Vergangenes Jahr befanden sich in der Schweiz 2305 Personen in ausländerrechtlicher Administrativhaft. Formal ist sie keine Strafe, sondern eine Verwaltungsmassnahme im Rahmen des Ausländerrechts. Sie zielt darauf ab, die Ausreise aus der Schweiz sicherzustellen. Der Freiheitsentzug kann gemäss Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) bis zu 18 Monate dauern. Angesichts dieses schwerwiegenden Eingriffs stellt sich die Frage nach dem Rechtsschutz für die Inhaftierten.
Im Grundsatz sind Haftprüfungsverfahren durch Bundesrecht vorgegeben. Die konkrete Ausgestaltung obliegt den zuständigen Administrativbehörden. Dazu gehört auch die Frage der Vertretung der Betroffenen und damit des Rechts auf einen unentgeltlichen Rechtsbeistand. Das AIG selbst enthält keine Regelung. Laut Bundesgericht muss bei der ersten richterlichen Haftprüfung auf Antrag hin eine Rechtsvertretung nur gewährt werden, wenn der Fall besondere sachliche oder rechtliche Komplexitäten aufweist. Nach Ablauf von drei Monaten darf der Rechtsbeistand bei Bedürftigkeit dann auf Gesuch hin im richterlichen Haftprüfungsverfahren grundsätzlich nicht mehr verweigert werden (BGE 122 I 49 und 139 I 206).
Der Staat steht in der Pflicht
Diese Praxis stösst auf Kritik. «Eine Rechtsvertretung muss viel früher erfolgen», fordert beispielsweise die Badener Rechtsanwältin Tamara De Caro. «Ab dem Moment, in dem der Staat einer Person die Freiheit entzieht, ist eine rechtliche Vertretung unerlässlich. Der Staat muss sicherstellen, dass die betroffene Person rechtliche Unterstützung erhält.» De Caro arbeitete bis 2020 für das Aargauer Migrationsamt. Sie sagt aus Erfahrung: «Die Mehrheit der Inhaftierten ist enorm verängstigt, zum Teil traumatisiert und mit dem, was geschieht, überfordert.» Ausserdem verstünden viele die Amtssprachen entweder gar nicht oder nur ungenügend.
Der Basler Titularprofessor Peter Uebersax pflichtet ihr bei. Der Freiheitsentzug führe bei vielen Betroffenen zu Verwirrung. «Sie nehmen fälschlicherweise an, dass sie sich in einem Strafverfahren befinden.» Im Asylbereich sei «die amtliche Rechtsvertretung institutionalisiert», und es wurde erkannt, dass die Betroffenen von Anfang an einen Rechtsbeistand benötigen.
Dieser Schritt sollte gemäss Uebersax auch im Bereich der Administrativhaft umgesetzt werden. Nach seiner Einschätzung genügt es nicht, wenn ein Migrationsamt die Betroffenen lediglich darauf hinweise, dass sie einen Anwalt hinzuziehen können, dafür aber selbst aufkommen müssten. «Dies hilft kaum je weiter. Denn die meisten Betroffenen verfügen nicht über ausreichende Mittel, um eine Rechtsvertretung selbst zu bezahlen.»
Entscheidend ist die erste richterliche Haftprüfung
Auch Thomas Hugi Yar fordert eine Verbesserung des Rechtsschutzes. Der langjährige Bundesgerichtsschreiber und ehemalige wissenschaftliche Berater am Bundesgericht hat einen Überblick über die Praxis rund um die Administrativhaft der verschiedenen Kantone. Er hält der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zugute, dass sie berücksichtigt, dass Ausländer, denen eine freiheitsentziehende Zwangsmassnahme droht, in der Regel nicht mit den hiesigen Verhältnissen und Sprachen vertraut sind und daher als «vulnerabel» zu gelten hätten.
Doch kritisiert er: «Die Schwere des Eingriffs eines Freiheitsentzugs in die Rechtspositionen der Betroffenen wird zu wenig gewichtet.» Die Rechtsprechung knüpfe an die Komplexität der aufgeworfenen Fragen an und blende die Auswirkungen der Haft zu sehr aus. «Je länger die Haft dauert, umso schwerer greift sie in die Rechtsposition der betroffenen Person ein.»
Hugi Yar stimmt Uebersax darin zu, dass die Rechtsberatung bei der ersten richterlichen Haftprüfung von besonderer Bedeutung ist. In der Folge werde weitgehend auf diesen Entscheid abgestellt. Deshalb sei wichtig, dass die Weichen richtig gestellt würden. In diesem Moment sei das Bedürfnis nach Rechtsberatung am grössten.
Der Ausländerrechtsexperte verweist darauf, dass die verschiedenen Arten von richterlichen Haftprüfungsverfahren, wie sie vom Bundesrecht vorgegeben sind, selbst für Anwälte ausserhalb des Migrationsrechts sehr herausfordernd sind. Die Zahl der administrativ Inhaftierten ist in den Kantonen höchst unterschiedlich.
