plädoyer: Im «International Family Law Journal» 3/2018 vertreten Sie die These, das Kindeswohl stehe bei internationalen Kindesrückführungen nicht im Vordergrund. Widerspricht diese Auffassung nicht dem Haager Übereinkommen?
Peter Diggelmann: Ich äusserte mich absichtlich provokativ. Kinder sind verletzlich, man muss ihnen besonders Sorge tragen. Selbstverständlich gilt das uneingeschränkt auch im Bereich des Haager Übereinkommens. Ich wollte etwas anderes zum Ausdruck bringen: Es ist ein erklärtes Ziel dieses Abkommens, dass ein Kind, das widerrechtlich in einen anderen Staat verbracht wurde, sofort zurück ins Herkunftsland geführt wird. Dabei geht es in erster Linie darum, dass zerstrittene Eltern ihre Kinder nicht als Werkzeug benutzen. Sie dürfen die Zuständigkeit der Kindesschutz- und Familienrechtsbehörde nicht unterlaufen. Ob es dem Kind beim entführenden oder beim zurückgelassenen Elternteil «wohler» ist, ist zunächst nicht die Fragestellung.
plädoyer: Es geht also bei der Anwendung des Abkommens nur darum, die Sache dem zuständigen Richter zu unterbreiten?
Diggelmann: Ja. Das Kind darf der zuständigen Instanz nicht entzogen werden. Also jener Behörde, die nach Verfassung, Gesetz und internationalem Recht die Belange des Kindes regeln und das Kind schützen muss. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass verschiedene Gerichte in guten Treuen zu verschiedenen Auffassungen kommen können: Gerechtigkeit besteht ja weitgehend aus der Fairness des Verfahrens. Der Streit, der typischerweise unter den Eltern ausgebrochen ist, muss vom Gericht am Wohnort der Familie beurteilt werden.
plädoyer: Wie sieht ein solches Verfahren in der Schweiz konkret aus?
Diggelmann: Beispielsweise wandert ein Schweizer Ehepaar nach Frankreich aus. Es bekommt am französischen Wohnort zwei gemeinsame Kinder. Irgendwann bricht die Ehe auseinander. Die Betreuung der Kinder müsste neu geregelt werden – und zwar vom französischen Familiengericht. Doch die Mutter reist zusammen mit den Kindern zurück in den Kanton Zürich – ohne Einwilligung des Vaters. Sie wendet sich ans hiesige Bezirksgericht und verlangt von diesem, die Betreuung und Obhut der Kinder zu regeln. Ein solcher Fall wird von uns nach den Regeln des Haager Abkommens abgewickelt, weil die Mutter ihre Kinder widerrechtlich in die Schweiz brachte. Das Zürcher Obergericht entschied, dass die Kinder zurück an ihren Wohnort in Frankreich gebracht werden müssen. Die Mutter darf ihre Kinder nicht dem zuständigen französischen Gericht entziehen.
plädoyer: Warum war das ein Fall fürs Obergericht und nicht für das von der Mutter angerufene Bezirksgericht?
Diggelmann: Das Obergericht ist für die Fälle der internationalen Kindesrückführungen zuständig. Gerichtsintern ist es ausschliesslich die II. Zivilkammer. Das Einführungsgesetz zum Abkommen, also das Bundesgesetz über internationale Kindesentführung und die Haager Übereinkommen zum Schutz von Kindern und Erwachsenen, hält fest, dass es pro Kanton nur eine Gerichtsinstanz geben darf. Sie bleibt für die ganze Schweiz zuständig, sobald das Verfahren eröffnet ist. Ein Elternteil kann also nicht von Kanton zu Kanton ziehen und damit erreichen, dass die Verfahren immer wieder neu beginnen. Das ist in der Vergangenheit tatsächlich geschehen und hat zu unhaltbaren Verzögerungen geführt – und zu unerträglichen Situationen.
plädoyer: Das Obergericht kann sich aber auch gegen eine Rückführung entscheiden.
