Seit dem 13. September muss in der Schweiz beim Betreten von Restaurants, Kultur- und Freizeiteinrichtungen und an Veranstaltungen ein Covid-Zertifikat vorgewiesen werden. Einlass gibt es nur für frisch Getestete, Genesene oder Geimpfte. Auch die Arbeitgeber dürfen laut Bundesrat das Zertifikat verlangen, wenn sie das mit Schutzmassnahmen begründen. Gegen diese neue Covid-Massnahme macht sich auch unter Juristen Widerstand bemerkbar. Eine Gruppe «Wir für Euch» veröffentlichte auf ihrer Internetplattform ein rechtliches Gutachten zur Zertifikatspflicht. Der oder die Autoren blieben anonym. Nach Angaben auf der Internetseite steht «eine Vereinigung von Polizistinnen und Polizisten aus allen Kantonen der Schweiz» hinter dem Portal, die sich «verpflichtet fühlen, die Grundrechte aller nach bestem Wissen und Gewissen zu schützen und zu bewahren».
plädoyer wollte wissen, wer die Analyse verfasst hat. Das Papier zählt 31 Seiten und begründet ausführlich mit Hinweis auf allgemein zugängliche rechtliche, amtliche und naturwissenschaftliche Quellen, weshalb die Verordnung des Bundesrats zum Zertifikat die Grundrechte der Bürger verletzt. Es bemängelt eine fehlende gesetzliche Grundlage. Aufgrund der plädoyer-Recherche meldet sich Jürg Vollenweider, ehemaliger leitender Staatsanwalt in Uster ZH. Die Analyse sei massgeblich von einem Rechtsanwalt verfasst worden. Danach sei sie unter anderem von vier Staatsanwälten, drei Gerichtsmitgliedern, mindestens einem weiteren praktizierenden Rechtsanwalt und acht Polizisten kritisch überprüft und ergänzt worden. «Ich bin pensioniert und habe nichts zu befürchten», erklärt Vollenweider. Seine Kolleginnen und Kollegen hingegen schon: «Mir sind etwa Impfdruckversuche am Arbeitsplatz mit Androhung von Konsequenzen bei Weigerung bekannt.» Vollenweider hat damit nicht unrecht. Als das Internetmagazin «Republik» kürzlich die Identität von zwei Polizisten der Vereinigung «Wir für Euch» der Kantonspolizei Zürich mitteilte, wurden diese umgehend freigestellt.
Verletzung des Rechts auf Bewegungsfreiheit
Das Gutachten zur Covid-Zertifikatspflicht wirft dem Bundesrat vor, er habe damit die Schweizer Bevölkerung in zwei Lager mit unterschiedlicher Bewegungsfreiheit gespalten: In Geimpfte (und Genesene) einerseits – und Ungeimpfte andererseits. Diese verordnete Zweiteilung der Gesellschaft halte vor übergeordnetem Recht nicht stand. Die Zertifikatspflicht stelle «einen schweren Eingriff in die Grundrechte» dar und bedürfe zwingend einer gesetzlichen Grundlage. Letztere sei weder im Covid-19-Gesetz noch im Epidemiengesetz (EpG) zu finden. Der Rückgriff auf die Polizeiklausel sei ebenfalls nicht möglich, «weil es an der Voraussetzung der unmittelbaren Gefahr und der damit verbundenen zeitlichen Dringlichkeit» fehle. Die Verordnung verletze das Recht auf körperliche Integrität und Bewegungsfreiheit der Bürger, es verstosse gegen das Gebot der Rechtsgleichheit und das Verbot von Diskriminierungen.
plädoyer legte die rechtliche Analyse verschiedenen Staats- und Verwaltungsrechtlern vor. Markus Schefer, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Basel, schätzt sie als «unvollständig und mangelhaft» ein. Bei der Diskussion der polizeilichen Generalklausel hätte auch auf Artikel 185 Absatz 3 der Bundesverfassung (BV) eingegangen werden müssen. Schefer erachtet auch die Bejahung der Anwendbarkeit der Diskriminierungsverbote nach Artikel 8 Absatz 2 BV als «nicht zutreffend». Er stimmt jedoch der Einschätzung zu, «dass Artikel 6 des Epidemiengesetzes nicht über die erforderliche Normdichte verfügt». Das heisst, er reicht als Basis für eine solche Zertifikatspflicht nicht aus.
Teil der persönlichen Freiheit “konfisziert”
Für den Freiburger Strafrechtsprofessor Marcel Niggli ist die Analyse hingegen «korrekt». Was die Strafen in der Verordnung betreffe, habe er seit zwei Jahren bereits mehrmals darauf hingewiesen, dass ein erhebliches Problem hinsichtlich der Rechtsgrundlage bestehe. «Weder wurde das behoben noch verbessert», kritisiert Niggli. Gemäss Artikel 1 des Strafgesetzbuchs (StGB) darf eine Strafe oder Massnahme nämlich nur wegen einer Tat verhängt werden, die das Gesetz ausdrücklich unter Strafe stellt. «Diese Norm wird noch in vielen weiteren Punkten verletzt, die in der Analyse gar nicht angesprochen werden.»
