1. Diskussionsbedarf nach Urteil des Bundesgerichts
Das Urteil des Bundesgerichts 6B_1087/2019 machte im Februar 2021 Furore. Hintergrund war folgender: Das Bezirksgericht Zürich sprach einen Beschuldigten vom Vorwurf der Förderung der Prostitution frei. Das Zürcher Obergericht verurteilte ihn hingegen im schriftlichen Verfahren. Das Bundesgericht hob den Entscheid auf. Gemäss Bundesgericht wäre zumindest eine gerichtliche Einvernahme des Opfers und des Beschuldigten notwendig gewesen, da es «in besonderem Masse auf den unmittelbaren Eindruck der Aussage der einzuvernehmenden Person ankommt».1
Das Urteil schuf in der Praxis einige Unklarheit, was für Diskussionsbedarf sorgte. Der Entscheid schien zu statuieren, dass bei Vieraugendelikten stets vor Gericht eine erneute Befragung der Opfer notwendig ist. Dies allerdings nur vordergründig, da auch der nachfolgende Freispruch des Obergerichts Zürich 2 vom Bundesgericht aufgehoben wurde. Das Bundesgericht hielt fest, die Nichtdurchführbarkeit einer notwendigen Opfer-Einvernahme müsse nicht zu einem Freispruch führen. Vielmehr seien dann die übrigen Beweise «besonders vorsichtig und zurückhaltend» zu würdigen.3
Nach der erneuten Rückweisung erfolgte trotz fehlender gerichtlicher Opferbefragung aufgrund der übrigen Beweismittel (inklusive audiovisueller Befragung der Geschädigten vor Staatsanwaltschaft) ein Schuldspruch.4 Eine dagegen gerichtete Berufung der Verteidigung wies das Bundesgericht am 31. Januar 2024 ab.5 Der Schuldspruch ist damit rechtskräftig.
Die Entscheide stellten die Praxis vor gewichtige Fragen. Mit wie vielen Befragungen müssen Opfer rechnen? Welche Auswirkungen hat es auf die Aussagewilligkeit von Opfern, wenn sie damit rechnen müssen, Jahre nach dem Geschehenen vor Gericht erneut aussagen zu müssen? Solche und andere Fragen bewogen die Verfasserinnen dieses Beitrags erstmals anlässlich von Diskussionen im Rahmen des Runden Tisches Menschenhandel Zürich 2021, die Thematik der Opferbefragung unter Einbezug verschiedener Fachrichtungen zu beleuchten.6
Dabei wurden zwei Opfergruppen herausgegriffen: Einerseits Opfer von Menschenhandel und Prostitutionsförderung, auf deren Betreuung seit Jahren die FIZ Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration in Zürich spezialisiert ist, sowie andererseits Opfer von sexueller und häuslicher Gewalt, für welche die Opferberatungsstelle Frauenberatung sexuelle Gewalt in Zürich spezialisiert ist.
2. Aus der Sicht der Polizei
Häufig löst ein Ereignis – etwa häusliche Gewalt, Lärmklage, Hinweis aus der Bevölkerung – einen Polizeieinsatz aus, in dessen Verlauf die Einsatzkräfte vor Ort den Eindruck erhalten, dass die von den Beteiligten gemachten Aussagen nicht zu den eigenen Wahrnehmungen am Ereignisort passen und allenfalls mehr dahinterstecken könnte oder dass sich eine Person möglicherweise in einer Druck- oder Ausbeutungssituation befindet.
Bei häuslicher Gewalt können unter Umständen Schutzmassnahmen gemäss Gewaltschutzgesetz erfolgen.7 Bei Verdacht auf Menschenhandel wird im Kanton Zürich das Fachpikett Menschenhandel zur Unterstützung aufgeboten. Dieses führt in der Folge ein Erstgespräch durch, um zu prüfen, ob es sich bei der betroffenen Person um ein Opfer von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung oder der Ausbeutung der Arbeitskraft handeln könnte.
