1. Geschäftslast
1.1 Entlastung als Ziel der Bundesrechtspflege-Reform
In den zehn Jahren vor dem Inkrafttreten des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005 (BGG) auf Anfang 2007 oszillierten die Eingänge von Streitsachen beim Bundesgericht zwischen jährlich 4500 und 5500 Fällen; im Jahr 2006, unmittelbar vor dem Inkrafttreten, wurden 5210 Eingänge verzeichnet. Beim Eidgenössischen Versicherungsgericht (EVG) gingen erstmals in Friedenszeiten im Jahr 1997 über 2000 Streitsachen ein, und im Jahr vor dem Inkrafttreten des BGG wurden bereits 2650 Eingänge verzeichnet. Angesichts dieser quantitativ hohen und immer noch steigenden Belastung der obersten Gerichte war die wirksame und nachhaltige Entlastung des aus der Fusion von Bundesgericht und EVG hervorgegangenen Bundesgerichts und damit die Erhaltung seiner Funktionsfähigkeit ein vordringliches Ziel der Totalrevision der Bundesrechtspflege.
Die gesetzgeberischen Massnahmen sollten die Eingänge von Streitsachen vermindern, die Bearbeitung der eingegangenen Streitsachen vereinfachen und die Richterinnen und Richter von administrativen Aufgaben entlasten. Eine entlastende Wirkung wurde insbesondere von folgenden Massnahmen erwartet: Einschränkung der Kognition und Kostenpflicht im Sozialversicherungsrecht, Streitwertgrenzen, erweiterte Möglichkeit zu Entscheiden im vereinfachten Verfahren, Schaffung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesstrafgerichts, Anforderungen an die Vorinstanzen, Einheitsbeschwerde, Reorganisation innerhalb des Bundesgerichts durch Stärkung der Verwaltungskommission und Teilintegration des EVG. An dieser Stelle ist aber auch zu vermerken, dass das Parlament – entgegen dem damaligen Willen von Bundesgericht und EVG – die Richterzahl am vereinigten Bundesgericht von 41 auf 38 reduzierte.
1.2 Insgesamt weiterhin hohe Belastung
Die Evaluation der Bundesrechtspflege gelangte zum Ergebnis, dass das Entlastungsziel erreicht wurde, indem sich die Belastung der Bundesrichterinnen und -richter ab 2008 bis zum Abschluss der empirischen Arbeiten im Jahr 2011, gemessen an der Zahl der Fälle pro Richterperson, reduziert hat, wenn auch unter der Zehnprozentgrenze. Der Bundesrat stellte in seinem Bericht über die Gesamtergebnisse der Evaluation der Bundesrechtspflege vom 30. Oktober 2013 deshalb fest, dass die Totalrevision eine Entlastung bewirkt hat, konstatierte aber auch, dass andere gesetzgeberische Entscheide zu einer neuerlichen Belastung geführt haben und das Bundesgericht seit 2008 wieder mit zunehmenden Eingängen konfrontiert ist.
Unter Berücksichtigung der seit dem Abschluss der empirischen Untersuchung, bis 2014, erfolgten Entwicklung muss festgestellt werden, dass das Reformziel, nur von der Zahl der Eingänge von Streitsachen her betrachtet, in den ersten acht Jahren seit dem Inkrafttreten des BGG nicht erreicht wurde: Nachdem die beiden obersten Gerichte 2006 insgesamt 7860 Eingänge verzeichnet hatten, sanken sie zwischen 2007 und 2009 auf unter 7200. Seither nehmen sie wieder zu, von 7366 im Jahr 2010, 7418 (2011), 7875 (2012), 7918 (2013) auf 7702 im Jahr 2014. Der Quotient von Eingängen und Anzahl Richterpersonen ist damit höher als vor dem Inkrafttreten des BGG. Eine Entlastung wurde aber erreicht durch die Massnahmen, welche die Fallbearbeitung vereinfachen und die Richterinnen und Richter von administrativen Massnahmen entlasten. Besonders ins Gewicht fällt die Möglichkeit des einzelrichterlichen Nichteintretens auf offensichtlich unzulässige und auf offensichtlich ungenügend begründete Beschwerden, was den Richterinnen und Richtern mehr Zeit für die Bearbeitung derjenigen Fälle lässt, in denen auf die Beschwerde eingetreten wird.
1.3 Entlastung der sozialrechtlichen Abteilungen
Betrachtet man nur die Eingänge bei den beiden sozialrechtlichen Abteilungen des Bundesgerichts am Standort Luzern, ist seit dem Inkrafttreten des BGG ein deutlicher Rückgang der Eingänge zu verzeichnen, indem sie zwischen 2214 im Jahr 2009 und 1905 im Jahr 2013 oszillierten, dies bei sinkender Tendenz. Darin eingeschlossen sind die Eingänge in den Materien, die erst nach dem Inkrafttreten des BGG in die Zuständigkeit der Luzerner Abteilungen gefallen sind (kantonale Sozialversicherung, Sozialhilfe, Aufsicht über die berufliche Vorsorge, öffentliches Personalrecht).
Dass im Sozialrecht ein grösserer Rückgang zu verzeichnen ist, dürfte auf die Abschaffung einiger Besonderheiten, die unter dem Bundesrechtspflegegesetz vom 16. Dezember 1943 (OG) für den Bereich des Bundessozialversicherungsrechts galten, zurückzuführen sein. So dürfte die Ablösung der Kostenfreiheit im Beschwerdeverfahren über die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen durch die generelle, aber moderate Kostenpflicht – mit entsprechender Vorschusspflicht, aber selbstverständlich mit der Möglichkeit der unentgeltlichen Rechtspflege bei Bedürftigkeit und Nicht-Aussichtslosigkeit – insbesondere nicht vertretene Parteien veranlassen, sich eine Beschwerdeerhebung gut zu überlegen (oder den verlangten Kostenvorschuss nicht zu bezahlen).