Die fehlende gesetzliche Grundlage der Covid-Zertifikatspflicht bemängelt auch Kaspar Gerber. Der Jurist ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Staats-, Verwaltungs- und Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich und Mitglied des «Kompetenzzentrums Medizin – Ethik – Recht Helvetiae». Er kritisiert, der Staat habe gleichzeitig mit der Einführung der Zertifikatspflicht einen Teil des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Artikel 10 Absatz 2 BV) für die von der Zertifikatspflicht betroffene Personengruppe «konfisziert». Nämlich den Zugang zu den genannten öffentlich zugänglichen Gebäuden wie zum Beispiel Bibliotheken, Hallenbädern, Museen oder Zoos und damit die ungehinderte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben.
Erheblicher Eingriff in die Grundrechte
Laut Kaspar Gerber tangiert die Zertifikatspflicht auch die Wirtschaftsfreiheit (Artikel 27 BV) der Betriebe, welche der Zertifikatspflicht unterworfen sind. Beispielsweise dürften Restaurants und Fitnesscenter den Kundenverkehr im Innenbereich nicht mehr frei gestalten, sondern nur unter der Bedingung der kontrollpflichtigen Vorlage des Zertifikats der Kunden. Gerber: «Die Kunden erhalten mit der Vorlage des Covid-19-Zertifikats den suspendierten Teil der persönlichen Freiheit zurück.» Das Zertifikat würde mit Tests oder einer Impfung und daher mit einer mehr (Impfung) oder weniger (Tests) starken Beeinträchtigung der körperlichen Integrität erhoben. Insgesamt sei mit der ausgeweiteten Zertifikatspflicht somit «ein erheblicher Eingriff in die Grundrechte feststellbar», konstatiert der Zürcher Rechtswissenschaftler. Die Impfung gegen Covid-19 ist für den Bundesrat ein zentrales Instrument zur Bekämpfung der Pandemie. Das Covid-19-Gesetz gibt der Regierung aber laut Gerber in den Materialien keine Grundlage, um direkt oder indirekt ein Impfobligatorium anzuordnen, das über Artikel 6 Absatz 2 litera d (obligatorische Impfungen bei gefährdeten Bevölkerungsgruppen, bei besonders exponierten Personen und bei Personen, die bestimmte Tätigkeiten ausüben) hinausgeht.
Und die Pflicht zur Selbstzahlung der notwendigen Tests für das Zertifikat könne für einen Grossteil der Bevölkerung zu einer hohen finanziellen Belastung führen. Die selbstbestimmte Wahlfreiheit des Individuums gegen eine Impfung werde also mit drohenden testbedingten finanziellen Engpässen «übersteuert». Hier könne von «Impfzwang» gesprochen werden, der nicht «nur» physischen Zwang bedeute.
Gesetz deckt Einsatz von Zertifikat an der Grenze ab
Gerber sieht keine «kohärente und genügend bestimmte gesetzliche Grundlage» für die erfolgte Ausweitung der Zertifikatspflicht auf öffentlich zugängliche Innenräume für Personen ab 16 Jahren. Das Covid-19-Gesetz sehe nirgends vor, das Zertifikat als Mittel zur Sicherstellung von Massnahmen gegenüber der breiten Bevölkerung in Alltagssituationen, wie den Zugangserschwerungen zu Innenräumen oder Veranstaltungen, einzusetzen. «Das lässt sich auch nicht den parlamentarischen Debatten entnehmen.» Dafür spreche auch die systematische Auslegung: Das Zertifikat ist im Covid-19-Gesetz in Artikel 6a geregelt – gleich nach Artikel 6, welcher sich mit «Massnahmen bei Grenzschliessung» befasst. Das Zertifikat steht laut Gerber daher klar im Zusammenhang mit dem Regelungsgegenstand des Grenzverkehrs und kann nur dort eingesetzt werden.
Die Covid-19-Verordnung besondere Lage, in welcher der Bundesrat die Einsatzgebiete des Zertifikats regelt, stütze sich also nur auf Artikel 6 Absatz 2 litera a und b des Epidemiengesetzes und nicht auch auf das Covid-19-Gesetz, wo das Zertifikat in Artikel 6a normiert sei. Das Epidemiengesetz wiederum nenne das Zertifikat allerdings nicht als Instrument zur Durchsetzung solcher Massnahmen. Gemäss Gerber könne dies auch nicht ins Epidemiengesetz hineininterpretiert werden.
Gemäss Artikel 1 Absatz 2bis des Covid-19-Gesetzes muss der Bundesrat zudem nach den Grundsätzen der Subsidiarität, Wirksamkeit und der Verhältnismässigkeit handeln. Er muss seine Strategie auf die mildest- und kürzestmögliche Einschränkung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens ausrichten.
Differenziertere Argumente vom Bundesrat gefordert
Nach anderthalb Jahren Erfahrung mit den verschiedensten Massnahmen braucht es laut Gerber zum «Beweis des rechtserheblichen Sachverhalts» differenziertere Argumente, als einfach mit neuen «Schliessungen» zu drohen und das Zertifikat «als Alternative pauschal als ‹milderes Mittel› anzupreisen».
Insbesondere müsste nachgewiesen werden, dass die bisherigen Schutzkonzepte ungenügend waren und die Ausdehnung der Zertifikatspflicht voraussichtlich und kausal zu einer erheblichen positiven epidemiologischen Entwicklung führe. «Diesen Nachweis sehe ich Stand heute nicht», sagt Gerber.