In der Schweiz trat am 1. April 2013 das Übereinkommen zur Bekämpfung des Menschenhandels in Kraft.8 Damit verpflichtete sich die Schweiz, Opfer von Menschenhandel zu identifizieren. Im Kanton Zürich erfolgt dies seitens der Polizei mit dem genannten Fachpikett. Damit die Polizei jemanden als Opfer identifizieren kann, ist allerdings mindestens eine kleine Offenlegung des Erlebten durch das Opfer gegenüber dem Fachpikett erforderlich. Das Erstgespräch 9 bedarf keiner Rechtsbelehrung, da es sich nicht um einen strafprozessualen Akt handelt.
Sofern die Person im Anschluss als Opfer von Menschenhandel identifiziert wird und aus der Ausbeutungssituation aussteigen möchte, wird sie an eine spezialisierte Opferberatungsstelle übergeben. Es wird ihr eine Erholungs- und Bedenkzeit gewährt.10 Abhängig vom psychischen Zustand der Person erklärt das Fachpikett anlässlich des Erstgesprächs oder zu einem anderen geeigneten Zeitpunkt während der Erholungs- und Bedenkzeit, wie ein Strafverfahren grundsätzlich abläuft.
Dem Opfer wird erklärt, dass es zuerst von Spezialistinnen und Spezialisten der Polizei befragt wird, später dann Einvernahmen durch die Staatsanwaltschaft stattfinden. Der Begriff «parteiöffentlich», der im Zusammenhang mit den Einvernahmen bei der Staatsanwaltschaft erläutert wird, löst jeweils Stress und Angst aus. Dem Opfer wird weiter erklärt, dass es allenfalls auch vor Gericht aussagen muss und dass die ganze Angelegenheit nicht in wenigen Wochen erledigt ist, sondern Monate oder viel eher Jahre dauern wird.
Mit diesem Vorgehen wird für die Opfer eine absolut notwendige Transparenz geschaffen, auch wenn es auf sie abschreckend wirken und ihre Aussagewilligkeit gefährden kann, was wiederum negative Folgen für die Rechtsverfolgung und die Wahrheitsfindung hat.
3. Aus der Sicht der Opferberatung
3.1 Frauenberatung sexuelle Gewalt
Zum Zeitpunkt einer erneuten Befragung vor Gericht haben Opfer meistens einen langen Weg hinter sich, auf dem sie im Rahmen des Strafverfahrens bei der Polizei und der Staatsanwaltschaft bereits mehrfach aussagen mussten. Viele beschreiben diesen Weg als sehr belastend, da sie dabei immer wieder mit der erlebten Gewalt konfrontiert werden.
Eine erneute Befragung vor Gericht löst bei den Opfern nicht nur einen grossen emotionalen Stress aus. Es besteht auch die Gefahr einer Retraumatisierung, die posttraumatische Symptome wie zum Beispiel Flashbacks, Albträume, Angstzustände, Konzentrations- und Schlafstörungen auslösen und die Verarbeitung des Erlebten beeinträchtigen kann.
Ein Strafverfahren verläuft oft asynchron zum individuellen therapeutischen Verarbeitungsprozess. Deshalb werden die Betroffenen bei einer erneuten Befragung in ihrem Prozess der Stabilisierung häufig stark zurückgeworfen und wieder an den Anfang der Gewaltgeschichte zurückkatapultiert. In der Beratung wird meist ersichtlich, dass Opfer kurz nach dem Ereignis in einer anderen psychischen Verfassung sind und ihnen das Geschehene viel präsenter ist als mehrere Jahre später, wenn sie das Erlebte in gewisser Weise verarbeitet und in ihre Lebensgeschichte integriert haben.
Opfer empfinden eine erneute Befragung vor Gericht häufig als Kontroll- und Vertrauensverlust. Bei den Betroffenen kann das Gefühl entstehen, dass die Behörden ihnen nicht glauben und sie nicht ernst nehmen, was Gefühle wie Ohnmacht, Scham und Schuld auslösen kann.