Die Überprüfung des vorinstanzlich festgestellten Sachverhalts, ausser bei Beschwerden betreffend Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung, nur noch auf Rechtsverletzung (eingeschränkte Kognition) anstelle der fehlenden Bindung des EVG an die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung in Streitigkeiten um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen (volle Kognition) vermindert die Erfolgsaussichten einer Beschwerdeführung. Gleiches gilt hinsichtlich der eingeschränkten Prüfung der vorinstanzlichen Ermessensausübung.
Schliesslich änderten die sozialrechtlichen Abteilungen des Bundesgerichts die Rechtsprechung des EVG betreffend Anfechtbarkeit von Zwischenentscheiden (z.B. Rückweisung an die Verwaltung zu neuem Entscheid), indem diese grundsätzlich nur noch angefochten werden können, wenn sie einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil verursachen. Im Übrigen kann auch eine materielle Rechtsprechungsänderung die Wahrscheinlichkeit eines Weiterzugs beeinflussen. So dürfte der nach 2010 beobachtete Rückgang der Eingänge im Bereich des Unfallversicherungsrechts – für dessen Leistungsstreitigkeiten weiterhin die volle Kognition gilt – wohl weniger auf das Inkrafttreten des BGG als auf die Verschärfung der Rechtsprechung in BGE 136 V 279 (Anwendung der somatoformen Schmerzstörungs-Praxis auf Schleudertraumen) zurückzuführen sein.
1.4 Fazit
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass das BGG eine gewisse Entlastung bewirkt hat, dass das Bundesgericht aber immer noch auf hohem Niveau belastet ist (zur Fehlbelastung s. Ziff. 4 nachstehend).
2. Qualität der Rechtsprechung
2.1 Rahmenbedingungen der Rechtsprechungsqualität
Man darf wohl sagen, dass die Gerichte in der Schweiz im Rahmen von Verfassung und Gesetzen und unter Berücksichtigung ihrer Ressourcen um eine qualitativ hochstehende Rechtsprechung ringen. Neben dem Einsatz der am einzelnen Urteil beteiligten Personen sind eine optimale Gerichtsorganisation, die Anstellung und Führung kompetenter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Zurverfügungstellung der nötigen Infrastruktur und Dienste, die Weiterbildung und die Verständigung auf Grundsätze der Urteilsredaktion unabdingbar.
Die Gerichte allein vermögen aber eine qualitativ hochstehende Rechtsprechung nicht zu gewährleisten. Vielmehr sind die Gesetzgeber aller Stufen aufgerufen, die Organisation und die Abläufe der Gerichte im Sinne eines angemessenen Rechtsschutzes zu normieren und der Justiz die hiezu erforderlichen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Die zuständigen Organe haben auf die Wahl qualifizierter Richterinnen und Richter zu achten.
In jüngerer Zeit befassen sich auch Forschungsprojekte mit der Frage, wie die Qualität der Rechtsprechung verbessert werden kann. Auf schweizerischer Ebene steht ein vom Schweizerischen Nationalfonds gefördertes, interdisziplinäres Forschungsprojekt kurz vor dem Abschluss. Dem Projekt liegt die Frage zugrunde, wie die Justizorganisation optimal auszugestalten sei, um die Rechtsprechung nachhaltig zu gewährleisten.
2.2 Urteilsqualität
Für die Qualität der Urteile gibt es keine allgemein gültige Definition; sie soll hier auch nicht versucht werden. Als Mindestanforderung haben die Urteile den Vorschriften der Verfassung und der jeweils anwendbaren Prozessgesetze zu genügen. Im Vordergrund stehen der Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung – im Wesentlichen gleiche Fälle sind gleich zu entscheiden und zu begründen – sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist und der Anspruch auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 BV. Es kann auf die reichhaltige bundesgerichtliche Rechtsprechung verwiesen werden.
Für den Urteilsspruch ist es nicht einfach, weitergehende formelle Qualitätsanforderungen zu formulieren, zumal die Kritik an der Qualität des Urteilsspruchs in eine inhaltliche Kritik des Gerichtsentscheides mündet. Gradmesser für die Qualität mag sein, dass ein dagegen erhobenes Rechtsmittel von den oberen Instanzen abgewiesen wird, dass sich die oberen Instanzen nicht in einem obiter dictum kritisch zum angefochtenen Entscheid äussern, dass eine formelle Revision abgelehnt wird und dass sich die urteilende Gerichtsinstanz nicht selbst in einem späteren Verfahren vom fraglichen Entscheid distanziert. Im Übrigen kann die Qualität eines Urteilsspruchs am ehesten aufgrund der Qualität seiner Begründung eingeschätzt werden – wobei allerdings festzuhalten ist, dass auch ein mangelhaft begründetes Urteil richtig sein kann, nämlich dann, wenn eine qualitativ hochstehende Begründung zum gleichen Ergebnis führen würde.
Die Qualität der Urteilsbegründung beurteilt sich danach, ob es ihr gelingt, dem Adressatenkreis zu erklären, weshalb das Gericht so und nicht anders entscheidet.15 In der Literatur werden etwa genannt: Stringenz (im Sinne von Knappheit), Distanz und Sachlichkeit, inhaltliche und sprachliche Verständlichkeit, Sorgfalt und Bestimmtheit in der Darstellung des Sachverhalts, auf die Streitentscheidung fokussierte Rechtserörterungen, Regelhaftigkeit und Einbettung des Urteils in das soziale Umfeld.
