Die Abstimmung zur AHV-Reform von 2022 wird nicht wiederholt. Zu diesem Urteil kam das Bundesgericht in seiner mündlichen Beratung vom 12. Dezember letzten Jahres. Das Volk hatte die Vorlage über das höhere Rentenalter der Frauen äusserst knapp angenommen. Nach der Publikation eines Rechenfehlers zu Prognosen der AHV seitens des Bundesamts für Sozialversicherungen erhoben die Grünen zusammen mit den SP-Frauen eine Abstimmungsbeschwerde.
Die Richter und Richterinnen der Ersten öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts beurteilten die Tragweite des Rechenfehlers unterschiedlich. Alle Mitglieder der Kammer gewichteten die Rechtssicherheit aber höher. Deshalb lehnten sie die Beschwerde einstimmig ab. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Gültigkeit von Abstimmungen solle nicht leichtfertig untergraben werden, so die Begründung.
Ausschlaggebend sei vor allem gewesen, dass das Volk im Rahmen der damaligen Abstimmung auch einer Erhöhung der Mehrwertsteuer zustimmte. Die Erhöhung der Steuer um 0,4 Prozent, die der Finanzierung der AHV-Reform diente, trat bereits am 1. Januar 2024 in Kraft. Die Rückabwicklung der Steuer über ein Jahr erachtete das Gericht als unmöglich.
Es war nicht das erste Mal, dass das Bundesgericht über eine wirkliche oder angebliche Fehlinformation des Bundes vor Abstimmungen zu urteilen hatte. In den vergangenen Jahren gab es zahlreiche solche Beschwerden. Die Beschwerdeführer kritisierten die eidgenössischen Abstimmungserläuterungen und Aussagen von Bundesräten und Behörden als falsch oder irreführend. Das Bundesgericht trat auf die meisten dieser Beschwerden nicht ein.
Darunter waren zum Beispiel die Vorlagen zur Konzernverantwortung, zum Vollgeld, zur Filmförderung (Lex Netflix), zu Sozialversicherungsdetektiven, zum Nachrichtendienstgesetz sowie die Selbstbestimmungsinitiative. Materiell behandelte das Gericht dagegen die Beschwerden gegen die beiden Abstimmungen zur «Abschaffung der Heiratsstrafe» sowie zur Unternehmenssteuerreform II.
Nur das Parlament kann Rechtsweg vereinfachen
Bis vor 25 Jahren war der Bundesrat für Abstimmungsbeschwerden zuständig. Seit der damaligen Justizreform ist das Bundesgericht die letzte Instanz. Die Abstimmungsbeschwerde laut Artikel 77 des Bundesgesetzes über die politischen Rechte muss in einem ersten Schritt innert dreier Tage nach Bekanntwerden der Falschinformation bei der jeweiligen Kantonsregierung eingereicht werden.
Diese Voraussetzung gilt auch bei eidgenössischen Abstimmungen, obwohl die Kantonsregierungen nur für die Prüfung von kantonalen Vorlagen zuständig sind. Der kantonale Nichteintretensentscheid kann dann beim Bundesgericht innerhalb von fünf Tagen angefochten werden. Mit der Beschwerde können «Unregelmässigkeiten bei Abstimmungen» gerügt werden.
Das Bundesgericht selbst bemängelt diesen Rechtsweg als «verfahrensrechtlich unzulänglich». Das Gericht könne dieses Problem jedoch nicht beheben, dafür sei der Gesetzgeber zuständig, also das Parlament (Urteil 1C_225/2022 vom 14. Juli 2022, E. 3.3).
Das Parlament hat das Problem erkannt: Künftig soll eine Beschwerde gegen nationale Abstimmungen direkt beim Bundesgericht eingereicht werden, verlangt zum Beispiel eine parlamentarische Motion des früheren SP-Ständerats Hans Stöckli.
