Wer sich keinen Zivilprozess leisten kann, hat unter Umständen Anspruch auf die unentgeltliche Rechtspflege (URP). Das heisst: Die Gerichtskosten und die Kosten für den Anwalt übernimmt der Staat – allerdings nur vorläufig.
Artikel 123 der Zivilprozessordnung (ZPO) hält fest: «Eine Partei, der die unentgeltliche Rechtspflege gewährt wurde, ist zur Nachzahlung verpflichtet, sobald sie dazu in der Lage ist.» Eine höchst unklare Formulierung. Das Gesetz regelt weder die Modalitäten noch die Voraussetzungen der Rückzahlung.
plädoyer befragte im Juni die deutschsprachigen Kantone nach ihrer Rückzahlungspraxis. Ergebnis: Es gibt sehr grosse Unterschiede. In den meisten Kantonen erhalten Betroffene drei bis fünf Jahre nach Verfahrensende standardmässig einen Brief, in dem sie aufgefordert werden, die vorgeschossenen Prozesskosten zurückzuzahlen.
Zum Teil redet die kantonale Inkassostelle den Begünstigten ins Gewissen. «Nur durch ein solches Rückzahlungssystem ist es uns weiterhin möglich, auch anderen Personen durch das vorübergehende Erlassen der Prozesskosten zu helfen», steht zum Beispiel im Standardschreiben der zentralen Inkassostelle des Zürcher Obergerichts.
Wer zur Rückzahlung in der Lage ist, aber nicht freiwillig zahlt, muss mit einem Verfahren rechnen. Ausser in wenigen Kantonen wie etwa Appenzell Ausserrhoden, Thurgau oder Uri gibt es dazu Entscheide. Im Kanton Zürich sind 26 Urteile in der Online-Entscheiddatenbank publiziert.
Zuständig für die Rückforderung der Prozesskosten ist in der Regel das Gericht, das die URP gewährt hatte. In den Kantonen Bern und Graubünden hingegen verfügt die kantonale Steuerverwaltung die Rückzahlung, im Kanton Freiburg das Amt für Justiz.
Manche Kantone fordern kleine Beträge nicht ein
Die meisten Kantone kennen interne Richtlinien für die Beurteilung der Nachzahlung. Ausnahmen sind etwa Glarus, Thurgau oder Uri, die frei entscheiden. Im Kanton Schaffhausen «ist das Verfahren betreffend Nachzahlungspflicht noch nicht geregelt», sagt Ralph Heydecker vom Kantonsgericht. Dies obwohl Artikel 123 der Zivilprozessordnung seit bald 14 Jahren in Kraft ist.
Zur Rückzahlung der Prozesskosten ist verpflichtet, wer «dazu in der Lage ist». Eine vage Formulierung, die von den Kantonen bei den massgeblichen Faktoren Einkommen und Vermögen höchst unterschiedlich interpretiert wird. Bei der Berechnung des Betrags, der den Betroffenen für ihren Lebensaufwand zu belassen ist, gehen die meisten Kantone vom betreibungsrechtlichen Existenzminimum aus.
Nur der Kanton Glarus greift auf die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) zurück, die bei der Sozialhilfe massgebend sind. Grund dafür ist eher ein Zufall denn ein planmässiges Vorgehen: «Die für die Rückzahlung zuständige Person kommt aus dem Sozialbereich», sagt Erich Hug von der Verwaltungskommission der Gerichte.
Zum Existenzminimum sind die Steuern hinzuzurechnen, wie das Bundesgericht in einem Urteil vor drei Jahren klargestellt hat (2C_275/2020). Ausser Freiburg und Obwalden gewähren alle Kantone einen Zuschlag auf den monatlichen Grundbetrag, der zwischen 15 Prozent (BL und BS) und 30 Prozent (etwa AR, AI und SG) liegt. Zug gewährt einen fixen Zuschlag von 500 Franken (siehe Tabelle im PDF).
Das so berechnete erweiterte Existenzminimum wird mit dem Einkommen verglichen. Ist dieses höher als das Existenzminimum, kann der Überschuss für die Bezahlung der Prozesskosten vom Kanton eingefordert werden.
