plädoyer: Frau Pally Hofmann, Sie publizierten kürzlich im «Jusletter» einen Beitrag unter dem Titel «Wem gehört die Krankengeschichte?». Ihre Antwort lautete: Sie gehört sowohl dem Arzt als auch dem Patienten. Wie begründen Sie das?
Ursina Pally Hofmann: Der Zweck der Krankengeschichte ist folgender: Ein Arzt muss die Behandlung weiterführen können. Zudem muss er sich dokumentieren und sich gegen allfällige Vorwürfe verteidigen können. Andererseits muss auch der Patient dokumentiert sein, wenn er Ansprüche aus unsorgfältiger Behandlung geltend machen will.
plädoyer: Zwischen Arzt und Patient besteht ein Auftragsverhältnis gemäss den Artikeln 394 ff. Obligationenrecht. Können Patienten gestützt darauf nicht vom Arzt verlangen, dass er die Krankengeschichte im Original herausgibt?
Pally Hofmann: Nein, diese Ansicht teile ich nicht. Die Krankengeschichte muss dem Patienten nützen. Deshalb ist sicherzustellen, dass er auch weiterhin gut behandelt werden kann. Das geht jedoch nur, wenn der Arzt ausreichend dokumentiert ist. Aus diesem Grund wäre eine Herausgabepflicht des Originals falsch.
Atilay Ileri: Da bin ich anderer Meinung. Wahrscheinlich muss man die Ansicht von Frau Pally Hofmann im Rahmen eines Versuchs sehen, das Arzt-Patienten-Verhältnis – ob privat- oder öffentlich-rechtlich – zuungunsten der Patienten zu verschieben. Es ist aber klar, dass man keinen Erfolg hätte, wenn man dazu eine entsprechende Änderung von Artikel 400 OR anstrebte. Also versucht man, mit ein paar juristischen Fachpublikationen andere Meinungen zu verankern – in der Hoffnung, dass ein Richter vielleicht einmal solche Ansichten übernimmt.
plädoyer: Ist denn die Auffassung von Frau Pally Hofmann derart abwegig?
Ileri: Frau Pally Hofmann hat eine mittelalterliche Betrachtungsweise: Der Arzt ist der Herr, der Patient ist der Knecht. Das ist völlig gegen den Trend der letzten Jahrzehnte. Klar ist: Vor allem für die Versicherungsgesellschaften ist es von grosser Bedeutung, wem die Krankengeschichte gehört. Den Ärzten hingegen ist es eigentlich egal. Sie sind nur daran interessiert, dass sie nicht ins Gefängnis kommen oder schadenersatzpflichtig werden. Die Interessen der Versicherungen sind wesentlich grösser als jene der Ärzte und Spitäler.
Pally Hofmann: Ich sehe kein Interesse der Versicherungen daran, dass der Arzt das Original behält. Hingegen hat der Staat ein Interesse an den Krankendaten! Laut Krankenversicherungsgesetz kann er anonymisierte Daten von Leistungserbringern einholen.
Ileri: Der Staat hat kein Interesse an den Krankengeschichten – ausser im Rahmen der Epidemiegesetzgebung. Zurück zum eigentlichen Thema: 1978 gründeten wir die Patientenstelle. Damals sagten die Ärzte zum Beispiel, die Röntgenbilder würden dem Arzt gehören. Heute gibt es Urteile, die besagen, dass Röntgenbilder in privatrechtlichen Verhältnissen dem Patienten gehören. Grundsätzlich gilt heute auch, dass der Arzt dem Patienten das Original der Krankengeschichte herausgeben muss. Heute ist es nicht mehr so wie früher, als der Arzt der König war – zusammen mit dem Pfarrer und dem Lehrer. Wenn Sie diese Verhältnisse wiederherstellen wollen…
Pally Hofmann: Darum geht es nicht. Es geht darum, dass beide Seiten ein Interesse an den Informationen in der Krankengeschichte haben – und ein Recht darauf. Die kantonalen Gesundheitsgesetze und das Datenschutzgesetz gewähren keinen Anspruch auf Herausgabe des Originals. Es ist mir auch kein Vorteil ersichtlich, wenn ein Patient das Original hätte.
plädoyer: Für Spitäler gilt öffentliches Recht. Dort ist die Frage weitgehend so geregelt, dass Kopien herausgegeben werden müssen.