Bundesbüchlein nicht direkt anfechtbar
Für nachträglich bekannt gewordene Falschinformationen sieht das Bundesgesetz über die politischen Rechte keine Beschwerdemöglichkeit vor. Denn die Abstimmungsbeschwerde muss spätestens am dritten Tag nach der Veröffentlichung der Ergebnisse bei der kantonalen Regierung eingereicht werden.
Im 2011 ergangenen Urteil zur Unternehmenssteuerreform II stellte das Bundesgericht eine «namhafte Lücke» fest: «Es wäre stossend, wenn massive Unregelmässigkeiten, welche das Abstimmungsresultat beeinflusst haben könnten, nur deshalb nicht überprüft werden, weil die entsprechenden Tatsachen oder Beweismittel erst nach Ablauf der – sehr kurzen – Beschwerdefristen entdeckt worden sind.»
Das Gericht leitete deshalb einen Anspruch auf Prüfung von nachträglich bekannt gewordenen Falschinformationen direkt aus der Rechtsweggarantie gemäss Artikel 29 der Bundesverfassung ab. Gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts ist die Anfechtung auch zwei bis drei Jahre nach der Abstimmung noch möglich.
Das bundesrätliche Abstimmungsbüchlein kann laut Bundesgericht nicht direkt angefochten werden. Denn dieses gilt – wie Äusserungen einzelner Bundesräte – als Akt des Bundesrats. Akte des Bundesrats sowie des Parlaments unterliegen gemäss Artikel 189 Absatz 4 der Verfassung keiner gerichtlichen Prüfung.
Nachträglich bekannt gewordene Falschinformationen können somit nur angefochten werden, wenn diese die nationale Abstimmung entscheidend beeinflusst haben, schreibt das Bundesgericht. Im Urteil zur Lex-Netflix-Abstimmung von 2022 kritisierte das Bundesgericht diese Einschränkung aber als «gewichtige Rechtsschutzlücke».
Lange ging die Lehre davon aus, dass die allgemeine Informationslage nicht nur im Rahmen des nachträglichen Rechtsschutzes geltend gemacht werden könne, sondern auch vor einer Abstimmung. Diese Möglichkeit verneinte das Bundesgericht aber vor rund vier Jahren im Entscheid zur Abstimmung über die Konzernverantwortungsinitiative. Begründung: Informationen über angebliche Unregelmässigkeiten, die im Vorfeld einer Abstimmung entdeckt werden, könnten ohne weiteres in die öffentliche Diskussion eingebracht werden.
Angreifbar sind nur einzelne Kantone
Laut Andreas Glaser, Professor für Staatsrecht an der Uni Zürich sowie Direktor des Zentrums für Demokratie, verbleiben als Anfechtungsobjekte von Beschwerden im Vorfeld einer eidgenössischen Abstimmung deshalb bloss noch Stellungnahmen einzelner Kantone respektive kantonaler Regierungskonferenzen. Dazu habe das Bundesgericht einige Leitlinien aufgestellt. Es habe auch Stellungnahmen im Vorfeld von Abstimmungen seitens der Bundesämter oder etwa der Suva auf ihre Zulässigkeit geprüft. Derart unbedeutende Akteure hätten aber kaum jemals entscheidenden Einfluss auf den Ausgang einer Volksabstimmung, hält Glaser fest.
Behörden informierten bei “Heiratsstrafe” falsch
Bei all diesen Hürden vermag es nicht zu erstaunen, dass die Abstimmung zur «Abschaffung der Heiratsstrafe» der einzige Volksentscheid ist, der jemals auf nationaler Ebene vom Bundesgericht aufgehoben wurde.
Die Behörden informierten die Bevölkerung im Vorfeld dieser Abstimmung in mehreren Punkten falsch: Zum einen betrug die Zahl der von einer Heiratsstrafe betroffenen Paare nicht 80'000, sondern mehr als 450'000. Zum anderen verschwiegen die Behörden, dass die ursprünglichen Zahlen auf Schätzungen beruhten und 15 Jahre alt waren.
