Clearview» ist ein US-Unternehmen, das Software zur Gesichtserkennung verkauft. Die US-Firma kopierte laut eigenen Angaben unzählige Bilder von Webseiten und verfügt heute über mehr als drei Milliarden Fotos. Die Gesichtserkennungssoftware durchsucht die Datenbank innert Sekunden. Viele US-Polizeibehörden verwenden das Programm. Die «New York Times» schrieb vom «Ende der Privatsphäre, wie wir sie kennen».
In einer Liste von Test-Accounts sind bei Clearview auch E-Mail-Adressen der St. Galler Kantonspolizei und der Zürcher Stadtpolizei registriert. Die Software wurde von den Polizeistellen jeweils zwischen zwölf und fünfzehn Mal benutzt.
Hanspeter Krüsi, Sprecher der Kantonspolizei St. Gallen, beschwichtigt: Ein Mitarbeiter habe sich anlässlich einer Veranstaltung aus Eigeninteresse und im privaten Rahmen bei Clearview registriert. «Es kam zu keinen Downloads oder gar zu Programminstallationen.» Laut Krüsi benutzt die Kapo St. Gallen hingegen die Software «Griffeye Analyze DI Pro» des Herstellers «Griffeye Technologies». Sie werde bei «schweren Tatbeständen» zur Identifikation von Tätern eingesetzt, sofern Bildmaterial vorhanden sei – etwa bei Raubüberfällen auf Tankstellen oder Geschäfte, aber auch bei Erpressungen, Vergewaltigungen oder Fällen von Kinderpornografie. Die Tauglichkeit der Software wurde laut Krüsi «mit Hilfe von Fallangaben aus drei realen, bereits abgeschlossenen Ermittlungsfällen überprüft». Und die Genauigkeit der Software sei mit Hilfe von zwei Referenzdatenbanken aus dem Internet überprüft. «Dabei erwies sich ‹Griffeye› als die Software mit dem besten Nutzen.»
Laut Judith Hödli, Sprecherin der Stadtpolizei Zürich, hat ihr Corps nie eine Gesichtserkennungssoftware «evaluiert, angewendet oder gar beschafft». «Wir besitzen sie nicht und setzten sie nie in einem Strafverfahren ein.» Laut Hödli hätten interne Abklärungen aber ergeben, dass ein Mitarbeiter Ende 2019 in Ungarn an einer offiziellen Bildungsveranstaltung der Europäischen Union teilgenommen habe. «Dort wurde die Software Clearview vorgestellt und den Anwesenden zum Ausprobieren empfohlen. Der Mitarbeiter habe sie einen Tag nach dem Kurs mit frei zugänglichen Bildern aus dem Internet ausprobiert – insgesamt zwölf Mal. Für die Anmeldung musste er seine offizielle Geschäftsmailadresse verwenden. Der Mitarbeiter habe die Software nie zu Strafverfolgungszwecken angewendet. Der Stadtpolizei sei klar, «dass für die Anwendung von Gesichtserkennungssoftware eine gesetzliche Grundlage nötig ist».
Schwerer Eingriff in die Grundrechte
Dasselbe betont Monika Simmler, Assistenzprofessorin für Strafrecht und Kriminologie an der Universität St. Gallen. Sie kritisiert aus juristischer Sicht den Einsatz solcher Technologien. «Es gibt in der Schweiz keine rechtliche Grundlage, die einer Kantonspolizei erlauben würde, Gesichtserkennungssoftware einzusetzen», sagt Simmler. Markus Schefer, Staatsrechtsprofessor an der Uni Basel, pflichtet ihr bei: «Die Verwendung von Gesichtserkennungssoftware stellt einen Grundrechtseingriff dar.»
Bei der automatisierten Gesichtserkennung werden die Merkmale des Gesichts – der Augenabstand, die Höhe der Wangenknochen oder die Form des Mundes – digital erfasst, in biometrische Daten übersetzt und gespeichert. Das Gesicht wird durch die Algorithmen zum eindeutigen Erkennungsmerkmal. Simmler: «Das Analysieren biometrischer Daten stellt in der Regel einen schweren Grundrechtseingriff dar. Und dafür braucht es ein Gesetz.»
Die Kantonspolizei St. Gallen beharrt auf dem Standpunkt, die Anwendung der Software sei rechtlich zulässig. Das habe sie für den konkreten Einsatz vorgängig bei der kantonalen Datenschutzstelle abgeklärt. Diese habe der Polizei grünes Licht gegeben. Für Monika Simmler ist dieses Argument Augenwischerei: «Die Polizei schiebt die Verantwortung dem Datenschutzbeauftragten zu. Aber in laufenden Strafverfahren ist der kantonale Datenschutz gar nicht gefragt und somit irrelevant. Wir befinden uns hier im Strafprozessrecht.» Gesichtserkennung wäre eine neue Zwangsmassnahme und müsse in der Strafprozessordnung geregelt werden. «Aber da steht nichts von Gesichtserkennung.» Und auch im kantonalen Polizeigesetz finde sich keine Grundlage für den Einsatz von Gesichtserkennungssoftware.
«Der Einsatz ist somit unrechtmässig», kritisiert die Professorin und betont: «Das Bundesgericht stellt hohe Anforderungen an die gesetzlichen Grundlagen automatisierter Erkennungssysteme. So pfiff Lausanne etwa die Kantonspolizei Thurgau in der Verwendung einer automatisierten Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung zurück, da dafür die gesetzliche Grundlage fehlte.» Simmler geht davon aus, dass das Bundesgericht bei der Gesichtserkennung ähnlich entscheiden würde. Die kantonalen Justiz- und Sicherheitsdirektoren müssten den Einsatz solcher Software sofort stoppen, fordert Simmler. Der St. Galler Justizdirektor Fredy Fässler (SP) hingegen geht «gemäss unserer bisherigen Einschätzung» davon aus, dass der Einsatz der Software rechtmässig ist. Der SP-Politiker versichert jedoch, «die Sache rechtlich zu überprüfen» und auch mit Monika Simmler das Gespräch zu suchen.
Machtlose Strafverteidiger
Marc Engler, erfahrener Strafverteidiger in Zürich, ist pessimistisch, was die rechtlichen Mittel gegen die Verwendung neuer Instrumente wie der Gesichtserkennungssoftware angeht: «Man kann versuchen, vor Gericht geltend zu machen, dass gewisse Beweise nicht verwertbar sind oder Untersuchungshandlungen nicht zulässig waren.» Aber die Erfolgschancen wären seiner Erfahrung nach gering, selbst dann, wenn in den Akten Hinweise auf eine Gesichtserkennungssoftware zu finden wären. «Ich glaube zum Beispiel nicht, dass gegen eine beschuldigte Person keine Untersuchungshaft angeordnet würde, nur weil sich die Ermittlungen der Polizei auf eine solche Software stützen.» Kollege Thomas Sprenger, ebenfalls Strafverteidiger mit langjähriger praktischer Erfahrung, fügt hinzu: «Selbst bei einer Verurteilung würde es keine Rolle spielen, sofern dem Gericht am Ende weitere Hinweise auf die Täterschaft des Beschuldigten vorlägen.» Eine Gesichtserkennungssoftware sei ein enorm mächtiges Instrument für die Strafverfolgungsbehörden und Staatsanwaltschaften. «Es ist unhaltbar, dass dieses Instrument schleichend, ohne eine gesellschaftliche Diskussion darüber und erst noch ohne gesetzliche Grundlage eingeführt wird.»