Ileri: Ja, und das ist wichtig. Wenn ich als Patient gegen ein Spital klage, habe ich ein einziges Beweismittel: die Krankengeschichte. Ich bin auf die korrekte Führung der Krankengeschichte und des Operationsberichts angewiesen. Man muss sich bewusst sein, wie schwer es schon ist, zu ermitteln, wer an einer Operation namentlich alles beteiligt war. Zudem befinden sich diese Personen in einem Interessenkonflikt. Die Praxis zeigt, dass es schwierig ist, sie als Zeugen anzurufen. Sie sagen auch nicht immer die Wahrheit. Deshalb eignen sich diese Leute nicht als Beweismittel. Also bleibt nur die Krankengeschichte und deren korrekter Inhalt. Hier will man nun eine Barriere aufbauen, indem man sagt: Die Patienten können die Daten schon verlangen – die Aufzeichnungen gehören aber uns. Im Artikel von Pally Hofmann gibt es verschiedene Begriffe, die für mich rechtlich nicht haltbar sind, wie zum Beispiel der Begriff «Inhaber». Was verstehen Sie rechtlich unter dem «Inhaber» der Krankenakten, Frau Pally Hofmann?
Pally Hofmann: Der Inhaber ist nach Datenschutzgesetz derjenige, der die Datensammlung führt, und das ist bei der Krankengeschichte der Arzt. Er führt die Daten entweder am PC oder auf Papier. Wo soll denn da ein Nachteil für den Patienten entstehen?
Ileri: Man kann die Aufzeichnungen manipulieren. Ich habe dies schon verschiedentlich erlebt. Der forensische Dienst des Kantons Zürich hat dies in einem Verfahren bestätigt.
Pally Hofmann: Manipulationen können schon vor der Herausgabe des Originals vorgenommen werden, weshalb es kaum etwas nützen würde, das Original herauszuverlangen.
plädoyer: Als Patient kann ich ein Interesse daran haben, dass meine Krankenakten nicht in Arztpraxen herumliegen. Beispiel: Ich möchte mit 40 eine Kranken-Zusatzversicherung abschliessen. Dann muss ich auf dem Antrag auflisten, wo ich in Behandlung war. Und der Versicherung eine Ermächtigung geben, die Akten einzusehen. Ist das nicht Grund genug, die Patientenakten privat aufzubewahren?
Ileri: Das Versicherungsvertragsgesetz sieht vor, dass man jene Tatsachen, die für beide Parteien für die Risikoeinschätzung relevant sind, bekanntgeben muss. Tut man das nicht, kann das Folgen haben. Aber: Wenn ich vor sechs Jahren eine Krankheit hatte, die inzwischen geheilt ist, und es mir es heute gut geht, wird mich die Versicherung trotzdem nicht versichern. Also habe ich ein Interesse daran, dass meine Krankengeschichte der Versicherung nicht zugänglich ist. Hier geht es um meine höchstpersönlichen Daten. Die Menschenwürde ist ein verfassungsmässiges Recht.
Pally Hofmann: Niemand kann Sie zwingen, die Daten herauszugeben oder jemanden zur Einsicht zu ermächtigen. Mir wurden von Versicherungen bisher nur Fragen gestellt. Mit dem Hinweis, dass Leistungen nicht erbracht werden können, wenn ich sie falsch beantworte.
plädoyer: Was raten Sie einem Antragsteller, wenn die Versicherung eine allgemeine Vollmacht zur Einsicht in alle Krankenakten seit Geburt verlangt?
Pally Hofmann: Jeder Antragsteller hat das Recht, die Vollmacht zu beschränken. Eine Herausgabe des Originals an den Patienten und somit ein Verschwindenlassen der Krankengeschichte aus der Arztpraxis ist deshalb nicht notwendig.
plädoyer: Sie schreiben in Ihrem «Jusletter»-Aufsatz, ein Patient dürfe nicht frei über seine Krankengeschichte verfügen, wenn er sie herausverlangt hat. Wie kommen Sie zu dieser Auffassung?
Pally Hofmann: Grundsätzlich ist das Original ein Beweismittel. Es ist die Urkunde, die man im Prozess braucht. Es gibt den Straftatbestand der Unterdrückung von Urkunden. Wer eine Urkunde, an welcher mehrere Personen ein Recht haben, nicht mehr zur Verfügung stellt, kann bestraft werden.