Das Gericht berücksichtigte in seinem Urteil aus dem Jahr 2019 das knappe Abstimmungsergebnis, die Schwere des Mangels, dessen Einfluss auf das Resultat und die Rechtssicherheit. Letztere ergebe sich unter anderem aus Artikel 5 der Bundesverfassung, wonach das in Kraft stehende Gesetz Beständigkeit habe, sowie aus dem Grundsatz von Treu und Glauben.
Die mit 50,8 Prozent äusserst knapp ausgefallene Ablehnung und die fehlerhafte Bezifferung um das Fünffache gewichtete das Gericht höher als die Rechtssicherheit. Da die Vorlage abgelehnt worden sei, müssten keine Gesetze aufgehoben werden. Dadurch komme der Rechtssicherheit ein beschränkter Stellenwert zu.
Bei der Unternehmenssteuerreform II war das Bundesgericht noch zu einem anderen Schluss gekommen. Anlass der Abstimmungsbeschwerde war das nachträgliche Eingeständnis des Bundesrats, dass die Steuerausfälle wesentlich höher ausfallen würden als angegeben. Hier war das Ergebnis der Abstimmung mit 50,5 Prozent Ja-Stimmen ähnlich knapp. Zudem verschwiegen die Behörden der Stimmbevölkerung die wichtige Information, dass wesentliche finanzielle Konsequenzen der Vorlage nicht geschätzt werden konnten und deshalb keinen Eingang in die Berechnungen fanden. Dies stellt gemäss Gericht eine Verletzung der Abstimmungsfreiheit gemäss Artikel 34 BV dar.
Es sei zudem nicht auszuschliessen, dass dieser Mangel aufgrund der Schwere einen erheblichen Einfluss auf das knappe Resultat hatte. Das Bundesgericht lehnte jedoch eine Wiederholung der Abstimmung aufgrund der Rechtssicherheit ab. Die neuen Regelungen seien teilweise seit mehreren Jahren in Kraft. Würden diese Reformen aufgehoben, fielen bereits getätigte Dispositionen der Unternehmen dahin. Dies würde den Grundsätzen von Treu und Glauben widersprechen.
Abgelehnte Volksentscheide werden eher aufgehoben
Ist das Gericht somit eher geneigt, abgelehnte als angenommene Volksentscheide aufzuheben? Andreas Glaser bejaht dies. Es handle sich um einen Fehler im System: Denn eine Falschinformation werde oft erst nach einer gewissen Zeit entdeckt. Bis der Fall dann vor dem Bundesgericht lande, seien meist ein paar Jahre vergangen und die neu eingeführten Regelungen bereits in Kraft. Dadurch stehe das Argument der Rechtssicherheit praktisch immer der Aufhebung angenommener Vorlagen entgegen. Es wäre deshalb ehrlicher, keine Abstimmungsbeschwerde zuzulassen, so Glaser. Die geplante direkte Beschwerde ans Bundesgericht könnte hier eine Verbesserung bedeuten, da dadurch wichtige Zeit gespart wird.
Der Zürcher Staatsrechtsprofessor verweist darauf, dass das Bundesgericht dem Argument der Rechtssicherheit auch weniger Gewicht zumessen könnte. Schliesslich decke der Grundsatz von Treu und Glauben auch das Vertrauen der Bevölkerung in die Informationstätigkeit der Behörden, sagt Glaser. Dem trage das Bundesgericht in seiner bisherigen Rechtsprechung viel zu wenig Rechnung.
Zudem gäbe es durchaus Ansätze, die Rechtssicherheit einzubeziehen und dennoch Falschinformationen angemessen zu sanktionieren. So hätte das Gericht etwa in seinem Urteil zur AHV-Reform die Erhöhung der Mehrwertsteuer erst ab diesem Jahr aufheben können, so Glaser. Dadurch wäre keine komplizierte Rückabwicklung notwendig gewesen.