Diggelmann: Natürlich! Wir müssen von Amtes wegen Artikel 13 des Haager Übereinkommens prüfen, der die Gründe für eine Ablehnung der Rückführung regelt. Dazu gehört eine schwerwiegende Gefahr oder eine unzumutbare Lage für das Kind, dessen eigene Meinung oder aber die Zustimmung des anderen Elternteils. Diese Bestimmung wird von den Entführenden fast immer angerufen. Wir sorgen übrigens dafür, dass die Parteien stets anwaltlich vertreten sind. Bei solch internationalen Sachverhalten ist ein Gerichtsverfahren ohne Anwältin oder Anwalt unzumutbar. Auch die Kinder erhalten stets eine anwaltliche Vertretung.
plädoyer: Wie gross ist Ihr Ermessensspielraum?
Diggelmann: Das Abkommen verlangt wenn immer möglich eine Rückführung. Das spricht dafür, die Ausnahmegründe restriktiv anzuwenden. Auf der anderen Seite ist klar, dass das Wohl des Kindes berücksichtigt werden muss. Es ist aber auch im Interesse des Kindes, dass man es nicht als Mittel zum Zweck missbraucht. Sind die Voraussetzungen erfüllt, verweigern wir die Rückführung. Solche Gründe liegen selten vor. In der Regel lebten die Familien freiwillig im anderen Staat, die Flucht geschieht erst in Zusammenhang mit ehelichen Schwierigkeiten. Es gibt zwei klassische Konstellationen, in denen wir das Kind nicht zurückführen: Wenn der im Ausland lebende Elternteil klarerweise nicht in der Lage ist, das Kind zu betreuen und das Kind fremdplatziert werden müsste. Und bei Säuglingen. Wir reissen kein Kleinkind von der Mutterbrust.
plädoyer: Inwiefern berücksichtigen Sie den Willen des Kindes?
Diggelmann: Wir müssen die Position des Kindes ermitteln, und das Kind muss seine Meinung äussern können. Das hat zwei Haken: Erstens sind die Kinder häufig zu klein, um die Tragweite des Entscheids zu erfassen. Auch die Eltern – mitunter sogar Anwälte – verstehen oft nicht, worum es geht. Sie können nicht zwischen dem Rückführungsentscheid und dem Entscheid über Sorge und Obhut differenzieren. Das eine kommt zuerst und betrifft nur die Frage des zuständigen Gerichts, das andere folgt im zweiten Schritt. In Rückführungsverfahren werden häufig nur Argumente zu Sorge und Obhut vorgebracht. Zweitens haben Kinder in der Regel beide Elternteile gern. Sie sind aber unmittelbar loyal zur Person, bei der sie sich aufhalten. Darum ist der Kindeswille stark vom anwesenden Elternteil beeinflusst, auch wenn dies nicht aktiv und bewusst gefördert wird.
plädoyer: Wie rasch setzen Sie Rückführungsentscheide um?
Diggelmann: Das Verfahren ist mündlich und damit schnell. Wir versuchen, eine freiwillige Rückführung zu erreichen. Das ist das Schonendste für das Kind, gelingt aber selten. Ich kenne eine deutsche Richterin, die in fast allen Haager Fällen einen Vergleich erreicht. Bei ihr möchte ich mal in die Lehre gehen. Bei einer verfügten Rückführung entsteht bis zur Abreise eine extrem belastende Situation. Darum ordnen wir mitunter an, dass das Kind noch am Tag der Urteilseröffnung zurückgeführt wird. Das Bundesgericht hat diese Praxis im Entscheid 5A_623/2015 ausdrücklich für zulässig erklärt.
plädoyer: Sind Haager Fälle belastend?
Diggelmann: Wir befinden in der Regel «nur» über den Ort, an dem ein Gericht den materiellen Entscheid fällt. Das entlastet uns. Aber es sind schwierige Entscheide, die wir immer in Dreierbesetzung fällen. Die Betroffenen stehen unter grossem Stress, häufig fliessen Tränen. An solchen Tagen ist die II. Zivilkammer im Ausnahmezustand. Um auf das Beispiel mit den beiden in Frankreich geborenen Kindern zurückzukommen: Sie wurden am Tag der Urteilsfällung ans Gericht gebracht. Wir organisieren dann jeweils ein kindgerechtes Mittagessen. Spielzeug, Malstifte und Guetsli stehen parat. Die anwaltliche Kindesvertretung muss im Gerichtssaal mitwirken und kann sich nicht um die Kinder kümmern. Deshalb braucht es eine zusätzliche Betreuung. Zum Glück arbeiten an unserer Kammer junge Mütter, die das ausgezeichnet machen.
plädoyer: Sie haben die Rückführungsfälle des Obergerichts aus den letzten Jahren analysiert. Ihre Schlussfolgerung?