Die schweizerischen Gerichte lösen ihre Aufgabe der guten Urteilsbegründung sehr unterschiedlich; es finden sich fallunabhängig Unterschiede bezüglich der Darstellung von Sachverhalt und Prozessgeschichte und der rechtlichen Begründungstiefe und -dichte, der Wiedergabe der Minderheitsmeinung einzelner Mitglieder des Spruchkörpers, der Erwähnung von obiter dicta etc. Erfahrungsgemäss haben nicht nur die einzelnen Gerichte, sondern auch die an der Urteilsfällung und -redaktion Beteiligten in einem gewissen Rahmen unterschiedliche Auffassungen über die Qualität von Urteilen. Urteilsbegründungen stellen zudem nicht selten einen Kompromiss der Mitglieder des Spruchkörpers dar. Auch im internationalen Vergleich zeigen sich unterschiedliche Kulturen von Urteilsbegründungen.
2.3 Urteilsqualität in jüngerer Zeit kaum verändert
Mosimann weist darauf hin, dass Urteile erst seit der Aufklärung überhaupt begründet werden müssen. Vom aufgeklärten Standpunkt aus kann nur Geltung beanspruchen, was vor der Vernunft bestehen kann. Mit der Pflicht, ihre Urteile gegenüber den Parteien, oberen Gerichten und der Öffentlichkeit zu begründen, sollte die Macht der Justiz als unabhängige Gewalt begrenzt werden.
Soweit ersichtlich, fehlt es an einer Untersuchung über Änderungen der bundesgerichtlichen Urteilsbegründungspraxis über einen grösseren Zeitraum; sie kann auch im Rahmen dieses Beitrags nicht geleistet werden. Eine solche Untersuchung wäre schon deshalb schwierig, weil die Gesamtheit der Bundesgerichtsurteile erst seit dem Jahr 2007 (ein grosser Teil immerhin seit 2000) – im Internet – und ein Teil der in der Amtlichen Sammlung der BGE veröffentlichten Urteile nur auszugsweise veröffentlicht sind.
Im Rahmen der Evaluation der neuen Bundesrechtspflege wurde auch der Frage nachgegangen, ob sich die Qualität der Urteile seit dem Inkrafttreten des BGG geändert habe, war doch die wirksame und nachhaltige Entlastung des Bundesgerichts und damit die Erhaltung seiner Funktionsfähigkeit eines der Reformziele.
Zu diesem Zweck wurden die Mitarbeitenden der Eidgenössischen Gerichte und die Anwaltschaft befragt. Nach Auffassung von gut 20 Prozent der Richterschaft am Bundesgericht hat sich die Qualität der Rechtsprechung des Bundesgerichts – sowohl der publizierten wie auch der nicht publizierten Urteile – verbessert, während zwei Drittel der Auffassung sind, sie sei gleich geblieben. Gut die Hälfte der Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreiber am Bundesgericht sieht keinen Unterschied, während 17 Prozent eine Abnahme erblicken, da sich das Bundesgericht verstärkt mit formellen Fehlern und weniger mit der Durchsetzung materiellen Rechts beschäftige und verstärkt versucht werde, Einzelfälle pragmatisch und schnell zu lösen, statt die Tragweite eines Urteils für die Rechtsprechung sorgfältig abzuwägen.
Die Anwaltschaft beurteilt die Qualität der bundesgerichtlichen Urteile kritischer: Insgesamt erblicken 7 Prozent eine Verschlechterung bei den amtlich und 16 Prozent bei den nicht amtlich publizierten Urteilen. Fast 40 Prozent der Anwaltschaft beobachten eine Abnahme der Prozessdauer des gesamten Instanzenzugs. Dafür wird die Möglichkeit für Entscheide im vereinfachten Verfahren verantwortlich gemacht, was wiederum eine Gefährdung der Qualität befürchten lasse. Die Einführung des doppelten Instanzenzuges wird als Ursache für die Verfahrensverlängerung genannt.
Zusätzlich zu den Befragungen haben Experten und Expertinnen in den einzelnen Rechtsgebieten Bundesgerichtsurteile daraufhin analysiert, ob und in welchem Umfang sich die Revision der Bundesrechtspflege in der Rechtsprechung des Bundesgerichts niedergeschlagen habe. Bezüglich der Qualitätskriterien Lückenlosigkeit, Präzision, Widerspruchsfreiheit, Verständlichkeit, Tonalität, Strukturierung, Referenzierung und Umfang konnten nur geringe Unterschiede festgestellt werden. Im Sozialversicherungsrecht hat die Urteilslänge etwas abgenommen. Insgesamt haben sich die Begründungsdichte und die Nachvollziehbarkeit kaum verändert.
Auch nach Auffassung der Autorin hat sich die Qualität der bundesgerichtlichen Urteilsbegründungen mit dem Inkrafttreten des BGG nicht geändert. Angesichts der geringen Entlastung kann dies nicht überraschen. Im Sozialrecht sind Veränderungen der Urteilsbegründungen zwar offensichtlich. Diese rühren aber zur Hauptsache von den Gesetzesänderungen – insbesondere der Einschränkung der Sachverhaltsprüfung und der Möglichkeit des einzelrichterlichen Nichteintretens auf offensichtlich ungenügend begründete Beschwerden – her.
Im Zusammenhang mit der Kognitionseinschränkung beschränken sich die sozialrechtlichen Abteilungen wie die andern Abteilungen grundsätzlich auf die Prüfung der geltend gemachten Rechtswidrigkeiten. Wenn die Expertengruppe festgestellt hat, dass die sozialrechtlichen Urteile seit dem Inkrafttreten des BGG nur geringfügig kürzer geworden sind, ist allerdings zu präzisieren, dass das EVG angesichts des Anstiegs der Beschwerdeeingänge seit Ende der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts bereits im Rahmen der vollen Kognition auf eine knappere Urteilsbegründung geachtet hat, wo nicht Grundsatzfragen zu entscheiden waren. Eine erhebliche Kürzung konnte von der Gesetzesrevision auch deshalb nicht erwartet werden, weil die Prüfung der vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellung auf offensichtliche Unrichtigkeit bzw. Willkür nicht immer weniger aufwendig ist als die freie Prüfung.
