Artikel 185 Absatz 3 der Bundesverfassung und Artikel 6 und 7 des Epidemiengesetzes geben dem Bundesrat die Kompetenz, in besonderen und ausserordentlichen Situationen Verordnungen zu erlassen. Artikel 19 Absatz 1 Epidemiengesetz räumt auch den Kantonen die Möglichkeit ein, Massnahmen zur Kontrolle, Verminderung und Beseitigung von Risiken der Übertragung von Krankheiten zu treffen. Die Regierungen machten in den vergangenen Monaten häufig davon Gebrauch – mittels Verordnungen, Verfügungen und Weisungen.
Gegen diese Massnahmen wehrten sich vor allem Privatpersonen, aber auch ein Ladenbetreiber und eine Gemeinde. plädoyer untersuchte, wie das Bundesgericht und die kantonalen Verwaltungsgerichte dabei die Corona-Massnahmen einschätzten. Eine Aufstellung der wichtigsten Urteile:
Das Bundesgericht hat bisher noch keine Entscheide gefällt, in denen es abschliessend über die Verhältnismässigkeit von Coronamassnahmen entschied. Auf verschiedene Beschwerden trat das höchste Gericht mangels ausreichender Begründung nicht ein. Insbesondere bei vorsorglichen Massnahmen hatten Nichtjuristen keine Chance, den nicht wiedergutzumachenden Nachteil im Sinn von Artikel 93 Absatz 1 litera a des Bundesgerichtsgesetzes gerichtskonform darzulegen.
Mit Urteil vom 3. September 2020 entschied das Bundesgericht etwa, die durch den Zürcher Regierungsrat angeordnete Pflicht, eine Gesichtsmaske zu tragen, bilde keinen nicht wiedergutzumachenden Nachteil, um vor Bundesgericht eine superprovisorische Anordnung der Nichtanwendung zu erwirken (2C_686/2020). Im Urteil heisst es lapidar, «die blosse Verlängerung oder Verteuerung des Verfahrens» reiche dafür nicht aus. Inhaltlich beurteilte das Bundesgericht die Rechtslage nicht. Bis das Gericht in der Sache materiell entscheidet, ist die Beschwerde möglicherweise gegenstandslos. Für Rechtsuchende eine unbefriedigende Lösung.
In mehreren Entscheiden beschäftigte sich das Bundesgericht indirekt mit der Coronapandemie: In den Urteilen vom 9. Juni 2020 und 12. Juni 2020 entschied es, Personen in Ausschaffungshaft im Kanton Zürich seien mangels möglichem Wegweisungsvollzug freizulassen (2C_386/2020 und 2C_414/2020). Mit Urteil vom 6. Juli 2020 stellte das Bundesgericht klar, dass Gerichtsverhandlungen gegen den Willen einer beteiligten Partei nicht per Videokonferenz durchgeführt werden dürfen (4A_180/2020). Grund: Es fehlt die erforderliche gesetzliche Grundlage. Das Urteil geht auf eine Hauptverhandlung am Handelsgericht des Kantons Zürich vom 7. April zurück. Mittlerweile hat sich die Rechtslage geändert. Der Bundesrat schuf im September eine Grundlage für Videoverhandlungen gestützt auf das Covid-19-Gesetz.
Luzern: Keine inhaltliche Auseinandersetzung
Auch verschiedene kantonale Verwaltungsgerichte hatten über Coronamassnahmen zu entscheiden: So hiess am 17. September 2020 das Kantonsgericht Luzern die Beschwerde einer Privatperson gegen eine Verfügung der Dienststelle Gesundheit und Sport Luzern gut (7H 20 139). Die Dienststelle hatte verfügt, dass sich in Gastwirtschaftsbetrieben und an Veranstaltungen nicht mehr als 100 Personen gleichzeitig aufhalten dürfen, wenn keine Schutzmassnahmen ergriffen werden können. Das Kantonsgericht kam zum Schluss, die Anordnung vom 15. Juli sei keine Allgemeinverfügung, sondern ein Erlass. Damit sei die Dienststelle nicht zuständig gewesen. Ob die Massnahmen inhaltlich mit dem übergeordneten Recht vereinbar sind, prüfte das Kantonsgericht nicht weiter.
