Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind. Dieses Recht auf Hilfe in Notlagen, das in Art. 12 der Bundesverfassung wörtlich so festgehalten ist, stellt als soziales Grundrecht in der Schweiz ein menschenwürdiges Dasein sicher. Im öffentlichen Recht erfüllen Normen des Sozialversicherungs- und Sozialhilferechts diese Funktion.
Daneben regelt das Privatrecht, wer wen in welcher Lebenssituation zu unterstützen hat. Von grosser Bedeutung ist das Unterhaltsrecht (Art. 163 ff. ZGB für die Ehe und Art. 276 ff. ZGB für die Kindesrechte). Aber auch die Verwandtenunterstützung nach Art. 328 f. ZGB kommt nach wie vor zur Anwendung – obwohl man sich in der heutigen Gesellschaft ernstlich fragen muss, ob die dahinterstehende Idee der sich unterstützenden Sippengemeinschaften noch zu sachgerechten Lösungen führt. Anzumerken ist an dieser Stelle, dass das Unterhaltsrecht der Verwandtenunterstützung vorgeht. Dieser Vorbehalt ist ausdrücklich im Gesetz geregelt (vgl. Art. 328 Abs. 2 ZGB).
Die Verwandtenunterstützung dürfte bereits in den letzten Jahrzehnten immer wieder zu Spannungen zwischen den Generationen geführt haben. Die Grossfamilie und der sippenartige Zusammenhalt, wie er in weniger entwickelten Gesellschaften zu beobachten ist, entspricht heute nicht mehr der Realität. Die Gesellschaft baut auf Unabhängigkeit und Freiheit und einen damit verbundenen zunehmenden Individualismus. Der stark ausgebaute Sozialstaat sorgt dafür, dass niemand in Not leben muss beziehungsweise alle das Recht auf ein menschenwürdiges Dasein haben, das ihnen der Staat mit Sozialhilfeleistungen garantiert. Die Eltern haben oft keinen Einfluss mehr auf ihre erwachsenen Kinder, Kinder keinen auf ihre Eltern.
Umso stossender erscheint es dann, die Eltern für ihr erwachsenes Kind zur Kasse zu bitten, wenn es infolge Drogensucht, Konkurs oder dergleichen mit seiner Lebensführung gescheitert ist. Oder umgekehrt Kinder für die gescheiterte Lebensführung eines Elternteils zur Kasse zu bitten, zu dem sie seit jeher – beispielsweise durch eine frühe Scheidung – nur wenig oder einen schlechten Kontakt pflegten. Im Kanton Basel-Landschaft wurde die Durchsetzung der Verwandtenunterstützungspflicht im Sozialhilferecht per 1. Januar 2014 aufgehoben.1 Ein Wandel ist folglich zu beobachten. Doch die Verwandtenunterstützung ist im Gesetz nach wie vor verankert.
Das Thema ist vielschichtig. Die vorliegenden Überlegungen konzentrieren sich daher einzig auf den speziellen und für die Praxis interessanten Fall, was geschieht, wenn ältere Menschen ihren Kindern ihr Vermögen noch zu Lebzeiten übertragen und anschliessend, zum Beispiel infolge eines Heimeintritts, bedürftig werden. Muss das Gemeinwesen uneingeschränkt Sozialhilfeleistungen erbringen? Haben die Kinder eine Rückerstattungspflicht, beziehungsweise kann der Staat gegen die Kinder gestützt auf Art. 328 f. ZGB vorgehen?
Grundlagen der Verwandtenunterstützung
Nach Art. 328 Abs. 1 ZGB ist, wer in günstigen Verhältnissen lebt, verpflichtet, Verwandte in auf- und absteigender Linie zu unterstützen, die ohne diesen Beistand in Not geraten würden. Abs. 2 der Bestimmung statuiert den Vorbehalt der Unterhaltspflicht der Eltern und des Ehegatten sowie des eingetragenen Partners beziehungsweise der eingetragenen Partnerin.