Da sie in dem oft mehrere Jahre dauernden Strafverfahren versuchen, in irgendeiner Weise wieder Stabilität zu finden und sich vom Erlebten so gut wie möglich zu distanzieren, befürchten sie, ihre Aussage bei einer erneuten Befragung nicht mehr gleich gut übermitteln zu können und dass deswegen ihre Glaubwürdigkeit in Frage gestellt wird. Viele berichten, dass sie sich gegen eine Strafanzeige entschieden hätten, wenn sie im Vorhinein gewusst hätten, wie belastend und lange der Prozess sein würde. Gewisse, wenn auch nur wenige, empfinden es als wichtig, nochmals angehört zu werden, damit sie sich nicht erneut zum Objekt degradiert fühlen und sich als Person aktiv einbringen und das ihnen angetane Unrecht nochmals erzählen können.
Eine erneute Befragung kann auch Auswirkungen auf die sozialen Beziehungen von Opfern haben. Da vom Zeitpunkt der Anzeige bis zur Befragung vor Obergericht oft Jahre vergangen sind, befinden sich Betroffene nicht mehr in derselben Lebenssituation. Dies kann dazu führen, dass sie beispielsweise neue Bekannte über die erlebte Gewalt informieren oder an einer neuen Arbeitsstelle Abwesenheiten rechtfertigen müssen. Damit werden sie in ihrem Alltag erneut mit dem Geschehenen konfrontiert.
Im Weiteren kann eine erneute Befragung auch finanzielle Konsequenzen haben, wenn sich zum Beispiel ihre finanzielle Situation verbessert hat und sie für das Verfahren vor dem Obergericht keine unentgeltliche Rechtspflege mehr erhalten. Die Situation hat sich mit dem neuen Artikel 136 Absatz 3 StPO, in Kraft seit Anfang Jahr, gar noch verschärft. Denn nun muss das Opfer die unentgeltliche Rechtspflege im Rechtsmittelverfahren neu beantragen.
3.2 FIZ Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration
Betroffene von Menschenhandel erleben während der Ausbeutung schwerwiegende Kontroll- und Zwangsmechanismen, werden fremdgesteuert und -bestimmt, leiden unter langanhaltender physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt und werden oft auch nach ihrem Ausstieg aus der Ausbeutungssituation von den meist gut vernetzten Menschenhändlern beziehungsweise Menschenhändlerinnen bedroht. Sie leben weiterhin in ständiger Angst um ihre Sicherheit, gerade auch bei einer allfälligen Beteiligung an einem Strafverfahren.11
Insbesondere zum Zeitpunkt der erneuten Befragung vor Gericht verschärft sich oft das Bedrohungs- und Gefährdungsrisiko des Opfers, da es zugleich zentraler Beweisträger und Zeuge ist. Eng mit den Sicherheitsfragen, die sich dann erneut stellen, ist auch der Aufenthaltsort der betroffenen Person verbunden. Opfer aus dem Ausland haben das Recht auf vorübergehenden Verbleib in der Schweiz während des Strafverfahrens, sofern es für das Gerichtsverfahren «erforderlich» ist.12
Einige müssen oder wollen trotz laufendem Strafverfahren die Schweiz verlassen. Sie müssen dann gezielt für die Einvernahmen beziehungsweise Gerichtsverhandlungen wieder in die Schweiz reisen. Konkret reisen sie nur für wenige Tage in die Schweiz und werden befragt. Während dieser Tage werden sie erneut mit ihrer Ausbeutungsgeschichte konfrontiert und müssen über ihre Gewalterfahrungen berichten. Alles, was sie bis dahin verarbeitet haben, kann wieder hochkommen und zu einer Retraumatisierung führen. Alles, was sie an Stabilität aufgebaut haben, steht potenziell auf dem Spiel.
