Straffällige Ausländer werden mit der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative bei einer Verurteilung wegen bestimmter Delikte automatisch des Landes verwiesen. Diese Straftaten basieren auf dem Tatbestandskatalog von Artikel 66a Strafgesetzbuch und reichen von einfacheren Vergehen wie Diebstahl in Kombination mit Hausfriedensbruch bis zu schweren Verbrechen wie Mord.
Ende des vergangenen Jahres veröffentlichte das Staatssekretariat für Migration (SEM) erstmals Zahlen zur Vollzugsquote von Ausschaffungen: 2250 Verurteilte wurden im Jahr 2023 des Landes verwiesen. Bis Mitte 2024 wurden 1671 vollzogen.
Mehr Landesverweise als erwartet
Gemässs SEM wird die Zahl noch steigen, da der Vollzug eine gewisse Zeit brauche. Bei den Landesverweisen, die in den ersten Monaten des Jahres 2023 verhängt wurden, liegt die Vollzugsquote bei 87,1 Prozent. Es ist davon auszugehen, dass 10 Prozent der 2023 verhängten Landesverweise nicht vollzogen werden.
Die SVP prognostizierte im Abstimmungsbüchlein des Bundes, dass bei Annahme der Ausschaffungsinitiative jährlich 1500 Ausländer ausgewiesen werden. Die tatsächlichen Zahlen übersteigen die damaligen Erwartungen. Dennoch ist der Partei die Härtefallklausel seit Inkrafttreten der automatischen Landesverweisung ein Dorn im Auge. Die Klausel erlaubt es, bei prekären Fällen auf eine Ausschaffung zu verzichten. In den letzten Jahren sahen die Gerichte bei rund 40 Prozent der Verurteilten aufgrund einer Katalogstraftat von einem Landesverweis ab.
Der Verzicht auf eine Landesverweisung hängt allerdings nur in der Hälfte der Fälle mit der Härtefallklausel zusammen. Beim Rest standen andere Gründe dem Landesverweis entgegen – zum Beispiel die Begehung der Straftat in einer Notwehr- oder Notstandsituation.
Die Verhängung eines Landesverweises nimmt mit der Schwere des Delikts zu. So wurde letztes Jahr bei Freiheitsstrafen ab sechs Monaten nur in rund 15 Prozent der Fälle von einer Landesverweisung abgesehen. Bei Freiheitsstrafen ab vier Jahren waren es gar nur 5 Prozent. Umgekehrt verzichteten die Gerichte bei Geldstrafen in 95 Prozent der Fälle auf eine Landesverweisung.
Die Anwendung der Härtefallklausel hängt oft damit zusammen, dass die Strafbehörden die Landesverweisung bei gewissen leichten Delikten nicht als verhältnismässig erachten. Dieser Punkt führte bereits vor der Abstimmung zu Diskussionen und hatte zur Folge, dass das Parlament die Härtefallklausel einführte.
Wegen geringfügiger Straftaten ausgeschafft
Die Zürcher Anwältin Fanny de Weck kritisiert die Praxis der Landesverweisungen auch bei geringfügigen Straftaten. Sie nennt Fälle, bei denen die Gerichte trotz Härtefallklausel Verurteilte mit längerem Wohnsitz in der Schweiz des Landes verwiesen. Beispiele:
- Ein Iraker wurde wegen des Besitzes und Versands eines verbotenen Pornos zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen verurteilt. Er lebte seit 13 Jahren in der Schweiz und war gut integriert.
- Eine Österreicherin wurde wegen unrechtmässigen Bezugs von Sozialhilfe (9200 Franken) zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen verurteilt. Sie lebte seit 18 Jahren in der Schweiz.
- Eine Kosovarin betrog die Arbeitslosenkasse um 17'000 Franken. Sie wurde zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen verurteilt. Sie lebte seit 28 Jahren in der Schweiz, alle drei erwachsenen Kinder wurden hier geboren.
- Ein Deutscher, der seit 2008 in der Schweiz lebt, wurde wegen mehrfacher verbotener Pornografie zu einer bedingten Geldstrafe von 180 Tagessätzen verurteilt.
Das Bundesgericht bestätigte all diese Landesverweise. Vor Annahme der Ausschaffungsinitiative wäre dies nicht möglich gewesen: Laut Ausländergesetz konnten nur Personen mit Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung ausgeschafft werden, die zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt wurden.
Das Bundesgericht bezeichnete in seiner Rechtsprechung einige der leichteren Katalogstraftaten als Bagatelldelikte. Deswegen hob es auch schon Landesverweise auf. In den meisten Fällen zeigte sich das Gericht jedoch unnachgiebig: So bejahte es nur in einer Handvoll Fällen die Anwendung der Härtefallklausel und hob das Urteil der Vorinstanz auf. Und in rund einem Dutzend Fälle liess es einen Landesverweis von der unteren Instanz erneut prüfen.
Umgekehrt hob das Bundesgericht in ähnlich vielen Fällen den Verzicht auf einen Landesverweis durch die Vorinstanz auf und verlangte eine nochmalige Prüfung, ob die straffällige Person nicht doch verwiesen werden soll. Dabei verwies es auf seine Rechtsprechung, welche die Härtefallklausel restriktiv anwendet.
Gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts dient die vom Parlament verabschiedete Härtefallklausel dazu, das verfassungsmässige Verhältnismässigkeitsprinzip zu wahren, wonach die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind. Massgebend ist die Schwere der Straftat sowie das Verhalten seit der Verurteilung, die Dauer des Aufenthalts in der Schweiz und die wirtschaftliche und soziale Integration – Letzteres sowohl in der Schweiz als auch im Herkunftsland.
Nicht nur das Verhältnismässigkeitsprinzip, sondern auch die Menschenrechte stehen einer kompromisslosen Umsetzung der Ausschaffungsinitiative entgegen. So verbietet das Non-Refoulement-Gebot die Rückweisung von Flüchtlingen in ihr Heimatland. Die Strafjustiz zeigt sich beim Non-Refoulement-Gebot allerdings teilweise härter als das restriktive SEM. Letzten Oktober bestätigte das Bundesgericht etwa einen Landesverweis nach Togo, obwohl das SEM in einem Gutachten davon ausging, dass eine unmenschliche Behandlung des Beschwerdeführers drohe.
Die Stimmbevölkerung stützt die Härtefallklausel
Auch der Anspruch auf Wahrung des Familienlebens gemäss Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention kann zu einem von den Gerichten zu berücksichtigenden Härtefall führen. Zudem ist der Situation von Secondos Rechnung zu tragen.
De Weck kritisiert, das Bundesgericht habe bisher dennoch selbst bei Secondos nur dann einen Härtefall bejaht, wenn sie gut integriert waren. Dies verstosse gemäss dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen das Recht auf Privatleben.
Der Gerichtshof verurteilte die Schweiz im letzten September zum ersten Mal wegen einer Landesverweisung, da das Bundesgericht das Recht auf Familienleben zu wenig berücksichtigt hatte.
Die Stimmbevölkerung wiederum stützte die menschenrechtskonforme Anwendung der Ausschaffungsinitiative. So verwarf das Volk sechs Jahre nach deren Annahme die Durchsetzungsinitiative der SVP deutlich. Die Initiative wollte obligatorische Landesverweise ohne Anwendung der Härtefallklausel ermöglichen.