Der Anspruch auf Unterstützung ist gegen die Pflichtigen in der Reihenfolge ihrer Erbberechtigung geltend zu machen. Er umfasst die Leistung, die zum Lebensunterhalt des Bedürftigen erforderlich und den Verhältnissen des Pflichtigen angemessen ist (Art. 329 Abs. 1 ZGB).
Definition, wann eine «Notlage» vorliegt
Das Bundesgericht hat in BGE 121 III 441 den Begriff der Notlage im Zusammenhang mit Art. 328 Abs. 1 ZGB definiert. Danach befindet sich in einer Notlage (im Sinne von Art. 328 Abs. 1 ZGB), wer sich das zum Lebensunterhalt Notwendige nicht aus eigener Kraft verschaffen kann. Dies ist der Fall, wenn jemand nicht arbeitsfähig ist oder keine Erwerbsmöglichkeit hat beziehungsweise wenn ihm eine Erwerbstätigkeit nicht zuzumuten ist.
In besagtem Entscheid hatte das Bundesgericht den Fall einer ledigen Mutter zu beurteilen, welcher die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit für die erste Zeit nach der Geburt, solange ein Kleinkind einer persönlichen Betreuung bedarf, nicht zuzumuten war.2
Zurückhaltung bei Annahme «günstiger Verhältnisse»
Günstige Verhältnisse sind nicht leichthin anzunehmen.3 Vielmehr bedeuten günstige Verhältnisse Wohlstand. Unterstützungsbeiträge an Verwandte müssen ohne wesentliche Beeinträchtigung einer wohlhabenden Lebensführung aufgebracht werden können. Auch das Bilden einer guten Vorsorge des Verpflichteten hat vor der Verwandtenunterstützung Vorrang.4
Nebst den notwendigen Ausgaben muss der Pflichtige auch Ausgaben tätigen können, die weder notwendig noch nützlich sind, zur Führung eines gehobenen Lebensstils jedoch anfallen.5 Massgeblich ist nicht nur das Einkommen, sondern auch das Vermögen. Alle wesentlichen Umstände des Einzelfalls sind zu berücksichtigen.6
Das Bundesgericht hat zur Frage günstiger Verhältnisse verschiedentlich konkrete Marken gesetzt. Von überdurchschnittlich guten finanziellen Verhältnissen ist bei einem 10 000 Franken pro Monat deutlich übersteigenden Einkommen die Rede.7 Die finanziellen Mittel für einen möglichen Aufenthalt in einem Alters- oder Pflegeheim, die monatlich bis zu 20 000 Franken ausmachen können, dürfen rechnerisch zur Beurteilung der günstigen Verhältnisse miteinbezogen werden. Zudem spielt der Grad der verwandtschaftlichen Beziehung (in gerader Linie im ersten oder zweiten Grad) eine Rolle, sodass bei der Verwandtschaft in gerader Linie im zweiten oder im dritten Grad höhere Anforderungen an die Verwandtenunterstützung zu stellen sind.8
«Erforderlich» und «angemessen»
Nebst den Voraussetzungen der Notlage auf Seiten des Bedürftigen und des Lebens in günstigen Verhältnissen auf Seiten des Pflichtigen muss die eingeforderte Leistung zum Lebensunterhalt des Bedürftigen erforderlich und den Verhältnissen des Pflichtigen angemessen sein (Art. 329 Abs. 1 ZGB). Was als angemessen zu gelten hat, ist von den Gerichten in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände zu beurteilen. Art. 329 Abs. 2 ZGB statuiert hier bei der Verwandtenunterstützung ein Korrektiv. Danach kann das Gericht die Unterstützungspflicht eines Verwandten ermässigen oder gar aufheben, wenn sie wegen besonderer Umstände als unbillig erscheinen würde. Zu diesen besonderen Umständen im Sinne von Art. 329 Abs. 2 ZGB zählt vor allem das persönliche Verhältnis zwischen dem Unterstützungspflichtigen und dem -bedürftigen.9 In Bezug auf die besonderen Umstände nach Art. 329 Abs. 2 ZGB kommt aber auch eine analoge Anwendung von Art. 125 Abs. 3 ZGB in Betracht.10
Der Anspruch auf Sozialhilfe
Ist jemand mittellos und gerät in eine Notlage, so hat er Anspruch auf Sozialhilfe. Da die Verwandtenunterstützung – bei Scheitern einer gütlichen Einigung mit den potenziell pflichtigen Verwandten – auf gerichtlichem Wege geltend zu machen ist und eine gewisse Zeit beansprucht, hat die Unterstützung durch den Staat unmittelbar zu greifen.