In diesem kritischen Zustand kehren sie nach der erneuten Befragung umgehend ins Herkunftsland zurück, wo sie oft keinen spezialisierten Opferschutz oder ähnliche Unterstützung vorfinden. Im schlimmsten Fall – und das kommt immer wieder vor – werden sie bei ihrer Rückkehr erneut von der Täterschaft heimgesucht, bedroht oder ausgebeutet.
Ordnen Gerichte eine erneute Befragung an, haben sie im Rahmen des Opferschutzes dafür zu sorgen, dass die ausreichende Betreuung und Sicherheit des Opfers vor, während und nach dem Aufenthalt sichergestellt ist. Dazu gehört ebenfalls eine umfassende Gefährdungsabklärung vor einer allfälligen Rückkehr ins Herkunftsland.
Die Verfahrenspraxis mit erneuter gerichtlicher Opferbefragung verhindert allzu oft, dass Menschenhandelopfer ihr Leben und ihren Alltag wieder aufnehmen können – ob in der Schweiz oder im Herkunftsland. Die Belastung durch das oft mehrjährige Strafverfahren in Verbindung mit den komplexen Folgen der Ausbeutung macht gerade die Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu einer grossen Herausforderung. Oft ist sie von Krisen und Rückschlägen geprägt.
Die Ausbeutung hat für die betroffenen Personen sozial, finanziell und strukturell langanhaltende Konsequenzen, und entsprechend brauchen sie langfristige Sicherheit für sich und ihre Familie. Die Perspektive auf ein Leben nach der Ausbeutung und als selbstbestimmter Mensch – in der Schweiz oder im Herkunftsland – wird durch die zuweilen verbreitete Verfahrenspraxis stark erschwert oder gar zunichtegemacht.
3.3 Zwei Fallbeispiele
Opferbefragungen vor Gericht können dazu führen, dass Opfer ihre stabilisierte Lebensführung vollumfänglich verlieren. Zudem können weitere existenzielle Probleme auftauchen. Dazu zwei Beispiele:
Dora C. erlebte sexuelle Nötigung und erstattete noch am selben Tag Anzeige. Sie war durch die erlittene Gewalt traumatisiert und musste in einer psychiatrischen Klinik stationär behandelt werden, bis sie wieder allein in ihrer Wohnung leben konnte. Dora hatte Angst, nachts aus dem Haus zu gehen, und konnte deshalb nicht mehr in Nachtschicht arbeiten, weshalb sie ihre Stelle verlor.
Trotz Therapie und Medikamenten war sie längere Zeit krank. Etwa fünf Monate nach dem Ereignis fand die Befragung bei der Staatsanwältin statt. Es ging Dora den ganzen Monat vorher nicht gut, weil sie sich wieder mit dem traumatischen Erlebnis befassen musste. Während der Einvernahme erlitt sie Flashbacks und Panikattacken und musste den Raum verlassen, um sich zu übergeben. Danach war Dora noch intensiver in Therapie. Sie konnte sich stabilisieren und begann, eine Stelle zu suchen.
Mehr als ein Jahr nach der Tat musste Dora wieder für eine Befragung vor Gericht erscheinen. Bereits Wochen vor dem Termin hatte sie Panikattacken. Sie konnte aus Angst nicht mehr allein in ihrer Wohnung sein, hatte Flashbacks und Suizidgedanken, weil sie es nicht ertragen konnte, sich nochmals mit dem Erlebten zu konfrontieren.
Aus Angst, Fragen nicht beantworten zu können und dass man ihr deshalb nicht glauben würde, versuchte sie trotzdem, sich an das Geschehene zu erinnern. Plötzlich waren nicht nur die Erinnerungen zurück, sondern auch die Gefühle wie an jenem Tag. Bei der Einvernahme hatte sie wieder Panikattacken. Sie zitterte am ganzen Körper, weinte und war dissoziiert. Gut zwei Jahre nach der Tat ist Dora mit einem 60-Prozent-Pensum in den Arbeitsmarkt integriert und geht weiterhin regelmässig in die Therapie.
