Die Begrüssung auf der Treppe im Uni-Hauptgebäude ist freundlich: «Willkommen an der Tagung», sagen zwei Mitarbeiterinnen und händigen den Besuchern einen Badge aus. Später öffnet sich die Tür zur eleganten Aula, wo Winston Churchill 1946 seine bekannte Rede über die «Tragödie Europas» an die akademische Welt richtete.
Die Tagungsbesucher sind allerdings weder in Besitz eines physischen Badges, noch können sie die Churchill-Gedenktafel berühren. Denn die Begrüssung auf der Treppe und der Einlass in die Aula spielen sich wie die ganze Veranstaltung lediglich auf dem Bildschirm ab.
Zum ersten Mal seit 1999 hätte die Junge Tagung Öffentliches Recht wieder in Zürich stattfinden sollen. Doch die Pandemie zwang die Veranstalter zur digitalen Durchführung. Immerhin: Via Video erhält man nicht nur einen Einblick in die Zürcher Uni, man lernt auch das Schweizer Organisationsteam kennen. Und eine auf das Stadtzentrum gerichtete Webcam vermittelt den Teilnehmern aus dem ganzen deutschsprachigen Raum etwas Zürcher Atmosphäre.
Nils Melzer: “Klammert euch an eure Integrität”
An der Tagung, die vom 15. bis zum 18. Februar dauerte, haben sich 450 Personen angemeldet. Die meisten Vorträge werden von wissenschaftlichen Mitarbeitern von Staatsrecht-Lehrstühlen in Deutschland, Österreich und der Schweiz in deutscher Sprache gehalten. Die habilitierten Chefs sind – wie es dem Zweck der Tagung entspricht – nicht dabei. Das erste Mal abgehalten wurde die Veranstaltung 1961 in Hamburg.
Die 62. Tagung steht unter dem Zeichen «Recht und Verantwortung». Nils Melzer erklärt in seinem Festvortrag am Eröffnungsabend, was das eher theoretische Thema für ihn bedeutet. Der Uno-Sonderberichterstatter für Folter, der im Juli eine Direktorenstelle beim IKRK annehmen wird, sitzt in einem abgedunkelten Raum vor einer Bücherwand. Er erzählt, wie er bei der Ausübung seines Mandats immer wieder auf Widerstände stiess. Den meist jungen Zuhörern rät er für ihren weiteren Werdegang: «Klammert euch nicht an Funktionen und Titel. Klammert euch an eure Integrität!» Nach dem rund zwei Stunden dauernden Referat sind auf dem Bildschirm Klatsch-Symbole zu sehen, welche die rund 200 Zuhörer spenden.
Aktion “Big Dreams” über Missstände im Strafvollzug
Den Auftakt des folgenden Tages bildet eine Veranstaltung zum Thema «Verantwortung und Technologie». Es geht um Algorithmen, um die Drittwirkung von Grundrechten und um die Macht der grossen Internetkonzerne.
Vor der Mittagspause stellen die Initiatoren der Aktion «Big Dreams» ihr Projekt vor. In dessen Zentrum steht Brian, der unter dem Pseudonym Carlos zum wohl bekanntesten Gefangenen der Schweiz wurde. Das Projekt will auf Missstände im Schweizer Strafvollzug aufmerksam machen und dem seit rund zehn Jahren inhaftierten Brian ein Gesicht und eine Stimme geben. Dies unter anderem mit einem Rap-Song, den Brian in der Strafanstalt aufgenommen hat. Der Auftritt des Künstlerkollektivs sorgt für Abwechslung in der Veranstaltung, die ansonsten von einer dezidiert fachjuristischen Note geprägt ist.
“Nichtangriffspakt” von Justiz und Macht
Diese kommt unter anderem in der Veranstaltung zum Thema «Verantwortung der Rechtswissenschaft» voll zur Entfaltung. Da erfährt man, dass die «Distanz» und die Scheu vor Positionsbezug den juristischen Habitus entscheidend prägen. Die Referentin Antonia Paulus von der Universität Freiburg im Breisgau zitiert den Soziologen Pierre Bourdieu, der einst von einem «Nichtangriffspakt zwischen dem juristischen Feld und dem Feld der Macht» sprach. Neben Klatsch-Symbolen hagelt es auf dem Bildschirm auch Eulen-Emojis als Zeichen für Weisheit.
Weitere Veranstaltungen handeln von «Verantwortung im Gesundheits- und Polizeirecht» sowie von «Verantwortung und Umwelt». An einer Podiumsdiskussion wird über das Thema «Verantwortung von Rechtswissenschaft für die Gestaltung der Rechtsordnung» gesprochen. Nach jedem Referat stellen Zuhörer Fragen, es entstehen Diskussionen auf teils hohem akademischem Niveau.
Wer ob all der klugen Ausführungen den Kopf lüften will, kann in Pausen an interaktiven Yoga-Lektionen teilnehmen. Oder ganz banal auf die Toilette gehen. Im Menü gibt es dafür eine eigene Funktion. Wer draufklickt, begegnet einer Tagungsorganisatorin, die im Uni-Hauptgebäude den Weg zum stillen Örtchen weist. Mehr Realismus im Digitalen geht kaum.