basler Advokatin verlangte vom – inzwischen pensionierten – Strafrichter René Ernst erfolglos, dass er wegen nonverbaler und verbaler Äusserungen der Missbilligung wie mehrfaches Lachen, Kopfschütteln, Augenverdrehen oder Geräusche des Unmuts («Tzzz») im März 2024 in einem Betäubungsmittelfall mit Dreierbesetzung in den Ausstand trete.
Nachdem Ernst im Juni am jährlichen Kammermahl der Advokatenkammer in einer Gastrede über Ausstandsgründe konkrete Beispiele aus diesem Fall anführte und das Appellationsgericht das Ausstandsgesuch im Juli abwies, gelangte die Advokatin ans Bundesgericht. Sie machte geltend, Ernsts nonverbale Äusserungen seien zu wenig berücksichtigt worden. Dieses kommt jedoch zum Schluss, in der Beschwerde sei nur pauschal von einem angeblichen Kopfschütteln und Augenverdrehen oder Lachen die Rede. Die Ausführungen seien aber zu wenig substanziiert, um auf eine ausstandsbegründende schwere Verfehlung schliessen zu können.
Bundesgericht 7B_985/2024 vom 6.12.2024
Gewerkschaft: Entlassung wegen Nulltoleranz rechtens
Die Entlassung eines Genfer Gewerkschaftssekretärs wegen Verstosses gegen die Nulltoleranzpolitik bei sexueller Belästigung war nicht missbräuchlich. Dass die fraglichen SMS und E-Mails gemäss einer Untersuchung Annäherungsversuche und keine sexuelle Belästigung an sich waren, ändert nichts daran. Das Kündigungsschreiben nennt als Grund Probleme durch Interessensbekundungen gegenüber Frauen im beruflichen Umfeld. Gemäss dem Sekretär sei das irreführend. Die tatsächlichen Kündigungsgründe lägen in politischen Motiven und öffentlichem Druck durch einen Zeitungsartikel. Die Genfer Justiz verneinte eine missbräuchliche Entlassung und wies seine Klage ab. Das Bundesgericht schützt den Entscheid.
Bundesgericht 4A_51/2024 vom 10.12.2024
Frühe Akteneinsicht bedingt substanziiertes Gesuch
Verlangt ein Beschuldigter Akteneinsicht, so muss er substanziiert dartun, dass die Staatsanwaltschaft die wichtigsten Beweise gemäss Artikel 101 Absatz 1 Strafprozessordnung schon erhoben hat. Es reicht nicht aus, wenn er in einer Strafuntersuchung wegen Urkundenfälschung und Betrugs geltend macht, die erste Einvernahme mit ihm habe bereits stattgefunden, und im Übrigen in seiner Beschwerde lediglich pauschal die Feststellungen der Vorinstanz in Abrede stellt, die wichtigsten Beweise seien noch ausstehend. Gemäss der Strafkammer des Zürcher Obergerichts betrifft das Verfahren Wirtschaftsdelikte, der Sachverhalt sei komplex und weise Bezüge zum Sultanat Oman auf, von wo Unterlagen über die zeitaufwendige internationale Rechtshilfe noch ausstehend seien.
Bundesgericht 7B_269/2023 vom 29.11.2024
Scheidungsrichter muss Stand des Depots erfragen
Bei einer Scheidung muss das Gericht bei der güterrechtlichen Auseinandersetzung den aktuellen Wert von Fonds- und Aktiendepots berücksichtigen, sofern die Parteien den Bestand der Wertschriften rechtsgenügend behauptet haben. Im Rahmen der richterlichen Fragepflicht muss es deshalb nötigenfalls fehlende Dokumente einholen. Während Zinsen auf Bankkonten nicht zu berücksichtigen sind, müssen die Schwankungen von Vermögenswerten wie Fonds oder Aktien zwischen der Auflösung und der Liquidation des Güterstands berücksichtigt werden. Im vorliegenden Fall aus Genf bestritt die 54-jährige Frau stets das Datum der Bewertung.
Bundesgericht 5A_967/2023 vom 4.11.2024
Gerichtsmitarbeiterin: ”Du Neger“ bleibt straffrei
Eine juristische Mitarbeiterin des Kantonsgerichts Schaffhausen hinterliess einem Vater in einem Unterhaltsprozess eine Nachricht auf der Combox. Zum Abschluss sagte sie: «Ruf zurück, du Neger», was auch ein Arbeitskollege hörte. Später machte die Frau geltend, sie sei davon ausgegangen, schon aufgelegt zu haben. Sie wurde erstinstanzlich wegen Beschimpfung zu einer bedingten Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu 150 Franken verurteilt.
Das Obergericht bestätigte die Verurteilung, befreite die Frau aber von einer Strafe. Grund: Der Vater spielte die Combox-Nachricht ab, um eine Audioaufzeichnung für seine Strafanzeige zu erstellen. Auf der Aufnahme ist zu hören, wie er auf Französisch sagt, er werde sie anzeigen, diese «pute». Mit dieser ehrenrührigen Bezeichnung als «Hure» habe sich der Mann laut Schaffhauser Obergericht hinreichend Gerechtigkeit verschafft, womit gemäss Artikel 177 Absatz 3 Strafgesetzbuch kein öffentliches Interesse an einer Bestrafung mehr besteht.
Die Staatsanwaltschaft zog dieses Urteil weiter. Denn wegen einer Gegenanzeige der Gerichtsmitarbeiterin sei der Vater, der zuerst in seiner Ehre verletzt worden sei, der Einzige, der bestraft werde. Dennoch schützte das Bundesgericht das vorinstanzliche Urteil.
Bundesgericht 6B_480/2024 vom 20.11.2024
Verkehrsüberwachung: Daten verwertbar
In zwei unterschiedlichen Fällen hält das Bundesgericht fest, dass die Aufnahmen von Verkehrsüberwachungskameras bei Strassenverkehrsdelikten verwertbar sind. Der eine Fall betrifft zu nahes Auffahren (sieben Meter) und Rechtsüberholen auf der Autobahn A1, der zweite Fall eine Auffahrkollision vor einem Rotlicht. Das Aargauer Obergericht befand, die Aufnahmen der Verkehrsüberwachungskameras des Bundesamts für Strassen (Autobahn) und des Kantons (Rotlicht) dürften nur für den Zweck der Steuerung und Sicherheit des Verkehrs genutzt werden, nicht aber zur Strafverfolgung. Das Bundesgericht sieht es anders und heisst die Beschwerden der Oberstaatsanwaltschaft gut. Die Videoaufnahmen wurden rechtmässig erstellt. Behörden sind zur nationalen Rechtshilfe verpflichtet.
Verkehrssicherheit lässt sich nur gewährleisten, wenn Verstösse gegen die Regeln auch Konsequenzen haben – somit ist die Weitergabe gestützt auf das Strassenverkehrsgesetz «zumindest implizit mitumfasst». Verwertbar sind die Aufnahmen ohnehin, weil die Verkehrsteilnehmer stets damit rechnen müssen, von Verkehrskameras gefilmt zu werden.
Bundesgericht 6B_345/2024 und 6B_346/2024 vom 8.11.2024