Der Staat beziehungsweise das zuständige Gemeinwesen subrogiert jedoch in den Anspruch (Art. 329 Abs. 3 i.V.m. Art. 289 Abs. 2 ZGB).11
Bezieht jemand, der in eine Notlage geraten ist, Sozialhilfe, so prüfen die Behörden folglich, ob eine Verwandtenunterstützung zum Tragen kommt. Dabei dienen die SKOS-Richtlinien (Kapitel F.4) als Richtwerte. Dort steht, dass Beitragsleistungen lediglich bei Verwandten mit überdurchschnittlichem Einkommen beziehungsweise Vermögen gestützt auf die Angaben der Steuerbehörde geprüft werden sollen. Massgebende Bemessungsgrundlage ist das steuerbare Einkommen gemäss Bundessteuer zuzüglich des Vermögensverzehrs.
Gemäss den SKOS-Richtlinien sollte die Prüfung der Beitragsfähigkeit nur erfolgen, wenn die Einkommenszahlen bei Alleinstehenden über 120 000 Franken pro Jahr und bei Verheirateten über 180 000 Franken pro Jahr liegen, wobei pro minderjähriges oder in Ausbildung stehendes Kind zusätzlich 20 000 Franken hinzuzurechnen sind.
Beim steuerbaren Vermögen wird für Alleinstehende ein Freibetrag von 250 000 Franken, bei Verheirateten ein solcher von 500 000 Franken und pro Kind 40 000 Franken in Abzug gebracht. Der verbleibende Vermögensbetrag soll aufgrund der durchschnittlichen Lebenserwartung umgerechnet (Jahresbetrag) und zum Einkommen gezählt werden. Hierzu dienen die Umrechnungstabellen in der Praxishilfe der SKOS (H.4).12 Mit dieser Regelung und der konkreten Festsetzung von Freibeträgen setzen die SKOS-Richtlinien ein klares Zeichen, dass die Verwandtenunterstützung die Ausnahme sein soll und effektiv nur zum Tragen kommt, wenn sich ein potenziell Pflichtiger in wohlhabenden Verhältnissen befindet oder ausserordentlich gut verdient. Damit wird die Bedeutung der Verwandtenunterstützung eingeschränkt.
Zu erwähnen bleibt, dass die Praxis der Gemeinden uneinheitlich sein dürfte – ist doch damit auch ein nicht unerheblicher Aufwand verbunden, der sich in der Praxis regelmässig nur dann lohnt, wenn die Behörde deutliche Indizien hat, dass ein sehr wohlhabender oder äusserst gut verdienender Verwandter existiert.
Folgen selbstverschuldeter Bedürftigkeit
Die Ursache einer Notlage ist im Sozialhilferecht irrelevant. Art. 12 BV garantiert allen ein menschenwürdiges Dasein. Auch bei selbstverschuldeter Notlage kann der Staat die sozialhilferechtliche Unterstützung nicht verweigern. Dem Selbstverschulden kommt – anders als bei den Ergänzungsleistungen aus der AHV/IV, wo das Verzichtsvermögen angerechnet wird – keine Bedeutung zu. Im Sozialhilferecht besteht kein Platz für eine Anrechnung von hypothetischem Einkommen und Vermögen. Einzige Ausnahme bildet ein Rechtsmissbrauch, der vorliegt, wenn die bedürftige Person absichtlich die eigene (Not-)Lage verursacht hat, um Sozialhilfegelder zu beziehen beziehungsweise sich auf das Recht in Notlagen berufen zu können.13 Ein Rechtsmissbrauch dürfte jedoch nur in den allerwenigsten Fällen vorliegen, zumal der Nachweis eines Vorsatzes nicht einfach sein dürfte. Insbesondere wenn seit einer Vermögensübertragung auf die Nachkommen schon einige Zeit verstrichen ist, dürfte der Nachweis eines Rechtsmissbrauchs regelmässig scheitern.