Klarerweise verbessert hat sich die Qualität der sozialrechtlichen Rechtsprechung bezüglich des Erfordernisses der Beurteilung innert angemessener Frist: Während das Beschwerdeverfahren des EVG im Jahr vor dem Inkrafttreten des BGG durchschnittlich 9,7 Monate dauerte, liegt die durchschnittliche Dauer der sozialrechtlichen Beschwerdeverfahren nun im bundesgerichtlichen Mittel von 4,4 Monaten.
3. Hinweise des Bundesgerichts an den Gesetzgeber
3.1 Allgemeines
Die Bundesverfassung bestimmt, dass die Bundesversammlung rechtsetzende Bestimmungen erlässt und dass das Bundesgericht Streitigkeiten wegen Rechtsverletzungen beurteilt. Im Rahmen seiner Rechtsprechungstätigkeit erhält das Bundesgericht einen umfassenden Einblick in die Vorzüge und Nachteile gesetzlicher Regelungen. Die Gesetzgebung kann davon profitieren. Gerichtsfälle sind denn auch – so Bundesrätin Simonetta Sommaruga, Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements – Testfälle für den Gesetzgeber und die Rechtsprechung ist für das Parlament ein wichtiger Signal- und Impulsgeber.
Impulse des Bundesgerichts erfolgen auf verschiedenen Kanälen, die nachfolgend kurz aufgezeigt werden sollen.24
3.2 Stellungnahmen im Gesetzgebungsverfahren
Mitglieder des Bundesgerichts werden nicht selten in Expertenkommissionen zur Ausarbeitung eines Erlassentwurfs berufen. Gelegentlich werden sie auch von parlamentarischen Kommissionen angehört.
Des Weiteren wird das Bundesgericht im Rahmen der Vorbereitung von Erlassen und völkerrechtlichen Verträgen zur Vernehmlassung eingeladen. Es beschränkt seine Vernehmlassungen regelmässig auf Verfahrensfragen und auf Neuerungen, von denen es selbst betroffen ist; auf die Stellungnahme zu rechtspolitischen Gesetzesvorlagen verzichtet es. Gemäss dem «Verfahrensprotokoll zwischen dem Bundesrat und dem Bundesgericht bei Vernehmlassungen zu Gesetzen im Allgemeinen und betreffend die Stellung des Bundesgerichts im Besonderen» vom 1. Mai 1998 wird das Bundesgericht schon vor der Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens zur Stellungnahme eingeladen, wenn die Vorlage die Stellung, Organisation und Verwaltung des Bundesgerichts oder einer anderen richterlichen Behörde des Bundes betrifft. In diesen Fällen geben auch die vorberatenden parlamentarischen Kommissionen den Gerichten Gelegenheit zur Stellungnahme. Gleiches gilt für den Fall, dass die entsprechende Gesetzgebung einer Wirksamkeitsprüfung unterzogen wird.
3.3 Bisherige Rechtsprechung als Ausgangspunkt des Gesetzgebungsverfahrens
Der Gesetzgeber wird aktiv, wenn die geltende Rechtslage nicht befriedigt. Dabei geht er von den geltenden Normen aus, wie sie von der Rechtsprechung ausgelegt werden. Gelegentlich ändert der Gesetzgeber eine Norm gerade mit der Begründung, die Rechtsprechung habe die geltende Norm in einer nicht zufriedenstellenden Weise ausgelegt. Aus Gründen der besseren Zugänglichkeit erlässt er manchmal Normen, die sich damit begnügen, die geltende Rechtsprechung zu kodifizieren.
3.4 Hinweise an den Gesetzgeber in Urteilen
Das Bundesgericht wendet die Erlasse zumeist an, ohne sich zu einem allfälligen Änderungsbedarf zu äussern. Gelegentlich weist es darauf hin, dass es Sache des Gesetzgebers wäre, eine Regelung zu treffen oder einen Erlass zu ändern. Damit soll allerdings in der Regel nur die Grenze der richterlich zulässigen Auslegung oder Lückenfüllung und nicht ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf bezeichnet werden.
Anders verhält es sich bei den sogenannten Appellurteilen. Diese betreffen Fälle, in denen eine an sich einschlägige Norm gegen einen übergeordneten Erlass verstösst; im Rahmen seiner verfassungsmässigen Befugnisse wendet das Bundesgericht die rechtswidrige Norm grundsätzlich nicht an. Wenn durch die Nichtanwendung ein eigentlich rechtsfreier Raum geschaffen, insbesondere wenn dem Gemeinwesen oder den Betroffenen ein unverhältnismässiger Nachteil entstehen würde und eine wichtige öffentliche Aufgabe nicht mehr zufriedenstellend wahrgenommen werden könnte, begnügt sich das Bundesgericht aber mit einem Appell an den Gesetzgeber, eine mit der übergeordneten Norm zu vereinbarende Regelung zu erlassen. Appellurteile sind am häufigsten zu kantonalem Recht zu finden, aber auch bei verfassungswidrigen Bundesgesetzen, an die das Bundesgericht gebunden ist, oder bei gegen internationales Recht verstossenden Bundesgesetzen, wenn mehrere verfassungs- und konventionskonforme Lösungen offenstehen.
Gelegentlich kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass eine einschlägige Norm zwar nicht rechtswidrig, aber dennoch unbefriedigend ist. In solchen Fällen regt es an, dass sich der Gesetzgeber der Problematik annehme.