Solothurn: Private ohne Beschwerdelegitimation
Das Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn hatte in zwei Urteilen vom 21. Oktober 2020 zu prüfen, ob eine durch den Kantonsarzt angeordnete Allgemeinverfügung rechtmässig war. Sie sah eine Maskenpflicht in öffentlich zugänglichen Innenräumen von Einkaufsläden und -zentren vor. Da am 18. Oktober die allgemeine Maskenpflicht durch den Bund eingeführt wurde, erklärte das Obergericht die Beschwerden als gegenstandslos. Dennoch äusserte es sich auch materiell zur Sache. Es kam zum Schluss, Privatpersonen könnten keine besondere Betroffenheit geltend machen, die Voraussetzung für die Beschwerdelegitimation wäre. Dies im Gegensatz zu einer Metzgerei, die sich ebenfalls per Beschwerde gewehrt hatte (VWBES.2020.333 und VWBES.2020.338).
Der emeritierte Staatsrechtsprofessor Paul Richli sagt dazu: «Diese beiden Urteile sind Fehlentscheide. Das Verwaltungsgericht Solothurn hätte die Beschwerdelegitimation der Privatpersonen bejahen müssen.» Das Gericht habe nämlich anerkannt, dass der Beschwerdeführer von der Allgemeinverfügung direkt betroffen sei und wohl auch ein aktuelles und praktisches Bedürfnis nach ihrer Aufhebung habe. «Der Beschwerdeführer ist daher beschwerdelegitimiert», hält Richli fest. Es genüge, dass er regelmässig einkaufen gehe.
Gemäss Richli hätte das Gericht in den beiden Verfahren auch materiell entscheiden können. Normalerweise müsse ein schützenwertes Interesse an einer gerichtlichen Entscheidung aktuell sein: «Die Praxis des Bundesgerichts sieht aber vom aktuellen Interesse ab, wenn sich die aufgeworfenen Fragen jederzeit unter gleichen oder ähnlichen Umständen wieder stellen können, ohne dass im Einzelfall rechtzeitig eine gerichtliche Prüfung stattfinden könnte.»
St. Gallen: Besuchsverbot in Spitälern nicht überprüft
Mit Urteil vom 12. Juni 2020 trat das Verwaltungsgericht St. Gallen mangels Anfechtungsobjekt auf eine Beschwerde nicht ein (B 2020/112). Das St. Galler Gesundheitsdepartement hatte am 16. März ein generelles Besuchsverbot in Spitälern und Kliniken in Form einer als «Allgemeinverfügung» bezeichneten Weisung erlassen. Diese Weisung wollte der Beschwerdeführer aufheben lassen. Das Gericht argumentierte, angesichts der offenen Umschreibung möglicher Ausnahmen vom Verbot würde die verlangte Überprüfung der Weisung auf deren Vereinbarkeit mit dem übergeordneten Recht und damit auf eine abstrakte Normenkontrolle hinauslaufen – losgelöst vom konkreten Einzelfall. Eine solche Überprüfung sei dem Gericht aber nicht möglich.
Das Verwaltungsgericht Zürich beschäftigte sich im Entscheid vom 26. August 2020 mit der Maskentragpflicht in Innenräumen von Läden, Einkaufsmärkten und Märkten. Das Gericht war der Ansicht, der Eingriff in das Recht auf persönliche Freiheit des Beschwerdeführers wiege nicht schwer. Die Pflicht, eine Gesichtsmaske zu tragen, sei örtlich und zeitlich beschränkt. Es wies das Gesuch um superprovisorische Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung und superprovisorische Massnahmen mit Präsidialverfügung vom 27. August ab (AN.2020.00011). Im Endentscheid vom 22. Oktober 2020 kam es materiell zum Schluss, die Voraussetzungen für ein Tätigwerden durch den Kanton seien durch die steigende Anzahl an Neuinfektionen gegeben. Der Grundrechtseingriff erfolge zu Recht und beruhe auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage. Auch liege er im öffentlichen Interesse und sei verhältnismässig.