Kantone lehnen Anträge wegen Aussichtslosigkeit ab
Am meisten Administrativhäftlinge verzeichneten in den vergangenen zwei Jahren die Kantone Bern, Genf, Luzern, St. Gallen und Zürich. Keine administrativen Einweisungen gab es in Appenzell Innerrhoden und Obwalden (siehe Tabelle). Hugi Yar fordert «eine Vereinheitlichung im Hinblick auf einen verfassungs- und konventionskonformen Rechtsschutz». Die Rechtfertigung der unterschiedlichen Haftprüfungsverfahren sei zu überdenken und die Verbeiständungsfrage danach gemäss den Bedürfnissen des gewählten vereinheitlichten richterlichen Verfahrens festzulegen.
Laut dem Experten fällt auf, dass in manchen Kantonen eine Tendenz dazu bestehe, «von einer Aussichtslosigkeit der Begehren auszugehen», um eine unentgeltliche Rechtsvertretung ablehnen zu können. Das bestätigen Migrationsrechtspraktiker in den Kantonen Basel-Stadt, Bern, Luzern, Thurgau und Zug. Eine Zuger Richterin sieht überhaupt keinen Sinn in einer rechtlichen Verbeiständung in Administrativverfahren. Sie sagt: «Eigentlich hat ein Anwalt in diesem Verfahren nichts zu suchen. Es ist nicht sinnvoll, hier eine Rechtsvertretung zu bestellen, da das Gericht das Verfahren von Amtes wegen führt und unabhängig den Fragen nachgeht. Es ist auch nicht wirklich möglich, dass ein Anwalt hier sinnvolle Arbeit leistet. Er stört vielmehr.»
Vorbilder für einen besseren Rechtsschutz auf Kantonsebene orten Praktiker aktuell einzig in den Kantonen Aargau und Freiburg. Beide halten gesetzlich fest, dass Personen in Administrativhaft bei einer vorgesehenen Inhaftierung von über einem Monat oder einer Verlängerung um eine solche Dauer automatisch eine Rechtsvertretung erhalten müssen.
Aargau: Ab 30 Hafttagen eine Rechtsvertretung
Im Aargau wurde die amtliche Rechtsvertretung durch Marc Busslinger aufgebaut, der seit 1996 als Haftrichter amtet. Seiner Erfahrung nach haben die Inhaftierten in der Regel nur beschränkte Kenntnisse des hiesigen Rechtssystems und der Landessprachen. «Ein rechtlicher Beistand ist schon aus diesem Grund sowie mit Blick auf den gravierenden Eingriff in das Freiheitsrecht der Betroffenen unumgänglich.»
Busslinger führt am Gericht eine Liste mit Anwälten, die sich im Ausländerrecht gut auskennen und sich bereit erklärt haben, Administrativhaftfälle zu übernehmen. «Den Betroffenen wird eine amtliche Rechtsvertretung zugewiesen, wenn das Migrationsamt eine Haft von 30 Tagen oder mehr anordnet», sagt Busslinger. Die Auswahl richte sich nach Verfügbarkeit und Zufallsprinzip.
Stellt Busslinger fest, dass sich ein Anwalt nicht angemessen für die Rechte seines Mandanten einsetzt oder dass er unvorbereitet ist, erhält er eine mündliche Ermahnung. «Ich bin nicht an willfährigen Rechtsvertretern interessiert, ich strebe rechtskonforme Urteile an», bekräftigt er.
Im Kanton Zürich verbesserte sich der Rechtsschutz dank dem Engagement aus Kreisen der Demokratischen Juristinnen und Juristen Zürich. Sie waren 2021 an der Gründung des Piketts Administrativhaft beteiligt. Gemäss der Co-Präsidentin Antigone Schobinger besteht in vielen Fällen ein Anspruch auf unentgeltliche Rechtsvertretung. Die Pikettanwälte würden unabhängig von der Sicherstellung der Bezahlung die Vertretung vor dem Zwangsmassnahmengericht übernehmen.
In Bern setzt sich seit 25 Jahren die Kirchliche Anlaufstelle Zwangsmassnahmen Kanton Bern (KAZ) für einen verbesserten Rechtsschutz ein. Sie entstand in Absprache mit dem Regierungsrat und wird von den Landeskirchen und der Jüdischen Gemeinde getragen. So können Inhaftierte den KAZ-Geschäftsführer und Fürsprecher Thomas Wenger kontaktieren und ihre Haftakten von ihm überprüfen lassen. «Ich schaue dann, ob mögliche rechtliche Schritte einzuleiten sind», sagt Wenger. Alle Inhaftierten würden unmittelbar nach der Festnahme ein Merkblatt in ihrer Sprache erhalten, in dem auch auf die KAZ aufmerksam gemacht wird.
Regelung zur Dublin-Haft ausweiten
Thomas Hugi Yar spricht sich dafür aus, die Regelung zur Dublin-Haft auf alle Fälle von Administrativhaft auszuzweiten: «Bei Bedürftigkeit sollte eine Rechtsvertretung bereits bei der ersten richterlichen Haftprüfung – entweder von Amtes wegen oder auf Antrag – gewährt werden, ohne das Erfordernis einer besonderen rechtlichen oder tatsächlichen Komplexität oder der Prüfung der Erfolgsaussichten.» Bei Haftverlängerungen oder Anträgen auf Entlassung könnte die Rechtsvertretung auf Antrag erfolgen, unter der Bedingung, dass die allgemeinen Voraussetzungen wie Bedürftigkeit, fehlende Aussichtslosigkeit und Notwendigkeit der anwaltlichen Vertretung erfüllt sind.