3.5 Hinweise an den Gesetzgeber im Geschäftsbericht
3.5.1 Allgemeines
Die Geschäftsprüfungskommissionen der eidgenössischen Räte als Oberaufsichtsbehörde des Bundesgerichts und das Bundesgericht haben Anfang der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts vereinbart, dass das Bundesgericht anlässlich der Aufsichtssitzungen mündlich oder an das Bundesamt für Justiz schriftlich berichtet, ob sich aus der Spruchpraxis gesetzgeberischer Handlungsbedarf ergeben hat. Mit Inkrafttreten der Revision der Bundesrechtspflege im Jahr 2007 wurde vereinbart, dass die Hinweise der eidgenössischen Gerichte im Rahmen des jährlichen Geschäftsberichts erfolgen.
Die «Hinweise an den Gesetzgeber» enthalten häufig Hinweise auf Probleme des gerichtlichen Verfahrens und der Gerichtsorganisation (des Bundesgerichts und seiner Vorinstanzen). Wie das Bundesgericht im Rahmen von Vernehmlassungen zu Gesetzesentwürfen keine Stellung zu eigentlichen rechtspolitischen Vorlagen nimmt, beschränkt es sich bei seinen Hinweisen im Geschäftsbericht auf solche betreffend Unstimmigkeiten verschiedener Art, so auf Unstimmigkeiten zwischen gleichgeordneten Gesetzesbestimmungen, Unstimmigkeiten von Bundesgesetzen und Verfassungs- bzw. Völkerrecht, von Gesetzesbestimmungen und modernen Entwicklungen, Unstimmigkeiten zwischen den Amtssprachen und Hinweise auf den Regelungsbedarf bei ausfüllungsbedürftigem Spielraum. Die Rezeption durch den Gesetzgeber ist unterschiedlich, wie nachfolgend anhand der Hinweise der sozialrechtlichen Abteilungen gezeigt wird.
3.5.2 Hinweise der sozialrechtlichen Abteilungen
Im Geschäftsbericht des ersten Jahres nach Inkrafttreten des BGG (2007) berichteten die beiden sozialrechtlichen Abteilungen über erste Erfahrungen mit der Kostenpflicht. 2009 und 2011 regten sie Änderungen im medizinischen Abklärungswesen an:
2009 wurde das Bundesamt für Sozialversicherungen aufgefordert, bei seiner Aufsicht über die IV-Stellen die Fragen der Qualitätskontrolle, der Transparenz der Expertenauswahl und der diagnostischen Grundlagendaten für die Rentenzusprechung einer Lösung zuzuführen, um den rechtsgleichen Gesetzesvollzug und die Akzeptanz des Abklärungssystems durch die Versicherten zu gewährleisten. Kurzfristig sollten die medizinischen Gutachterpersonen mit der IV-Verfügung bedient werden; die Verordnung wurde im Sinne dieses Hinweises geändert.
2011 wiesen die sozialrechtlichen Abteilungen den Gesetzgeber auf BGE 137 V 210 hin, worin unter anderem Verordnungsgeber und Aufsichtsbehörde angeregt wurden, zur Wahrung der Verfahrensfairness Medas-Gutachtenaufträge nach dem Zufallsprinzip zu vergeben, die Expertenentschädigungen abzustufen und die Qualitätsanforderungen und -kontrollen zu verbessern und zu vereinheitlichen. Die entsprechenden Massnahmen wurden in die Wege geleitet und teilweise umgesetzt.
Die Erste sozialrechtliche Abteilung konzentrierte sich auf Hinweise im Bereich des in ihren Zuständigkeitsbereich fallenden und ohnehin in Revision befindlichen Unfallversicherungsrechts. 2008 regte sie an, dass sich der Gesetzgeber der Thematik der Unfälle mit Schleudertrauma, äquivalenter Verletzung oder Schädel-Hirn-Trauma ohne organisch objektiv ausgewiesene Beschwerden annehme und Auswege aus dem herrschenden adäquanzrechtlichen «Alles oder Nichts»-Dilemma vorsehe. Die Anregung blieb bisher ungehört.
Der Anregung von 2010, den Beginn des UVG-Versicherungsschutzes auf den ersten Tag des Anstellungsverhältnisses, von der Abteilung 2013 wiederholt, wurde mit der Gesetzesrevision vom 25. September 2015 erfüllt.
2011 und erneut 2013 machte die Abteilung insbesondere den Verordnungsgeber auf die Problematik des versicherten Verdienstes als Grundlage der Rentenberechnung bei atypischen Arbeitsverhältnissen aufmerksam, führt doch die geltende Regelung nicht selten zu prekären Rentenleistungen, wenn versicherte Personen nicht aus freien Stücken vorübergehend in einem solchen Arbeitsverhältnis tätig waren. Diese Anregung wurde bisher nicht aufgenommen.
Die Zweite sozialrechtliche Abteilung legte den Schwerpunkt auf Fragen im Umfeld der in ihre Rechtsprechungszuständigkeit fallenden beruflichen Vorsorge. 2009 erachtete sie eine gesetzliche Regelung der Rangordnung der nach BVG begünstigten Hinterlassenen – im Verhältnis zwischen Konkubinatspartnerin und überlebender Ehegattin und zwischen mündigen und unmündigen Kindern – für angezeigt; eine Gesetzesänderung erfolgte bisher nicht.
2014 regte die Abteilung die Regelung des Verhältnisses von Vorsorgeguthaben der Säule 3a zur Erbmasse in einem formellen Gesetz an.