Sofia H. war vor vielen Jahren ein Opfer von Menschenhandel. Die Polizei brachte sie in eine Schutzunterkunft. Dort konnte sie sich rasch stabilisieren. Sofia verfügte über gute Deutschkenntnisse und über Arbeitserfahrungen im Heimatland. Sie fand eine existenzsichernde Arbeit und eine kleine Wohnung, konnte sich von der Sozialhilfe lösen und erhielt eine Aufenthaltsbewilligung als Arbeitnehmerin. Sofia ging es gut in dieser Zeit. Sie arbeitete etwa drei Jahre, als die Einladung für die erneute Befragung eintraf. Dies führte zu einem völligen Zusammenbruch.
Sie verlor den Job, konnte die Miete nicht mehr bezahlen und wurde obdachlos. Der Bezug von Sozialhilfeleistungen kann ausländerrechtliche Konsequenzen haben. Sowohl die Höhe der bezogenen Sozialhilfeleistungen als auch der Stand der Integrationsbemühungen werden zum Zeitpunkt der Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung von der zuständigen Behörde abgefragt und können einen Entscheid beeinflussen. Zudem kann eine Bewilligung nur dann verlängert werden, wenn die betroffene Person über einen Wohnsitz in der Schweiz verfügt. Sofia H. wurde aufgrund des Wohnungsverlusts durch das Migrationsamt abgemeldet und konnte ihre Aufenthaltsbewilligung nicht mehr verlängern.
4. Aus der Sicht der Staatsanwaltschaft
Parteiöffentliche Einvernahmen von Opfern von Menschenhandel werden im Kanton Zürich standardgemäss audiovisuell aufgezeichnet. Eine audiovisuelle Direktübertragung anlässlich einer solchen Einvernahme bedeutet für das Opfer, in einer ihm unbekannten Umgebung einer fremden Person intimste Details zu berichten, und dies im Wissen, dass dabei die von ihm beschuldigte Person stets zuschaut.13
Einvernahmen von Opfern von Menschenhandel bedürfen auf Seite der Staatsanwaltschaft neben einem vertieften Wissen über den Tatbestand und die Charakteristika des Phänomens viel Zeit.14 Während der Einvernahme zeigt sich, insbesondere bei ausländischen Opfern, dass anfänglich ein Autoritätsglaube in Bezug auf die Institution Staatsanwaltschaft bestehen kann, der neben der psychischen Belastung bewirkt, dass ein Opfer sich verschliesst und anfänglich meist nur kurze Antworten gibt. Es kann zum Beispiel vorkommen, dass ein Opfer am Nachmittag des gleichen Tages ganz anders aussagt als am Vormittag, weil es erst dann richtig «angekommen» ist.
Fragen wie beispielsweise, ob es ungeschützten Sexualkontakt angeboten hat, oder auch Fragen zu Herkunft, Armut und Verhältnis zur Familie sind in Menschenhandelverfahren entscheidend. Scham, Angst und Schutzmechanismen in Bezug auf die eigene Familie können bei mangelndem Vertrauen anfänglich oft zu Verharmlosungstendenzen bei solchen Fragen führen. Nur sorgfältiges Befragen und vor allem Zeit, sich – allenfalls mehrmals – an solche Fragen herantasten zu können, ergeben Antworten, die dem entsprechen, was das Opfer eigentlich sagen möchte.
Für eine erneute Einvernahme vor Gericht sind üblicherweise nicht ganze Tage vorgesehen, das Opfer kommt gar nie richtig in der Befragungssituation an. Es besteht daher die Gefahr, dass nur partielle, kurze, nicht kontextualisierte Antworten auf gewisse Fragen gegeben werden können, die im Widerspruch zu den bereits gegebenen Antworten stehen und die Glaubwürdigkeit des Opfers untergraben. So gab ein Opfer von Menschenhandel vor erster Instanz vier Jahre nach den staatsanwaltschaftlichen Einvernahmen auf die Frage, wie es aufgewachsen sei, «normal» zur Antwort.