Ileri: Die Urkunde ist in Artikel 9 ZGB definiert. Die Krankengeschichte ist demnach zivilrechtlich nie eine Urkunde. Sie ist nach der herrschenden Meinung eine Behauptung des Arztes. Aber aufgrund der faktischen Verhältnisse geht man von deren inhaltlicher Richtigkeit aus.
Pally Hofmann: Ich behaupte nicht, dass die Krankengeschichte zivilrechtlich eine Urkunde ist. Sie ist es prozessual und strafrechtlich. Wichtig ist mir aber Folgendes: Der Arzt hat eine Aufbewahrungspflicht. In den kantonalen Gesundheitsgesetzen wird teilweise festgehalten, dass der Arzt das Original herausgeben kann, wenn der Patient das wünscht, er müsse es aber nicht tun.
Ileri: Sie dürfen Patienten nicht bevormunden! Der Patient kann machen, was er will mit seiner Krankengeschichte, wenn er unterschrieben hat, dass er die Krankengeschichte im Original erhalten hat. Der Arzt kann sich davon Kopien machen und diese vom Patienten unterschreiben lassen.
plädoyer: Gelten kantonale Gesundheitsgesetze auch im privatrechtlichen Auftragsverhältnis?
Pally Hofmann: Ja, natürlich. Sie gelten für jede Person, die einen bewilligungspflichtigen Gesundheitsberuf ausübt.
IIeri: Ich bin der Meinung, dass die Patientenverordnung in diesem Punkt ungültig ist. Der Kanton hat nämlich keine Legiferierungskompetenzen im Bereich des Obligationenrechts. Wenn der Kanton sich da einmischt, ist dies höchstens aus öffentlich-rechtlichem Interesse möglich. Wenn der Patient die Originalkrankenakte will, muss er diese bekommen. Bundesrecht bricht kantonales Recht.
plädoyer: Eine Frage zum sogenannten Schattendossier: Es ist umstritten, ob ein Arzt neben der offiziellen Krankengeschichte persönliche Notizen über einen Patienten führen darf. Ihre Meinung dazu, Herr Ileri?
Ileri: Als wir 1977 die Patientenstellen gründeten, stellten wir fest, dass bei der Suva und anderen Ärzten ein Nebendossier zur Krankengeschichte besteht. Aufgrund der Krankengeschichte war klar, dass etwas nicht stimmte. Es hat sich herausgestellt, dass im handschriftlichen Nebendossier abschätzige Bemerkungen über den Patienten zu finden waren wie «Simulant» oder «weinerlich». Andere Ärzte haben das natürlich gesehen und sich ein Vorurteil gebildet. Dagegen führten wir einen langen Kampf. Ob heute noch Schattendossiers geführt werden, weiss ich nicht. Ich hoffe es aber nicht. Ich sehe den Sinn eines Schattendossiers nicht. Solange der Arzt die Notizen nur für sich macht, hat es mit der Krankengeschichte nichts zu tun. Sobald er es herausgibt, wird es Bestandteil der Krankengeschichte.
Pally Hofmann: Ich habe im Spital gearbeitet und weiss: In grösseren Einheiten kann man gar keine Schattendossiers führen. Alles, was mit der Behandlung zu tun hat, gehört in die Krankengeschichte, unabhängig davon, in welcher Form es niedergeschrieben wurde. Wenn ein Arzt jedoch über einen Patienten lästert, gehört dies nicht in die Krankengeschichte.
plädoyer: Haben die Patienten einen Anspruch auf Löschung der Privatnotizen?
Pally Hofmann: Privatnotizen sind nur diejenigen, welche nicht in die Krankengeschichte gehören. Dann haben sie in der Datensammlung nichts zu suchen. Und es besteht ein Anspruch auf Löschung, weil sie dem Zweck der Datensammlung nicht dienen.
plädoyer: Wird der Beweiswert von Krankengeschichten in Prozessen überschätzt?