3.6 Exkurs: Handlungsbedarf nach Verurteilungen der Schweiz durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
Soweit den Zuständigkeitsbereich der sozialrechtlichen Abteilungen betreffend, besteht im Übrigen gesetzgeberischer Handlungsbedarf aufgrund von zwei Urteilen, in denen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Konventionsverletzung durch die Schweiz festgestellt hat: Aufgrund des Urteils im Fall Howald Moor gegen die Schweiz vom 11. März 2014 ist der Gesetzgeber aufgerufen, die Verjährungs- und Verwirkungsregelung für Schadenersatzforderungen so auszugestalten, dass der Anspruch noch gerichtlich geltend gemacht werden kann, wenn ein Gesundheitsschaden erst nach langer Latenzzeit erkennbar ist. Das Verjährungsrecht befindet sich bereits in Revision.
Die Ausgestaltung der Invaliditätsbemessung für Teilerwerbstätige, die auch im Aufgabenbereich (Haushaltführung, Kinderbetreuung etc.) tätig sind (sog. gemischte Methode), wird seit langem von der praktisch einhelligen Literatur kritisiert. Nunmehr hat der EGMR im Urteil im Fall Di Trizio gegen die Schweiz vom 2. Februar 2016 festgestellt, dass die geltende Ausgestaltung der gemischten Methode, die dazu führt, dass eine hypothetisch voll erwerbstätige Person die Invalidenrente verliert, wenn sie nach der Geburt eines Kindes hypothetisch nur noch teilzeitlich erwerbstätig wäre, Art. 8 i.V.m. Art. 14 EMRK verletzt.
Unter der Voraussetzung, dass die Grosse Kammer des EGMR nicht gegenteilig entscheidet – falls sie sich mit der Sache überhaupt befassen wird – und unter der weiteren Voraussetzung, dass das Bundesgericht wie in BGE 137 V 334 E. 7.2 weiterhin die Auffassung vertritt, dass eine Änderung der Invaliditätsbemessungsmethode für Teilerwerbstätige mit Aufgabenbereich Sache des Gesetzgebers wäre, wird dieser nunmehr eine Regelung treffen müssen, die diese Versichertengruppe – bisher hauptsächlich Frauen – nicht mehr diskriminiert.
4. Revisionsbedarf beim Bundesgerichtsgesetz
4.1 Eingeleitetes Revisionsverfahren
Im Bericht über die Gesamtergebnisse der Evaluation der Bundesrechtspflege stellte der Bundesrat trotz des grundsätzlichen Gelingens der Reform in verschiedenen Bereichen Verbesserungspotenzial fest. Soweit das Bundesgericht betreffend, sollten die Rechtsgrundlagen insbesondere bezüglich des Ausnahmekatalogs, der vollen Kognition bei Geldleistungen der Unfall- und Militärversicherung, des Rechtsschutzes gegenüber Verfügungen des Bundesrats und der Bundesversammlung und bezüglich Streitigkeiten über die politischen Rechte bei eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen geändert werden.
Im Rahmen des angelaufenen Revisionsverfahrens unterbreitete das Bundesgericht Vorschläge zur Stärkung seiner verfassungsmässigen Rolle als oberstes Gericht. Danach soll das Gericht – anders als gemäss geltendem BGG – grundsätzlich in allen Materien die wichtigen Rechtsfragen und auch sonst die besonders bedeutenden Fälle entscheiden. Um die mit der Ausdehnung der Rechtsprechungskompetenz verbundene Mehrbelastung zu kompensieren, soll die Zuständigkeit in gewissen Fällen neu auf den Entscheid wichtiger Rechtsfragen und sonst besonders wichtiger Fälle beschränkt werden. Das Bundesgericht sprach sich zudem für die Zusammenführung aller Abteilungen am Sitz in Lausanne und damit für die Aufhebung des Standortes Luzern aus.
Wie vom Bundesrat in Aussicht gestellt, eröffnete das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement am 12. November 2015 ein Vernehmlassungsverfahren zur Revision des BGG. Unter der Voraussetzung der Justiziabilität soll sich das Bundesgericht in Zukunft zu möglichst allen grundlegenden Rechtsfragen oder sonst besonders bedeutenden Fällen äussern können, und zwar auch in Bereichen, in denen bisher weder eine ordentliche Beschwerde noch eine – nur gegen kantonale Entscheide mögliche – subsidiäre Verfassungsbeschwerde vorgesehen war.
Stellen sich grundlegende Rechtsfragen oder handelt es sich sonst um einen besonders bedeutenden Fall, soll somit eine ordentliche Beschwerde möglich sein, die sich auch gegen Entscheide von Bundesinstanzen richten kann und nicht auf Verfassungsrügen beschränkt ist. Im Gegenzug soll die Beschwerde in bestimmten Fällen (Bagatellfälle und Fälle, in denen regelmässig nur unzulässige Sachverhaltsrügen vorgebracht werden) ebenfalls nur noch möglich sein, wenn sich ausnahmsweise doch eine grundlegende Rechtsfrage stellt oder sonst in besonders bedeutenden Fällen. Konkret soll die Beschwerde im Strafrecht bei Bussen von weniger als 5000 Franken für Übertretungen – die nicht ins Strafregister eingetragen werden – nur noch zugelassen werden, wenn sich eine grundlegende Rechtsfrage stellt oder sonst in besonders bedeutenden Fällen. Mit Blick auf die erweiterte Zulässigkeit der ordentlichen Beschwerde soll die subsidiäre Verfassungsbeschwerde weggelassen werden.
4.2 Revisionsvorschläge für das Sozialrecht im Besonderen
Der Vernehmlassungsentwurf enthält auch Änderungen für das Sozialrecht.