Dies stand im Kontrast zu den Aussagen bei der Staatsanwaltschaft, wo es an zahlreichen Einvernahmen über mehrere Fragen hinweg Vernachlässigung, Armut und Alkoholsucht der Eltern geltend machte. Erst ein Nachfragen der Staatsanwaltschaft zeigte den Kontext erneut auf, nämlich, dass «normal» nicht gut bedeutete, sondern «so, wie es eben damals den Eltern möglich war».
Auch eine Aufforderung am Anfang einer Einvernahme zum freien Bericht15 führt in Einvernahmen mit Opfern von Menschenhandel nicht zu ausreichend Aussagematerial, das gewürdigt werden könnte. Im Unterschied zur Schilderung eines einmaligen Sexualdelikts, das in Bezug auf Zeit und Ort ein abgetrenntes Momentum darstellt, ist dem Opfer von Menschenhandel meist unklar, was überhaupt «frei» zu erzählen und relevant ist. Manchmal kann die Stressbelastung in der Befragungssituation erst nach ein paar Stunden oder am zweiten Einvernahmetag so reduziert werden, dass die Abrufleistung erhöht werden kann. Erst dann kann ein Opfer länger frei berichten.
Die Staatsanwaltschaft muss daher im Einklang mit der Methodik der Opferbefragung den Rahmen und die zeitlichen Ressourcen dafür schaffen, dass sich ein Opfer überhaupt konsistent und logisch zur Sache äussern kann.16 Gute Ton- und Bildqualität der Aufzeichnung verstehen sich von selbst.17 Solche in allen Belangen dem «state of the art» entsprechenden aufgezeichneten parteiöffentlichen Einvernahmen sollten es ermöglichen, dem Gericht ein umfassendes Bild von der Glaubwürdigkeit des Opfers respektive der Glaubhaftigkeit der Aussagen zu verschaffen und eine nochmalige Befragung durch das Gericht – insbesondere wenn weitere Sachbeweise vorliegen – möglichst zu verhindern. Dabei dient die Aufnahme nicht in erster Linie dazu, die Mimik und Gestik zu sehen.18
Entgegen landläufiger Annahmen geben Mimik und Gestik erwiesenermassen keine brauchbaren Hinweise auf den Wahrheitsgehalt einer konkreten Aussage.19 Vielmehr geht es darum, zu sehen und Transparenz darüber herzustellen, wie die Aussage entstanden ist, sofern dies nicht ohnehin bereits aus dem Protokoll hervorgeht. Zum Beispiel wie es mit der Übersetzung lief, wie oft Fragen wiederholt und vereinfacht werden mussten. Auch das Ringen der meisten Opfer um eine Aussage, die Überwindung von Scham und die nachvollziehbare Bereinigung von vermeintlichen Widersprüchen können ersichtlich und von Bedeutung sein.
5. Aus der Sicht der Opfervertretung
Gerichtliche Befragungen sind für die Opfer oft stark traumatisierend und können verheerende Auswirkungen auf die bisher erreichte Stabilisierung haben. Die zum Teil grosse zeitliche Distanz zu den Delikten erschwert die Verarbeitung. Die Einvernahme durch wiederum fremde Personen bei einer einmaligen Befragung schafft eine erhebliche Drucksituation. Diese Auswirkungen sind – das fordert schon Artikel 152 der Strafprozessordnung (StPO) – bei der Prüfung, ob eine erneute Opferbefragung vor Gericht und damit eine gerichtliche Beweismittelerhebung notwendig ist, einzubeziehen.