Grundsätzlich spielt es demnach für den Bezug von Sozialhilfegeldern keine Rolle, ob der Antragsteller sein Vermögen verbraucht, verspielt, verprasst oder auf seine Nachkommen übertragen hat.
Hohe Hürden für Annahme eines Rechtsmissbrauchs
Hat ein Bedürftiger sein Vermögen auf die Kinder übertragen und ist dadurch zu einem späteren Zeitpunkt (zum Beispiel infolge Heimeintritts) auf den Bezug von Sozialhilfegeldern angewiesen, stellt dies einen klassischen Fall selbstverschuldeter Bedürftigkeit dar, die aber laut höchstrichterlicher Rechtsprechung die Leistungen der Sozialhilfe nicht einzuschränken vermag.14
Will der Staat in solchen Fällen gestützt auf Art. 328 f. ZGB auf die Kinder Rückgriff nehmen, so sind die Hürden – wie oben aufgezeigt – sehr hoch. Zunächst spielt die Praxis der jeweiligen Sozialbehörde eine zentrale Rolle, die im Einzelfall Indizien für wohlhabende oder äusserst gut verdienende Verwandte haben muss. Sodann sind die Freibeträge bei Vermögen und Einkommen gemäss SKOS-Richtlinien eher hoch. Hat der Bedürftige mehrere Kinder, an die er sein Vermögen verschenkt hat, oder haben die Kinder das Geld selbst teilweise aufgebraucht, so dürfte es in der Praxis nur ausnahmsweise möglich sein, mit dem Institut der Verwandtenunterstützung einen Teil der betreffenden Gelder zurückzuerlangen.
Einzig bei Rechtsmissbrauch kann der Staat von den Kindern das ihnen zugefallene Vermögen zurückfordern. Dazu muss dem Bedürftigen ein vorsätzliches Herbeiführen seiner Notlage zum Zwecke des Bezugs von Sozialhilfe nachgewiesen werden können, was insbesondere mit zunehmendem Zeitablauf zwischen der Vermögensübertragung und der Bedürftigkeit scheitern dürfte.15
Verwandtenunterstützung ist Ausnahmefall
Sofern Eltern sich in fortgeschrittenem Alter befinden und in den nächsten Jahren allenfalls ein teurer Heimeintritt bevorsteht, dürften bei einer früh eingeleiteten Nachlassplanung Überlegungen der vorzeitigen Vermögensübertragung auf Nachkommen – angesichts der hohen Betreuungskosten – an Bedeutung gewinnen. Dass Nachkommen gestützt auf die Verwandtenunterstützung belangt werden, ist insbesondere dort, wo es nicht um Millionenbeträge geht, wohl eher der Ausnahmefall. Die Eltern müssten sich wohl damit abfinden, dass sie sich im Falle der Bedürftigkeit nicht in einer Luxuseinrichtung aufhalten können, zumal Sozialhilfebehörden regelmässig die kostengünstigste Lösung anstreben.
Ein Vermögen, das sich unter den SKOS-Schwellen (250 000 Franken und 500 000 Franken) bewegt, dürfte für einen längeren Aufenthalt in einem besseren Pflege- oder Altersheim ohnehin nicht ausreichen, sodass sich gerade in diesen Fällen die Überlegung nahezu aufdrängt, sein erspartes Vermögen frühzeitig an die Nachkommen weiterzureichen, anstatt es für den Aufenthalt in einem Heim aufzubrauchen.
Zwar widersprechen solche Überlegungen dem Grundsatz der individuellen und gesellschaftlichen Verantwortung (Art. 6 BV), doch dürften sie in der Praxis – nicht zuletzt in Anbetracht der mit der Veränderung der Gesellschaft einhergehenden, zunehmenden Beschränkung der Verwandtenunterstützung – immer mehr an Bedeutung gewinnen.