So wird in einigen Materien, in denen die Beschwerde an das Bundesgericht bisher gänzlich ausgeschlossen ist, die Beschwerde entsprechend der Stossrichtung der Revision neu zugelassen, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt oder aus anderen Gründen ein besonders bedeutender Fall vorliegt: Gemäss geltendem Art. 83 lit. r BGG sind Beschwerden gegen gewisse Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts auf dem Gebiet der Krankenversicherung gänzlich unzulässig. Unter den genannten Voraussetzungen wird neu die Beschwerde gegen Entscheide auf dem Gebiet der Krankenversicherung über Tarife der Leistungserbringer, über Spital- und Pflegeheimlisten sowie über Globalbudgets für die Finanzierung der Spitäler und Pflegeheime zulässig erklärt. Diese Entscheide haben Auswirkungen auf viele Versicherte. Die gemäss geltenden lit. k und m von Art. 83 BGG gänzlich ausgeschlossene Beschwerde gegen Entscheide betreffend Subventionen, auf die kein Anspruch besteht, und Entscheide über die Stundung oder den Erlass von Abgaben (ausser solche steuerrechtlicher Natur) kann ebenfalls sozialrechtliche Materien betreffen; auch solche Beschwerden sollen neu unter den genannten Voraussetzungen zugelassen werden. In vermögensrechtlichen Staatshaftungsfällen mit einem Streitwert unter 30 000 Franken ist die Beschwerde gemäss Art. 85 Abs. 2 BGG neu nicht nur zulässig, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt, sondern auch wenn aus anderen Gründen ein besonders bedeutender Fall vorliegt.
In keiner sozialrechtlichen Materie wird eine bisher unbeschränkt zulässige Beschwerde neu nur noch unter den genannten Voraussetzungen zugelassen.
Neben diesem Ausbau des Rechtsschutzes ist auch eine Einschränkung vorgesehen: Nachdem das Bundesgericht in allen übrigen Materien seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde legt, den die Vorinstanz festgestellt hat, es sei denn, die Feststellung sei offensichtlich unrichtig oder beruhe auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG, soll nunmehr die Ausnahme der vollen Kognition bei der Beurteilung von Beschwerden gegen einen Entscheid über die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung von Art. 105 Abs. 3 BGG aufgehoben werden.
Soweit auch das (öffentliche) Arbeitsrecht zum Sozialrecht gezählt wird – die Erste sozialrechtliche Abteilung ist für Beschwerden im Bereich des öffentlichen Personalrechts zuständig –, ist auf drei Änderungen hinzuweisen. Gemäss Art. 83 lit. g BGG ist die Beschwerde bisher gänzlich ausgeschlossen gegen Entscheide auf dem Gebiet der öffentlich-rechtlichen Arbeitsverhältnisse, wenn sie eine nicht vermögensrechtliche Angelegenheit, nicht aber die Gleichstellung der Geschlechter betreffen. In den bisher ausgeschlossenen Fällen soll die Beschwerde neu zugelassen, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt oder aus anderen Gründen ein besonders bedeutender Fall vorliegt. In analogen vermögensrechtlichen Angelegenheiten ist gemäss dem vorgeschlagenen Art. 85 Abs. 2 BGG die Beschwerde nicht mehr nur dann zulässig, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt, sondern auch, wenn aus anderen Gründen ein besonders bedeutender Fall vorliegt. Zudem hat das Bundesgericht gemäss Art. 25 Abs. 2 BGG zur Beurteilung von Beschwerden gegen Verfügungen betreffend das Arbeitsverhältnis des Gerichtspersonals eine interne Rekurskommission einzusetzen.
4.3 Würdigung
4.3.1 Entscheidungskompetenz in allen Rechtsmaterien
Das Bundesgericht ist von Verfassung wegen die oberste rechtsprechende Behörde des Bundes. Damit ist der Ausschluss wichtiger Materien von der Rechtsprechungskompetenz des Bundesgerichts nur schwer vereinbar. Die Stossrichtung der Reform, wonach die Beschwerde an das Bundesgericht immer zulässig ist, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt oder aus anderen Gründen ein besonders bedeutender Fall vorliegt, ist deshalb uneingeschränkt zu begrüssen. Dies gilt auch für den Bereich des Sozialrechts, wobei anzumerken ist, dass schon im geltenden Recht nur wenige sozialrechtliche Fälle vom Weiterzug an das Bundesgericht ausgeschlossen sind.
Zu bedauern ist, dass der Grundsatz im Vernehmlassungsentwurf nicht konsequent umgesetzt wird, indem die Beschwerde gegen Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts auf dem Gebiet des Asyls gemäss Art. 84 Abs. 1 lit. b BGG gänzlich ausgeschlossen bleibt, ausser sie betrifft Personen, gegen die ein Auslieferungsersuchen des Staates vorliegt, vor dem sie Schutz suchen. Die Beschwerde sollte – so die Auffassung des Bundesgerichts – neu auch auf diesem Gebiet zugelassen werden, und zwar unter den gleichen Voraussetzungen, wie dies Art. 84 Abs. 2 lit. a des Entwurfs für das Gebiet des Ausländerrechts vorsieht, wenn sich nämlich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt und das Bundesverwaltungsgericht dies im angefochtenen Entscheid festgestellt hat; angesichts der grossen Fallzahlen in diesem Gebiet soll mit der zusätzlichen Einschränkung verhindert werden, dass eine Beschwerde ohne Erfolgsaussichten nur zwecks Verfahrensverlängerung erhoben wird.
Die Erweiterung der Entscheidungskompetenz bringt eine Mehrbelastung des Bundesgerichts mit sich. Da das Gericht, wie in Ziff. 1 dargelegt, auch nach der Totalrevision der Bundesrechtspflege stark belastet ist, ist die Entlastung zur Kompensation unabdingbar.
Das Sozialrecht ist von den Einschränkungen nicht betroffen. Angesichts der geringen Zahl und Bedeutung von Ausschlüssen ist das Sozialrecht auch von dem im Vernehmlassungsentwurf vorgesehenen Wegfall der subsidiären Verfassungsbeschwerde gegen kantonale Entscheide nur wenig betroffen, zumal die Verletzung verfassungsmässiger Rechte in den nicht ausgeschlossenen Materien in der ordentlichen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gerügt werden kann.