Diggelmann: Es kommt immer wieder zu unvorhergesehenen Wendungen und positiven Überraschungen. Ein Beispiel: Ein Elternpaar, die Mutter Schweizerin, der Vater Südafrikaner, lebte in Südafrika mit einem gemeinsamen Kind. Als die Beziehung auseinanderging, vereinbarten die Eltern schriftlich, dass das Kind nur mit Einwilligung beider Elternteile aus dem Land gebracht werden darf. Doch die Mutter fälschte die Unterschrift des Vaters, nahm das Kind und reiste mit ihm in die Schweiz. Der Vater wusste von nichts, er musste Interpol einschalten. Dieses Verfahren verlief von Anfang an hochdramatisch. Wir entschieden, das Kind müsse zurück zum Vater nach Südafrika gebracht werden. Als wir später nachfragten, erfuhren wir, dass das Kind regelmässig mit der Mutter Kontakt hat und die Sommerferien jeweils bei ihr in der Schweiz verbringt. Der Streit hat sich also nach der Rückführung entspannt – obwohl ich selten ein so angespanntes Verfahren erlebte.
Betroffene Kinder durchschnittlich 6-jährig
Peter Diggelmann hat sich in den 23 Fällen von Rückführungen, welche das Zürcher Obergericht seit 2010 anordnete, nach der aktuellen Situation erkundigt. Er erhielt 15 Antworten. In all diesen Fällen lebten die Kinder zum Zeitpunkt der Nachforschung immer noch im Staat, in den sie zurückgebracht worden waren. In vier Fällen bestand kein Kontakt zwischen dem Kind und dem Elternteil, der es entführt hatte. In den übrigen Fällen sei der Kontakt danach regelmässig bis gut gewesen.
Das Bundesamt für Justiz registrierte bis Ende 2017 total 274 Anträge auf Rückführung. Das betrifft also Kinder, die in die Schweiz entführt wurden. 136 dieser Anträge wurden vor einem Gericht verhandelt. In 60 Fällen wurde eine Rückführung angeordnet, in 24 Fällen die Rückführung abgewiesen. Bei den restlichen 52 Fällen kam es zu einer Einigung oder einem Rückzug.
2017 hat die Schweiz an Vertragsstaaten des Haager Übereinkommens 72 Anträge gestellt, die eine Kindesrückführung oder ein Besuchsrecht betreffen. Im gleichen Jahr trafen aus dem Ausland 40 Anträge ein. Laut Bundesamt handelt es sich beim entführenden Elternteil zu 68 Prozent um die Mutter und bei der Verweigerung des Besuchsrechts zu 87 Prozent um Mütter. Das Durchschnittsalter der Kinder liegt bei sechs Jahren.
Obergerichte als einzige Instanz
Die Schweiz hat das 1980 in Den Haag abgeschlossene Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung 1983 ratifiziert, seit 1984 ist es in Kraft. Das Übereinkommen wurde bisher von über 90 Staaten unterzeichnet.
Es regelt «die sofortige Rückgabe widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter oder dort zurückgehaltener Kinder». Das Verfahren solcher Rückführungen ist weitgehend den Vertragsstaaten überlassen. Die Schweiz hat dazu 2007 das Bundesgesetz über internationale Kindesentführung und die Haager Übereinkommen zum Schutz von Kindern und Erwachsenen geschaffen. Das Gesetz trat am 1. Juli 2009 in Kraft. Es legt fest, dass in jedem Kanton «als einzige Instanz das obere Gericht des Kantons, in dem sich das Kind im Zeitpunkt der Einreichung des Gesuches aufhält», für die Verfahren zuständig ist.