Was hat Prozessführung mit Kommunikation zu tun? Sehr viel. Denn kaum eine Situation stellt die menschliche Kommunikationsfähigkeit derart auf die Probe wie ein zwischenmenschlicher Konflikt. Am Anfang von Konflikten stehen oft Kommunikationsprobleme.1
Die Kommunikationsfähigkeit nimmt in Konflikten regelmässig ab. Nach dem bekannten Phasenmodell von Friedrich Glasl findet bereits in einer unteren Eskalationsstufe keine verbale Kommunikation mehr statt, und der Konflikt verschärft sich schnell.2
Dann geht es nicht mehr um die Sache, sondern darum, den Konflikt zu gewinnen, damit der Gegner verliert. Jede Konfliktbearbeitung müsste deshalb mit einer Stärkung der Kommunikationsfähigkeit der Konfliktparteien beginnen. Doch die klassische Prozessführung vor Gericht bewirkt das Gegenteil. Sie setzt einen Teufelskreis in Gang.
Der Teufelskreis beschreibt ein systemisches Modell, das eine sich aufschaukelnde Beziehungsdynamik zwischen zwei Parteien deutlich machen soll. Teufelskreise führen zu einer zunehmenden Polarisierung. In einem gewöhnlichen Zivilprozess zwischen zwei Parteien legt zuerst der Kläger seinen Standpunkt schriftlich dar.
Daraufhin erstattet der Beklagte die Klageantwort. Auf die Klageantwort darf der Kläger replizieren, auf die Replik der Beklagte duplizieren. Anschliessend folgen, gestützt auf das ewige Replikrecht, oft zahllose Noven-Stellungnahmen. Die Parteien äussern sich immer extremer.
Der Schlagabtausch beherrscht den Konflikt und behindert eine konstruktive Konfliktlösung. Die Polarisierung führt zu einem Auseinanderdriften der Standpunkte «bis hin zur völligen Unvereinbarkeit. Auch gegensätzliche Werte oder Bedürfnisse, die eigentlich in einem Ergänzungsverhältnis stehen, werden in der Polarisierung als getrennt und miteinander unvereinbar wahrgenommen».3
Ein Musterbeispiel für solche vermeintlich unvereinbaren Bedürfnisse ist der oftmals verbissene Kampf von Scheidungseltern um Betreuungsanteile, im beidseitigen Wissen, dass Kinder eine liebevolle Beziehung zu beiden Elternteilen benötigen.
Gerichte seien zur «sachgerechten Fallerledigung» verpflichtet, schreibt das Schweizerische Bundesgericht.4 Doch was heisst «sachgerecht»? Menschliche Konflikte resultieren häufig aus Beziehungsstörungen. Solche Beziehungsstörungen auf der Sachebene klären zu wollen, sei ein Kardinalfehler der zwischenmenschlichen Kommunikation, schreibt der Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von Thun.5
Zu den häufigsten Scheidungsgründen, die in Deutschland statistisch erhoben wurden, zählen Ehebruch, Schulden, Stress, Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie Gewalt in der Ehe, aber auch das allgemeine Auseinanderleben.6 Ersatzforderungen des Eigengutes stehen selten am Anfang einer Ehekrise. Einer der häufigsten Gründe, aus dem heraus Angestellte kündigen, ist mangelnde Wertschätzung durch die Arbeitgeberin oder den Arbeitgeber. Mangelnde Wertschätzung im Arbeitsleben führt dann oft zu Rechtsstreitigkeiten.
Auch im Wirtschaftsleben wird eher selten um juristische Fragestellungen gestritten. Berühmtheit erlangt hat der Fall des schweizerischen Aufzugherstellers Schindler: In einem Hotellift in der japanischen Stadt Kanazawa kam es zu einem tödlichen Unfall. Aus dem Unfall resultierte kein langer Rechtsstreit, sondern ein wochenlanger Medienskandal, weil sich die Führung von Schindler nicht sofort in aller Öffentlichkeit entschuldigt hatte. Das Image der Firma leidet in Japan noch heute darunter, obwohl Schindler Japan damals kein Gesetz brach, jedoch kulturell missverständlich kommunizierte.