4.3.2 Eingeschränkte Sachverhaltsprüfung auch in der Unfall- und Militärversicherung
Die Kognitionseinschränkung in sozialversicherungsrechtlichen Leistungsstreitigkeiten war im Gesetzgebungsverfahren des BGG äusserst umstritten. Vom ursprünglichen Kompromiss, Streitigkeiten um Geldleistungen der Invaliden-, Unfall- und Militärversicherung auszunehmen, wurde der Teil Invalidenversicherung im Rahmen einer Revision des IVG vom 16. Dezember 2005 schon vor dem Inkrafttreten des BGG herausgebrochen. Unabhängig von der grundsätzlichen Haltung gegenüber der Kognitionseinschränkung lässt sich die Ausnahmeregelung für nur zwei Sozialversicherungszweige nicht mehr begründen.
4.3.3 Obligatorische anwaltliche Vertretung?
In Zivil- und Strafsachen können gemäss Art. 40 BGG Parteien vor Bundesgericht nur von Anwältinnen und Anwälten vertreten werden, wenn sich die Partei überhaupt vertreten lässt. Für öffentlich-rechtliche Streitsachen fehlt es an einer entsprechenden Bestimmung. Expertenkommissionen prüften schon für das OG und dann auch für das BGG die Frage der obligatorischen anwaltlichen Vertretung vor Bundesgericht als Massnahme zu dessen Entlastung. Da indessen nicht nur Laien schlecht begründete Beschwerden einreichen würden, stellte sich gleichzeitig die Frage, ob die Rechtsvertretung vor Bundesgericht akkreditierten Anwältinnen und Anwälten vorbehalten sein sollte.
Die Frage wurde insbesondere deshalb verworfen, weil ein solches System der schweizerischen Rechtstradition nicht entspricht und kein befriedigendes und praktikables Auswahlverfahren für die Akkreditierung gefunden werden konnte. Auch wurde ein Widerspruch darin erblickt, gleichzeitig das Rechtsmittelsystem zu vereinfachen und den Vertretungszwang durch akkreditierte Anwältinnen und Anwälte einzuführen. Die Autorin und die Autoren der im Rahmen der Evaluation der neuen Bundesrechtspflege durchgeführten Wirksamkeitsstudie regen in ihrem Schlussbericht wiederum den Anwaltszwang bzw. akkreditierte Anwältinnen und Anwälte an, damit von Privatpersonen formulierte Beschwerden, welche offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg haben, nicht mehr materiell zu behandeln wären, woraus ein Entlastungseffekt resultieren würde; die Kostenfolgen des Anwaltszwangs im Kontext der unentgeltlichen Rechtspflege wären näher zu untersuchen.
Der Bundesrat will diese Anregung nicht weiterverfolgen: Zwar würde dadurch der Rechtsschutz verbessert, doch wäre das Vorhaben mit Nachteilen in andern Bereichen verbunden. Der Widerspruch eines Anwaltszwanges zur schweizerischen Rechtstradition ist nicht zu verkennen, und die sich mit der Einführung des Anwaltszwangs stellenden praktischen Probleme wären auch nicht leicht zu lösen. Indessen zeigt es sich, dass es für Laien auch nach der Vereinfachung der Verfahren und Rechtswege als drittem Ziel der Totalrevision der Bundesrechtspflege schwierig ist, den gesetzlichen Anforderungen an die Beschwerdebegründung zu genügen. Die Frage des Anwaltszwangs bleibt somit offen.
4.3.4 Vereinigung aller Abteilungen in Lausanne?
Nachdem mit dem BGG das Bundesgericht und das EVG unter Beibehaltung des Standorts Luzern institutionell zur einzigen obersten rechtsprechenden Behörde vereinigt wurden, schlug das Bundesgericht nunmehr die Vereinigung aller Abteilungen am Sitz in Lausanne vor.
Der Vernehmlassungsentwurf nimmt diesen Vorschlag bedauerlicherweise nicht auf. Die Vereinigung an einem einzigen Ort wäre für die der Einheit der Rechtsordnung verpflichtete Rechtsprechung des obersten Gerichts vorteilhaft. Andernorts wurden als Vorteile genannt: «Die Kommunikation unter den für die Rechtsprechung Verantwortlichen würde intensiviert, die Freizügigkeit und die Aushilfe unter den Abteilungen würde erleichtert, und die Zuständigkeit und Organisation der Abteilungen könnten ohne Rücksicht auf die örtliche Distanz optimal auf die Bedürfnisse der Rechtsprechung ausgerichtet werden.»
Dazu kommt, dass für die Bürgerinnen und Bürger der Aufbau der Gerichtsbarkeit des Bundes seit der Schaffung erstinstanzlicher Bundesgerichte (Bundesstrafgericht in Bellinzona, Bundesverwaltungsgericht und Bundespatentgericht in St. Gallen) nur schwer verständlich ist. Ein Standort Luzern des Bundesgerichts verwirrt zusätzlich, zumal unter «Lausanne» das oberste Gericht verstanden wird. Das Funktionieren der Justiz würde besser verstanden, wenn alle Abteilungen des obersten Gerichts in Lausanne vereinigt wären. Dabei versteht es sich von selbst, dass ein solcher Schritt mit Blick auf die Interessen der Mitarbeitenden am Standort Luzern, die Interessen der Zentralschweiz – die den Vorschlag verständlicherweise nicht günstig aufnahm – und auf den Umstand, dass in Lausanne die baulichen Voraussetzungen erst geschaffen werden müssen, längerer Vorbereitung bedarf. Das Anliegen sollte mittelfristig weiterverfolgt werden.