Gerichte sollen über Entlassung entscheiden
Kleine Verwahrung · In allen Deutschschweizer Kantonen entscheiden Vollzugsbehörden, wer aus einer Massnahme nach Artikel 59 StGB entlassen werden soll. Experten fordern, dass Gerichte diese Aufgabe übernehmen.
Die Zahl der Häftlinge in einer kleinen Verwahrung gemäss Artikel 59 Absatz 1 des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB) steigt stetig an: 2018 befanden sich 583 Personen in einer Behandlung wegen einer psychischen Störung, 2008 waren es erst 275 und 1998 nur 49. Das zeigen Zahlen des Bundesamts für Statistik (siehe Grafik im PDF). Damit befinden sich heute fast zwölf Mal so viele Personen in einer kleinen Verwahrung wie im Jahr 1998.
Von einer kleinen Verwahrung spricht man bei dieser Massnahme, weil der damit verbundene Freiheitsentzug laut Gesetz im Gegensatz zur Verwahrung nach Artikel 64 StGB «in der Regel höchstens fünf Jahre» dauern soll.
Die Zunahme hat zwei Gründe: Die Gerichte griffen in den vergangenen zehn Jahren häufiger zu dieser Massnahme – total 696 Mal. Zudem befinden sich die Eingewiesenen immer länger in einer solchen Massnahme: durchschnittlich über sieben Jahre bis zu einer bedingten Entlassung. Und durchschnittlich fast fünf Jahre, bis die Massnahme aufgehoben wird oder die Betroffenen ihre Strafe verbüsst haben.
Stossend: Obwohl der mit der stationären Behandlung verbundene Freiheitsentzug in der Regel höchstens fünf Jahre dauern sollte, kann das Gericht die Massnahme mehrmals verlängern. Faktisch ist die kleine Verwahrung somit unbefristet. Konsequenz: Im Extremfall bleiben Betroffene den Rest ihres Lebens inhaftiert. Die Luzerner Oberrichterin Marianne Heer sagt: «Der Gesetzgeber hat die Massnahme eigentlich nur für fünf Jahre konzipiert. Eine Verlängerung nach dieser Zeit sollte die Ausnahme sein. Doch ist sie heute praktisch fast die Regel.»
Für die Anordnung und Verlängerung der kleinen Verwahrung sind die Gerichte zuständig. Nach Artikel 62d Abatz 1 StGB entscheidet dagegen «die zuständige Behörde» über die bedingte Entlassung oder die Aufhebung der Massnahme.
Die Kantone können diese Behörden frei bestimmen. In den Kantonen Genf, Waadt, Wallis und dem Tessin entscheiden Gerichte. In den anderen Schweizer Kantonen nimmt eine kantonale Vollzugsbehörde diese Aufgabe wahr. Laut dem Strafvollzugsexperten Benjamin Brägger ist dies dann verfassungs- und konventionskonform, «wenn als letzte kantonale Instanz ein unabhängiges Gericht mit vollständiger Kognition über eine strittige Verfügung entscheiden kann».
Zur Zusammensetzung der Vollzugsbehörden gibt es keine Vorgaben. Entsprechend sind die Gremien je nach Kanton ganz unterschiedlich zusammengesetzt. Gemäss Gesetz hört die zuständige Behörde den Eingewiesenen an und holt einen Bericht der Leitung der Vollzugseinrichtung ein. «In der Regel entscheidet ein Jurist gestützt auf Stellungnahmen und Berichte, darunter können auch psychiatrische Gutachten sein», weiss der Basler Strafverteidiger Niklaus Ruckstuhl aus Erfahrung. Hinzu kommt laut der Solothurner Strafverteidigerin Eveline Roos allenfalls eine Beurteilung durch die konkordatliche Fachkommission. In einigen Kantonen sei auch die Einwilligung des Justizdirektors nötig. Allgemein ergebe sich eine völlig zersplitterte Verantwortlichkeit, die sich in der Regel zulasten des Insassen auswirke.
