Ein Zwangsmassnahmengericht im Kanton St. Gallen hiess 100 Prozent der staatsanwaltschaftlichen Anträge auf Anordnung von Untersuchungshaft gut. Das ergab eine Studie der beiden Juristinnen Nora Markwalder und Janine Binswanger von der Universität St. Gallen (plädoyer 6/2020). plädoyer hat nun herausgefunden: Alle regionalen Gerichte im Kanton St. Gallen hiessen 240 von 248 Haftanträgen gut (97 Prozent). Und von 95 Haftverlängerungen wurden alle genehmigt. In anderen Kantonen sind die Erfahrungen der Anwälte ähnlich. plädoyer erkundigte sich bei sechs weiteren Kantonen nach der Praxis dieser Gerichte. Das Resultat auch dort: Eine grosse Mehrheit aller Haftanträge wird von den Haftrichtern tatsächlich sang- und klanglos durchgewunken.
Gutheissungsquoten häufig über 90 Prozent
Beispiel Bern: Das Zwangsmassnahmengericht des Kantons Bern beurteilt Haftanträge der Staatsanwaltschaft der Region Bern-Mittelland, der beiden kantonalen Staatsanwaltschaften sowie der Bundesanwaltschaft. Von 139 Anträgen der Staatsanwaltschaft der Region Bern-Mittelland hiess das Gericht im Jahr 2019 deren 138 gut (99 Prozent). Von 121 beantragten Verlängerungen der Untersuchungshaft wurden 112 gewährt (93 Prozent). Ähnlich bei der Sicherheitshaft: 54 Anträge, 54 Gutheissungen.
Auch alle 14 Verlängerungsgesuche ergingen im Sinne der Strafverfolger. Die beiden kantonalen Staatsanwaltschaften kamen ebenfalls auf 100 Prozent Gutheissungen ihrer Gesuche. Die Bundesanwaltschaft beantragte im Jahr 2019 in acht Fällen eine Untersuchungshaft. Das Gericht hiess alle gut. Zudem kam es 29 von 30 Verlängerungsanträgen der Bundesanwaltschaft nach (97 Prozent). Wer sich vor Bundesstrafgericht gegen eine Verlängerung wehrt, hat bessere Chancen: Das Gericht hiess alle acht Beschwerden von Betroffenen gut. Sie mussten aus der Untersuchungshaft entlassen werden.
In anderen Kantonen ist die Lage ähnlich. Die Zahlen für 2019:
Das Zwangsmassnahmengericht des Kantons Aargau hiess 447 von 580 Anträgen für Untersuchungs-, Sicherheitshaft, Verlängerungen und Ersatzmassnahmen vollumfänglich gut (77 Prozent), 39 teilweise.
Basel-Stadt: Das Zwangsmassnahmengericht hiess 316 von 352 Gesuches für Untersuchungs- und Sicherheitshaft gut (90 Prozent).
Graubünden schickte bei 41 Anträgen 40 Beschuldigte in U-Haft (98 Prozent).
Das Zwangsmassnahmengericht des Kantons Glarus ordnete bei 22 Anträgen 17 Mal Untersuchungs- und Sicherheitshaft an (77 Prozent).
Das Bezirksgericht Zürich verfügt derzeit laut einer Sprecherin über keine diesbezüglichen Zahlen. Das Obergericht habe nun aber das Statistikprogramm angepasst. Ab Anfang 2021 würden die Daten erhoben.
Der Zürcher Strafverteidiger Lucius Richard Plattner kritisiert: «Zwangmassnahmengerichte sind ein reines Feigenblatt, das den Anschein einer unabhängigen Haftprüfung vermitteln soll. Doch in der Regel heissen die Gerichte gut, was von der Staatsanwaltschaft vorgelegt wird.»