Richterinnen und Richter sind in der Regel nicht darin geschult, oder sie glauben, es sei ihnen nicht gestattet, Beziehungsstörungen zu ergründen. Der Irrglaube an eine sachgerechte und prozessual richtige Konfliktlösung führte dazu, dass das Obergericht des Kantons Tessin im Jahr 2011 einem vorerst scheidungswilligen Ehepaar verbot, sich wieder zu versöhnen und die Ehe fortzusetzen, weil die Versöhnung prozessual zu spät erfolgt sei.7
Die Richterin oder der Richter leitet den Prozess. Sie können jederzeit versuchen, eine Einigung zwischen den Parteien herbeizuführen.8 Das wichtigste prozessuale Instrument zur Prozessleitung stellt die gerichtliche Fragepflicht im Sinne von Artikel 56 ZPO dar, welche es dem Gericht ermöglichen soll, allfällige Lücken oder Unklarheiten bei der Sammlung der prozessrelevanten Tatsachen zu schliessen.9
«Wer fragt, der führt», lautet ein geflügeltes Wort. Es wird dem griechischen Philosophen Sokrates zugeschrieben und hat an Aktualität nichts eingebüsst. In zahllosen Management- und Mediationsseminaren wird «die Kunst des Fragens» vermittelt. Denn gute Fragen führen zu guten Lösungen. Doch die juristische Lehre erweckt rasch den Eindruck, dass die gerichtliche Fragepflicht keinesfalls der Lösungssuche, sondern einzig der Formalisierung des Verfahrens dienen solle.
Die herrschende Lehre beschäftigt sich vorwiegend damit, was der Richter im Rahmen seiner Fragepflicht geflissentlich zu unterlassen habe: Denn die gerichtliche Einflussnahme setze voraus, dass das Vorbringen einer Partei unklar, widersprüchlich, unbestimmt oder offensichtlich unvollständig sei. Das Gericht solle ihr nur im Fall von klaren Kommunikationsmängeln Gelegenheit zur Klarstellung oder Ergänzung geben.10
Keinesfalls dürfe das Gericht die Gebote der Unparteilichkeit und der Gleichbehandlung der Konfliktparteien verletzen.11 Die gerichtliche Fragepflicht erlaubt somit nur eine sehr eingeschränkte Kommunikation zwischen Gericht und Konfliktpartei und jedenfalls keine Kommunikation zwischen den Parteien vor den Schranken.
In einem neueren Entscheid vom 21. März 2022 bestätigte das Bundesgericht unter Verweis auf seine ständige Rechtsprechung, dass die Ausübung der gerichtlichen Fragepflicht nicht zur Aushebelung der Verhandlungsmaxime und folglich zur Feststellung des Sachverhaltes von Amtes wegen führen dürfe.12 Man stelle sich vor: eine Konfliktlösung von Amtes wegen!
Gerichte fokussieren traditionellerweise auf eine Aufarbeitung der Vergangenheit. Welche Vereinbarungen haben die Konfliktparteien getroffen? Welche Konfliktpartei hat sich wie verhalten? Das Ziel eines jeden Konfliktmanagements sollte aber darin bestehen, eine nachhaltige Konfliktlösung herbeizuführen.
Das erfordert zwangsläufig Zukunftsfragen: Zukunftsfragen sind Fragen, die darauf abzielen, Möglichkeiten für eine Zukunft zu erforschen und eine gute Lösung für einen Konflikt zu finden. Wir können in diesem Zusammenhang auch von lösungsorientierten Fragen sprechen, deren Fokus eindeutig auf Ressourcen und Lösungen liegt.13
Genau solche Fragen sind dem Gericht aber nach herrschender Lehre nicht erlaubt. Das Gericht soll keine Lösungsmöglichkeiten erforschen, sondern das Recht anwenden.
Einige juristische Autoren wagen aber immerhin die Aussage, dass die gerichtliche Fragepflicht «nicht auf eigentliche Fragen begrenzt» sei. Das Gericht dürfe auch «Anregungen anbringen».14 Auch dürfe das Gericht durchaus versuchen, herauszufinden, was die Parteien wirklich wollten, also aus der Sicht der Mediation betrachtet die Interessen hinter den Positionen klären.15
Die gerichtliche Fragepflicht bestehe nicht als Selbstzweck, sondern müsse letztlich der Konfliktlösung dienen, denn «das Erkenntnisverfahren ist ein Kommunikationsprozess zwischen den Parteien und dem Gericht».16
Konflikte können selten ausgesessen werden. Die Verhärtung der Standpunkte nimmt im Lauf der Zeit zu. Indessen leben wir in einer immer schnelllebigeren Zeit. Nachrichten über Ereignisse irgendwo auf dem Erdball schaffen es innert Minuten auf unsere Smartphones. Wir konsumieren Fast Food und verreisen last minute. Nur die Konfliktbearbeitung durch die Gerichte dauert immer länger.