“Null-Risiko-Mentalität bei den Vollzugsbehörden”
Deshalb fordern immer mehr Juristen auch für die Deutschschweiz, die Kompetenz zum Entscheid über die bedingte oder definitive Entlassung an die Gerichte zu übertragen. Darunter auch Oberrichterin Heer: «Das Gericht ist unabhängig und nicht weisungsgebunden.» Demgegenüber würden Vollzugsbehörden gewöhnlich unter der Leitung eines politisch denkenden Justizdirektors stehen, der wiedergewählt werden wolle. «Da gelten andere Massstäbe als in der Justiz.»
Das politische Denken sei zumeist von parteipolitischen und von eigenen Interessen geprägt. Eine Abwägung zwischen rechtsstaatlichen Grundsätzen und dem Freiheitsinteresse eines Individuums einerseits und dem öffentlichen Interesse an Sicherheit andererseits sei so nicht mehr objektiv gewährleistet. «Es herrscht eine Null-Risiko-Mentalität, die sehr oft einer tatsächlichen Grundlage entbehrt.»
Auch Ruckstuhl hält die Gerichte für «entscheidoffener» als die Vollzugsbehörden: «Sie lassen sich weniger dadurch beeinflussen, dass sie verantwortlich gemacht werden könnten, wenn der bedingt Entlassene rückfällig wird.» Er ergänzt: «Vorbereiten müsste den Entscheid aber nach wie vor die Vollzugsbehörde, da dem Strafgericht die relevanten Unterlagen aus dem Vollzug fehlen.» So würde nicht dieselbe Behörde entscheiden, die den Fall vorbereitet habe.
Marianne Heer beabsichtigt mit ihrem Änderungsvorschlag, dass jährlich eine gerichtliche Überprüfung der Massnahme stattfindet. Strafverteidiger Stephan Bernard aus Zürich begrüsst diesen Vorschlag: «So findet jährlich eine externe Kontrolle statt.» Der Betroffene solle nach einer anwaltlichen Beratung aber auch auf eine Überprüfung verzichten können.
Heers Vorschlag wird möglicherweise schon bald zumindest teilweise umgesetzt: Das Massnahmenpaket Strafvollzug, das Änderungen im StGB und im Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht vorsieht, befindet sich nämlich bis zum 30. September in der Vernehmlassung. In dessen Artikel 62d Absatz 1 StGB ist vorgesehen, dass neu das Gericht über die Aufhebung der Massnahme entscheiden soll. Laut Heer werden damit auch Doppelspurigkeiten verhindert. Zurzeit muss ein Gericht nach der Aufhebung der Massnahme über eine allfällige Reststrafe oder über eine andere Massnahme befinden. «Dabei stellen sich zumeist gleiche oder sehr ähnliche Fragen wie bei der Aufhebung einer Massnahme.» Dies sei nicht nur ökonomischer Unsinn, sondern berge auch die Gefahr von widersprüchlichen Entscheiden verschiedener Behörden.
Heer bedauert, dass nicht auch die bedingte Entlassung neu geregelt werden soll. «Hier haben wir wieder zwei verschiedene Entscheidungsträger für die Beantwortung der gleichen Fragen.» Dies sei nicht konsequent.
Justizvollzugsbehörden schweigen sich aus
Gemäss neuester bundesgerichtlicher Praxis müssen Massnahmen in jedem Stadium des Vollzugs grundsätzlich überprüft werden können. Sind die Voraussetzungen nicht mehr gegeben, muss die Massnahme aufgehoben und die Person entlassen werden – so das Urteil des Bundesgerichts 6B_ 866/2017 vom 11. Oktober 2017.
Die von plädoyer angefragten Justizvollzugsbehörden wollten sich nicht zur Forderung äussern, die Kompetenzen über eine bedingte Entlassung oder eine Aufhebung der Massnahme neu den Gerichten zu übertragen.
Nur Thomas Freytag, Leiter der Bewährungs- und Vollzugsdienste beim Amt für Justizvollzug des Kantons Bern, nahm zum Vorschlag Stellung. Er hat Vorbehalte: «Ein grosser Unterschied zwischen den Vollzugsbehörden und den Gerichten liegt im Fachwissen, über welches die Vollzugsbehörden in den Bereichen Sozialhilfe, Vollzug und Prognostik verfügen.»