Gerichtliche Beweiserhebungen bilden gemäss StPO die Ausnahme. Abgesehen von der obligatorischen gerichtlichen Befragung des Beschuldigten findet die Beweiserhebung grundsätzlich im Vorverfahren statt. Vorbehalten sind neue sowie unvollständig oder nicht ordnungsgemäss erhobene Beweise laut Artikel 343 Absatz 1 und 2 StPO. Ordnungsgemäss erhobene Beweise – und um diese geht es im vorliegenden Artikel – sind hingegen nur ausnahmsweise, nämlich einzig dann nochmals zu erheben, wenn «die unmittelbare Kenntnis des Beweismittels für die Urteilsfällung notwendig erscheint» (Artikel 343 Absatz 3 StPO).20
Das ist der Fall, wenn die betreffende Beweisabnahme den Ausgang des Verfahrens beeinflussen kann.21 Gemäss Bundesgericht trifft dies besonders bei «Aussage gegen Aussage»-Konstellationen zu. Dabei gilt aber: «Allein der Inhalt der Aussage einer Person (was sie sagt), lässt eine erneute Beweisabnahme nicht notwendig erscheinen. Massgebend ist, ob das Urteil in entscheidender Weise von deren Aussageverhalten (wie sie es sagt) abhängt.»22
Ginge es um das «Was», wäre nicht Artikel 343 Absatz 3 StPO, sondern Artikel 343 Absatz 1 beziehungsweise Artikel 389 Absatz 2b StPO anwendbar, wonach eine erneute Befragung bei unvollständig erhobenen Beweisen zu erfolgen hat. Dass unvollständige Beweise vom Gericht zu ergänzen sind, gilt in sämtlichen Fällen, nicht bloss bei den Vieraugendelikten. Nicht zuletzt die Vermischung dieser beiden Bestimmungen im Bundesgerichtsurteil 6B_1087/2019 vom 17. Februar 2021 hat bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten zu Verunsicherung geführt.23
Oft wurde fälschlicherweise der Schluss gezogen, das Bundesgericht fordere bei einem Vieraugendelikt zwingend eine gerichtliche Opferbefragung. Aus dem Folgeentscheid 6B_1129/2021 vom 3. Oktober 2022 geht jedoch hervor, dass bei Unmöglichkeit (zum Beispiel bei Unauffindbarkeit des Opfers) auf eine erneute Befragung des Opfers verzichtet werden kann, wenn der Sachverhalt auch bei besonders vorsichtiger und zurückhaltender Beweiswürdigung erwiesen ist.24 Ist aber bei dieser besonders vorsichtigen Beweiswürdigung der Sachverhalt erwiesen, muss sich im Umkehrschluss eine Opferbefragung auch in jenen Fällen erübrigen, in denen das Opfer auffindbar ist und seine Befragung möglich wäre. Denn alles andere liesse sich mit Blick auf die massiven Auswirkungen solcher Befragungen auf die Opfer nicht rechtfertigen.
In Bezug auf vor der Staatsanwaltschaft ordnungsgemäss erhobene Beweise gilt somit:
- Zumindest, wenn das Opfer den Antrag stellt, auf eine weitere Befragung sei zu verzichten,25 hat eine gerichtliche Beweiserhebung gemäss Artikel 343 Absatz 3 StPO nur ausnahmsweise zu erfolgen.
- Bei der Beurteilung der Notwendigkeit einer erneuten Opferbefragung steht den Gerichten ein Ermessen zu.26 Dieses ist unter Berücksichtigung der Persönlichkeitsrechte des Opfers auszuüben.
- Liegen audiovisuelle Aufnahmen der staatsanwaltlichen Einvernahmen vor,27 kann sich das Gericht (auch das erstinstanzliche) ein Bild vom Aussageverhalten des Opfers anhand der audiovisuellen Aufnahmen machen. Damit erübrigt sich – zumindest bei genügender Bild- und Tonqualität – auch gemäss dem Urteil des Bundesgerichts 6B_1087/2019 vom 17. Februar 2021 für das «Wie» eine erneute Befragung vor Gericht.