Familienrechtliche Verfahren nehmen regelmässig ein bis mehrere Jahre in Anspruch. Bis der Eheschutz- oder der Scheidungsrichter einen Entscheid gefällt hat, haben die zerstrittenen Ehegatten ihren Job, ihre Wohnung oder ihren Lebenspartner gewechselt. Dann heisst es: zurück an den Start.
Als ich meine Anwaltstätigkeit aufnahm, konnten Eheschutz- oder Scheidungsverhandlungen noch innert weniger Wochen nach der Verfahrenseinleitung stattfinden. Sie müssten halt die Vorladungsfristen einhalten, entschuldigten sich die Gerichtskanzleien damals telefonisch.
Bis zu einer Schlichtungs- oder Einigungsverhandlung verstreichen heute Monate, weil die Gerichte zuerst Kosten- und Editionsverfügungen erlassen wollen. Die Edition der letzten Prämienrechnung der Krankenkasse ist wichtiger als ein zeitnaher Konfliktlösungsversuch. Die häufigste Klientenfrage, die forensisch tätige Anwälte heutzutage beantworten müssen, ist die Frage, weshalb der Prozess nicht vorankomme. Eine überlange Prozessdauer verhärtet die Kommunikation zusätzlich.
Da eine zunehmende Bürokratisierung der Justiz dazu führt, dass Zivilprozesse immer kosten- und zeitaufwendiger geführt werden müssen, und da Zivilprozesse je länger je mehr in Konkurrenz zu alternativen Streitbeilegungsmethoden – namentlich der Mediation – stehen, müsste eine rasche gerichtliche Wiederherstellung des Rechtsfriedens in den Vordergrund rücken.
Durch den Streit über materielle Rechte und Rechtsverhältnisse wird der Rechtsfrieden gestört. Von der Gesellschaft her gesehen stellt der Rechtsstreit ein soziales Übel dar, das möglichst rasch durch die Wiederherstellung des Rechtsfriedens beseitigt werden soll.17
Die Wiederherstellung des Rechtsfriedens hängt massgeblich davon ab, ob sich die Konfliktparteien im Konfliktlösungsprozess verstanden fühlen oder nicht. Überzeugen kann man nur jemanden, der sich erst einmal verstanden fühlt. Diverse Studien belegen, dass Konfliktparteien auch negative Gerichtsurteile besser annehmen können, wenn sie das Gefühl haben, der Richter habe ihnen zugehört und sich mit ihren Argumenten auseinandergesetzt, das heisst: mit ihnen kommuniziert.
In diesem Sinne äussert sich auch Franziska Plüss, Präsidentin des Obergerichts und der Justizleitung des Kantons Aargau auf der Webseite der aargauischen Gerichte: «Was macht ein Urteil zu einem guten Urteil? Nun, es muss sicher mal seine Grundlage im Gesetz finden sowie nachvollziehbar und verständlich sein.
Zudem muss es als fair empfunden werden. Wir setzen uns ein für eine hohe Qualität der Rechtsprechung, die insbesondere auch den erwähnten Kriterien einer effizienten und bürgernahen Justiz gerecht wird. Nur so können wir Vertrauen schaffen und für Rechtssicherheit und Rechtsfrieden sorgen.»
Mit anderen Worten sollte das gerichtliche Konfliktmanagement nicht nur zu einem rechtstechnischen Entscheid, sondern zu einer nachhaltigen Konfliktlösung führen, und diese Konfliktlösung sollte von den Konfliktparteien auch verstanden werden. Dazu müssten die Gerichte verständlich kommunizieren. Die St. Galler Professorin Nora Markwalder hat erforscht, dass viele Prozessparteien die Gerichtskosten nicht bezahlen, weil sie nicht einmal die gerichtliche Kostenverteilung inhaltlich nachvollziehen können.18
Eine gerichtsnahe Mediation fand inzwischen Eingang in die Zivilprozessordnung. Gemäss Artikel 214 ZPO kann das Gericht den Parteien jederzeit eine Mediation «empfehlen». Nach dem materiellen Recht kann das Gericht in kindesrechtlichen Streitigkeiten die Eltern zu einem Mediationsversuch «auffordern».19 Von diesen Optionen der Konfliktlösung machen die Gerichte aber kaum Gebrauch.