In einem weiteren Verfahren hatte das Verwaltungsgericht Zürich über eine Notverordnung für Kindertagesstätten zu befinden (AN.2020.00004 vom 28. Mai 2020). Der Regierungsrat erliess diese am 22. April. Sie sah vor, dass die Gemeinden den Kindertagesstätten 80 Prozent des Schadens ersetzen, der durch entgangene Elternbeiträge vom 16. März bis 10. Mai entstanden war. Gegen die Verordnung wehrte sich die Gemeinde Oberglatt erfolgreich. Das Gericht urteilte, die Notverordnungskompetenz der Regierung beschränke sich auf den Schutz klassischer Polizeigüter. Die schwierige Situation der Kitas führe nicht zu einer Situation, die Massnahmen gemäss Notverordnungsrecht rechtfertige.
Ein neues Direktverfahren als Lösung
Fazit von Paul Richli: «Die Frage nach einem effektiven Rechtsschutz gegen Coronamassnahmen von Bund und Kantonen ist ein echtes Problem.» Der Schutz der Grundrechte gegen schwere Eingriffe könnte effektiver ausgestaltet werden, «indem – je nach Rechtsgrundlage und Entscheidungsorgan – ein Direktverfahren vor Bundesgericht oder vor Bundesverwaltungsgericht oder vor dem höchsten kantonalen Gericht, je mit abschliessender Zuständigkeit, eingeführt würde». Dieses könnte zudem angewiesen werden, innert kurzer Frist zu entscheiden. Staatsrechtsprofessor Felix Uhlmann von der Universität Zürich schlägt vor, dass «die direkte Anfechtung von Bundesratsverordnungen – also eine abstrakte Normenkontrolle – eingeführt wird».
Deutschland: Beschwerdeführer wiederholt erfolgreich
In Deutschland sind seit März 2020 schon über 250 Urteile zu Erlassen und Allgemeinverfügungen in der Coronapandemie ergangen. Die meisten Urteile stammen von Landesgerichten, einige vom Bundesverfassungsgericht. Die Beschwerdeführer waren wiederholt erfolgreich. So qualifizierte das Verwaltungsgericht Düsseldorf die für die ganze Stadt Düsseldorf angeordnete Maskenpflicht als rechtswidrig. Das Oberverwaltungsgericht Niedersachsen kippte die generelle Sperrstunde und ein Verkaufsverbot für Alkohol. Das Berliner Verwaltungsgericht hob das Demonstrationsverbot gegen die staatlichen Coronamassnahmen auf.
Die Urteile erfolgten oft in Eilverfahren. Diese ähneln dem summarischen Verfahren im Schweizer Recht. Das Gericht entscheidet vorläufig anhand aktuell vorliegender Informationen, ohne in die Detailprüfung zu gehen. Dies geschieht erst im normalen Klageverfahren. Der Freiburger Staatsrechtsprofessor Andreas Stöckli sagt, auch in der Schweiz wären die Gerichte in der Lage, in einem Eilverfahren innert angemessener Frist zu entscheiden: «Bei Gesuchen zu superprovisorischen Massnahmen entscheidet das Gericht ja auch sehr schnell» (plädoyer 5/2020). Der Freiburger Staatsrechtsprofessor Bernhard Waldmann vermutet, es gebe in Deutschland aus verschiedenen Gründen mehr Urteile zu Corona als in der Schweiz: «Einige Massnahmen, etwa die Maskenpflicht, wurden dort früher eingeführt.» Zudem hätten die bundesdeutschen Länder teilweise sehr weitreichende Massnahmen wie Ausgeh- und Beherbergungsverbote angeordnet. In der Schweiz wurden die Massnahmen vorab durch den Bundesrat getroffen. «Gegen dessen Verordnungen gibt es keinen unmittelbaren Rechtsschutz.»