Doch die Einnahmenüberschüsse werden ganz unterschiedlich geltend gemacht. So werden im Aargau und in Zürich bereits geringe Beträge zwischen 50 und 100 Franken pro Monat zurückgefordert. In den Kantonen Basel-Landschaft und Freiburg geschieht das nur, wenn der Überschuss mehr als 100 bis 150 Franken (BL) respektive 300 Franken (FR) beträgt.
Anders die Kantone Bern und Graubünden: Sie verzichten ganz auf die Nachzahlung, wenn die Prozesskosten mit einer monatlichen Ratenzahlung nicht innerhalb von zwei (BE) oder fünf Jahren (GR) zurückbezahlt werden können.
Nur die Kantone Bern, Thurgau und Zürich kennen ein steuerbares Mindesteinkommen, das nicht angetastet wird. In Bern sind es 35 000 Franken, im Thurgau 50'000 Franken und in Zürich 45'000 Franken für Einzelpersonen sowie 55'000 Franken für Paare.
Freibeträge beim Vermögen bis 40'000 Franken
Beim Vermögen variiert die kantonale Praxis erheblich. Nur in Obwalden und im Thurgau gibt es keinen Freibetrag. Der Kanton Aargau wollte keinen fixen Betrag beziffern und verwies auf den «Notgroschen», dessen Höhe nicht generell, sondern im Einzelfall festgelegt werde. In den anderen Kantonen gelten Limiten von 5000 (AI, BE), 10'000 (GL, LU) bis zu maximal 40'000 Franken in Zürich.
Der Anspruch auf Rückzahlung verjährt zehn Jahre nach Abschluss des Verfahrens (Artikel 123 Absatz 2 ZPO). Die Verjährungsfrist kann unterbrochen werden, etwa mittels Anerkennung oder Teilzahlung. Trotzdem fordern die meisten Kantone die Prozesskosten nur während maximal 10 Jahren zurück.
Anders etwa die Kantone Nidwalden, St. Gallen oder Zug. Sie fordern die Rückzahlung der Kosten über einen längeren Zeitraum – und sogar noch nach dem Tod der betroffenen Person von deren Erben.
Das Inkasso lohnt sich für die Kantone. In Bern flossen vergangenes Jahr rund 4,7 Millionen Franken an vorgeschossenen Kosten zurück in die Staatskassen. In St. Gallen waren es 1,3 Millionen und im Kanton Baselland knapp 1,2 Millionen Franken. In kleinen Kantonen wie Appenzell Innerrhoden machten die Rückzahlungen nur gerade 4150 Franken aus.
Das Bundesgericht ist grosszügig
Recht locker geht das Bundesgericht mit der Rückforderung vorgeschossener Prozesskosten um. «Drei Jahre nachdem einer Partei die unentgeltliche Rechtspflege gewährt wurde, fordert das Bundesgericht sie einmal zur Rückzahlung auf, falls sich ihre Situation verbessert hat», sagt Sprecher Peter Josi.
Ist das nicht der Fall oder reagiert die Person nicht auf das Schreiben, ist Schluss. Auch von den Erben fordert das Bundesgericht die offenen Prozesskosten nicht zurück. Letztes Jahr flossen 51'000 Franken an vorgeschossenen Kosten zurück in die Bundesgerichtskasse. Das sind nur etwa sieben Prozent der rund 700'000 Franken erlassenen Prozesskosten.
Nachbarländer sind grosszügiger
Wer in Deutschland, Österreich oder im Fürstentum Liechtenstein zu wenig Geld zum Prozessieren hat, erhält die unentgeltliche Rechtspflege, die sich in Deutschland Prozesskostenhilfe und in den beiden anderen Ländern Verfahrenshilfe nennt. Bei verbesserten Einkommens- und Vermögensverhältnissen müssen die vorgeschossenen Prozesskosten zurückbezahlt werden.
Die Fristen für die Rückzahlung sind jedoch zum Teil kürzer als in der Schweiz (siehe Tabelle im PDF). In Österreich beträgt sie drei Jahre, in Deutschland vier Jahre. Im Fürstentum Liechtenstein sind es zehn Jahre. Danach ist aber auch dort Schluss.