Ileri: Ich habe sehr schlechte Erfahrungen gemacht mit Krankengeschichten in Prozessen. In meinem ersten Prozess in den Siebzigerjahren ging es um einen psychisch kranken Ausländer, der ins Burghölzli eingewiesen worden war. Nach vier Wochen wurde er wieder entlassen und begann in einer Metzgerei zu arbeiten. Er war gemeingefährlich, litt unter Verfolgungswahn. Eines Tages ging er zur Arbeit, brachte dort zwei Menschen um und verletzte einen schwer. Im Prozess wurden dann die Akten sofort strafrechtlich beschlagnahmt. Das Unispital Zürich hat die Herausgabe verzögert. Ich vertrat den Verletzten. Im Verlauf des Prozesses stellte man fest, dass die Originalkrankengeschichte herausgenommen und neu geschrieben worden war. Das hatte der Chefarzt veranlasst. Das zeigt: Der Beweiswert der Krankengeschichte ist rein dogmatisch gesehen eine Behauptung. Das stammt nicht von mir, sondern vom ehemaligen Bundesrichter Hans Peter Walter. Diese Meinung hat sich offenbar nicht durchgesetzt. Es wird nämlich bis heute von der Richtigkeit der Einträge in der Krankengeschichte ausgegangen.
plädoyer: Wie wird diese Auffassung begründet?
Ileri: Gar nicht. Es müsste ja dann bei allen anderen Beauftragten auch gelten. Das ist aber nicht so. Die Ärzte haben ein Sonderrecht.
Pally Hofmann: Das kann man so sehen. Natürlich kommt es aber immer darauf an, wie die Krankengeschichte geführt wird. Ist sie ausführlich und nachvollziehbar, hat sie einen anderen Beweiswert als ein stichwortartiges Gekritzel.
plädoyer: Wenn ein Anwalt Telefonnotizen macht, haben diese keinen höheren Beweiswert. Kein Richter wird sagen, dass er von der Richtigkeit dieser Notizen ausgeht.
Pally Hofmann: Bei der Krankengeschichte geht es aber um etwas anderes: Der Arzt hat die Pflicht, die Behandlung seines Patienten zu dokumentieren. Oft ist es auch so, dass Krankengeschichten von mehreren Personen geführt werden. Jeder muss sicherstellen, dass er das schreibt, was er festgestellt hat, damit der nächste Arzt und der Patient weiterkommen.
plädoyer: Wäre eine Umkehr der Beweislast eine Lösung?
Ileri: Das wäre eine Möglichkeit, würde aber nicht viel bringen. Ich habe die Gründung einer Patientenversicherung vorgeschlagen. Einige nordische Länder wie Norwegen, Schweden oder Finnland haben Fondslösungen. Der Fonds wird mit Steuergeldern finanziert. Mein Vorschlag ist dagegen umfassender, einfacher und nicht obrigkeitlich gestaltet: Der Patient hat einen Rechtsanspruch auf die Leistungen der Krankenversicherung. Jeder Krankenversicherte bezahlt pro Monat 3 Franken. Wenn nun ein Patient durch medizinische Behandlung geschädigt wird, bekommt er bis zu 1 Million Franken seinen Schaden von der Krankenversicherung ersetzt. Es wird nur die Kausalität und nicht die Sorgfaltspflichtverletzung geprüft. Liegt Kausalität vor, wird der Schaden zwischen der Patientenversicherung und der Haftpflichtversicherung des Arztes geregelt. Die Leistungen der Krankenversicherung sind subsidiär zu den Leistungen aller anderen Leistungsträger. Diese Lösung hat für alle nur Vorteile: Der Patient kommt ziemlich schnell zu seinem Geld, die Ärzte werden nicht belastet und die Justiz wird entlastet. Die Allgemeinheit finanziert die Allgemeinheit.
Pally Hofmann: Ich finde solche Pool-Lösungen interessant. Für den Patienten ist es gut, wenn er schnell zu seinem Geld kommt. Auch für den Arzt ist es angenehm, wenn nicht nach einem Fehler gesucht werden muss.
Atilay Ileri, 72, praktiziert seit 1975 in Zürich als Rechtsanwalt. Er ist Mitgründer der Patientenstelle Zürich sowie Mitgründer der Schweizerischen Vereinigung der Hirnverletzten Menschen Fragile Zürich (heute: Fragile Suisse).
Ursina Pally Hofmann, 47, Rechtsanwältin, lernte zuerst Hebamme. Heute arbeitet sie bei der Zürich Versicherung als Leiterin Komplexe Körperschäden Ost, ist nebenamtliche Handelsrichterin im Kanton Zürich und Dozentin an der ZHAW.