Zu diskutieren wäre das Konzept der «Integrierten Mediation»: Es entstand bereits im Jahr 1992 als «Cochemer Modell» am deutschen Amtsgericht Cochen in Rheinland-Pfalz. Das Modell sieht in strittigen Gerichtsverfahren namentlich im Familienrecht eine interdisziplinäre Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure (Richter, Kindesschutzbehörden, Familienberatungsstellen, Psychologen) vor. Das Cochemer Modell wurde dann nach der Jahrtausendwende als Justizprojekt «Integrierte Mediation in Familiensachen» vom Oberlandesgerichts Koblenz und anderen deutschen Gerichten weiterentwickelt.
Kernelemente des Modells fanden sogar Eingang in das deutsche «Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit», so beispielsweise das Gebot einer raschen Anhörung der Parteien und des frühen Einbezugs alternativer Konfliktlösungsmethoden.20
Die mittlerweile zwölfjährige gesamtschweizerische Zivilprozessordnung, die als Jahrhundertwerk gefeiert wurde, ermöglicht leider keine grundsätzlich neuen Konfliktlösungswege.
Das Konzept der Integrierten Mediation müsste nicht auf familienrechtliche Streitigkeiten beschränkt bleiben. Es versucht ganz generell, in strittigen Gerichtsverfahren Wege für eine einvernehmliche Konfliktlösung zu ebnen. Die Integrierte Mediation geht viel weiter als die gerichtsnahe Mediation, indem der Richter den Prozess auch als Mediator führen darf. «Fitting the forum to the fuss», lautet das Motto der Integrierten Mediation: Das Verfahren soll dem Konflikt angepasst werden.21
Die aktuelle Gerichtspraxis verfolgt den umgekehrten Weg. Sie erhebt das formelle Verfahren zum Massstab aller Dinge: «Fitting the fuss to the forum.» Die Integrierte Mediation bezweckt gerade nicht, den Konflikt an die Verfahrensform zu binden. Deshalb muss der Richter auf Lösungsstrategien zurückgreifen dürfen, die über die Verfahrensform hinausgehen. Gerichtsurteile, die strittigen Scheidungsparteien eine Versöhnung aus formellen Gründen verbieten, sollten so nicht mehr vorkommen.
1 Daniel Girsberger / Jams T. Peter, Aussergerichtliche Konfliktlösung, Zürich 2019, Rz 53.
2 Friedrich Glasl, Konfliktmanagement, Diagnose und Behandlung von Konflikten in Organisationen, Bern/Stuttgart 1980.
3 Friedemann Schulz von Thun / Kathrin Zach / Karen Zoller, Miteinander reden von A bis Z, Reinbek bei Hamburg 2021, S. 215.
4 BGE 144 I 37.
5 Friedemann Schulz Thun, Miteinander reden: 1, Reinbek bei Hamburg 2022, S. 229.
6 www.scheidung.org/ scheidungsgruende.
7 BGer 5A_538/2011 vom 5.6.2012.
8 Art. 124 ZPO.
9 Art. 56 ZPO.
10 Thomas Sutter-Somm / Benedikt Seiler, Handkommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO), Zürich 2021, Art. 56 N 7.
11 Ebd., Art. 56 N 8.
12 BGer 4A_556/2021 vom 21.3.2022.
13 Christa D. Schäfer, «Vom Konflikt zur Lösung – mit den richtigen Fragen», in: Die Mediation, I/2023, S. 35. Sutter-Somm / Seiler, a.a.O., Art. 56 N 10.
15 Christoph Hurni, in: Andreas Güngerich (Hrsg.), Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Art. 1–352 und Art. 400–406 ZPO, Bern 2012, Art. 56 ZPO, N 13.
16 Stephen V. Berti, Zürcher Kommentar, Obligationenrecht, Art. 127–142 OR, 3. Aufl., Zürich 2002, Art. 138a OR N 17.
17 Oscar Vogel / Karl Spühler, Grundriss des Zivilprozessrechtes, 8. Aufl., Bern 2006, Rz 19.
18 Nora Markwalder anlässlich der Tagung Digitalisierung des Straf- und Strafprozessrechts 2021 vom 24.9.2021 in Zürich.
19 Art. 314 ZGB.
20 § 155 D-FamFG.
21 Maurits Barendrecht / Berend de Vries, Fitting the Forum to the Fuss with Sticky Defaults: Failure on the Market for Dispute Resolution Services?, Tilburg 2004.