Das Gericht hat die audiovisuellen Aufnahmen zu prüfen, bevor es über die Notwendigkeit einer Opferbefragung entscheidet. Ist nicht klar, ob dies nötig ist, ist zunächst auf eine Befragung zu verzichten. Dies gilt erst recht vor der zweiten Instanz.28 Es geht weder unter dem Aspekt von Artikel 152 StPO noch gemäss dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz von Artikel 5 Absatz 2 BV an, «auf Vorrat» Opferrechte zu verletzen und zu gefährden.
Sollte sich im Verlauf der Verhandlung wider Erwarten die Notwendigkeit einer erneuten Opferbefragung zeigen, kann und muss das Gericht von Amtes wegen 29 zu einem späteren Zeitpunkt, ja sogar noch während der Urteilsberatung (Artikel 349 StPO)30 Beweisergänzungen veranlassen.31 Vorschnell die Notwendigkeit einer erneuten Opferbefragung zu bejahen, gefährdet die Opfer und schadet einer effektiven Wahrheitsfindung.
6. Fazit: Erneute Befragung restriktiv anordnen
Die vorstehenden Beiträge der verschiedensten Stellen, mit denen die Opfer im Laufe des Strafverfahrens in Kontakt kommen, zeigen in eindrücklicher Weise, welch enormen psychischen Belastungen diese dabei ausgesetzt sind und wie gross die Gefahr einer erneuten Retraumatisierung ist, wenn die Opfer nach Abschluss der Strafuntersuchung oftmals Monate oder gar Jahre später nochmals vor Gericht erscheinen und aussagen müssen. Die Vulnerabilität der Opfer ist dann besonders hoch. Entsprechend gross ist der Bedarf an Massnahmen zum anhaltenden Schutz und zur nachhaltigen Stabilisierung ihres bis dahin erreichten Zustands.
Die einseitige und verkürzte Auslegung des Bundesgerichtsurteils vom 17. Februar 2021 führte zu einer Praxis, welche in vielen Fällen langanhaltende und schwerwiegende negative Konsequenzen für die Situation von Opfern zeitigt, insbesondere was deren Bedürfnisse nach mehr Stabilität und Sicherheit betrifft.32 Trotz der Relativierung im Folgeentscheid 6B_1129/2021 vom 3. Oktober 2022 schenkt die aktuelle Gerichtspraxis diesen Umständen leider wenig Beachtung. Meist wird vollkommen ausser Acht gelassen, dass die langfristige Gesundheit und Integrität der Opfer mit auf dem Spiel steht.
Es ist daher dringend zu fordern, dass der speziellen Situation der Opfer und deren Belastungen in jedem Stadium des Strafverfahrens besser Rechnung getragen wird. Eine erneute Befragung der Opfer sollte immer sehr sorgfältig und einzelfallweise geprüft und nur restriktiv angeordnet werden. Liegen audiovisuelle Aufnahmen der Opferbefragungen vor, reichen sie in den weitaus meisten Fällen dafür aus, dass sich das Gericht ein eigenes Bild vom Aussageverhalten des Opfers machen kann. Diese Aufnahmen haben den grossen Vorteil der grösseren zeitlichen Nähe zum Tatgeschehen. Aufgrund der Tatsache, dass Opferbefragungen stark in die Persönlichkeitsrechte des Opfers eingreifen, ist immer auch dessen mögliche Gefährdung und Retraumatisierung zu prüfen und zu berücksichtigen. Nur so kann eine effektive Wahrung der Opferrechte erfolgen.
Nina Lanzi, Sozialwissenschafterin, Zürich
Runa Meier, Staatsanwältin, Zürich
Regula Müller, Rechtsanwältin, Zürich
Lina Rasheed, Opferberaterin, Zürich
Claudia Schaumann, Rechtsanwältin, Zürich
Riccarda Uster, Kantonspolizistin, Zürich
Anna Weber, Psychologin, Zürich
Talitha Widmer, Psychologin, Zürich
Fussnoten siehe PDF.