Als Maximum für eine Genugtuung nach schweizerischem Recht gilt, je nach Fundstelle, der Betrag von 250 0001 beziehungsweise von 200 000 Franken.2 Das Bundesgericht hält konstant fest, dass es keine Tarife gibt und geben darf.3 Mithin existiert bis heute keine Bemessungsmethode, die als allgemein verbindlich bezeichnet werden könnte. «Die Integritätsentschädigung der Unfallversicherung4 bietet – gleich wie Präjudizien – einen sachlichen Anhaltspunkt zur Beurteilung der objektiven Schwere der Beeinträchtigung.»5 Zieht man Präjudizien hinzu, so ist in jedem Fall zu beachten, dass die seither eingetretene Teuerung, gegebenenfalls auch der gesellschaftliche Wertewandel Beachtung finden.6
Eine brauchbare Herangehensweise ist es, im konkreten Fall mit der sogenannten Zwei-Phasen-Methode7 eine Bestimmung vorzunehmen. Der ermittelte Wert sollte dann mit Präjudizien im Sinne einer Kontrolle verglichen werden. Soweit es den Umständen angemessen ist (namentlich, wenn entsprechend fassbare Schädigungen vorliegen), kann dabei der Integritätsschaden nach UVG als einigermassen objektive Grundlage den Basiswert darstellen.8
Für Körperschäden dürften nach bisheriger Schweizer Praxis bei Menschen mit irreversiblen schwersten Schäden Summen um 200 000 Franken geschuldet sein, für Todesfälle sind Summen bis rund 40 000 Franken zu erwarten – jeweils ohne Zins gerechnet. Im Bereich der sexuellen Integrität werden Summen von einigen Tausend bis rund 50 000 Franken gesprochen. Im Arbeitsrecht und bei Ehrverletzungen gibt es selten mehr als einige Hundert bis wenige Tausend Franken.9
Schmerzensgelder in Deutschland und Österreich höher
Christian Huber, Rechtsprofessor in Aachen (D), fasst die Lage in Deutschland so zusammen: «Die germanischen Rechtsordnungen, allen voran das Pinke-Pinke-Land Deutschland, sind akribischer bei der Wahrnehmung vermögenswerter Nachteile, wobei namentlich (…) beim Kfz-Blech grosszügiger entschädigt wird als der Blutzoll.»10 Nach Huber sind die Rechtsordnungen Deutschlands und Österreichs dem germanischen System zuzuordnen, dem das romanische System gegenübersteht, mit dem er wohl vor allem Frankreich meint. Die Schweiz, so Huber, stehe irgendwo dazwischen.
Das österreichische Recht kennt bei Dauerschäden das Institut der «Schaffung einer Ersatzlage» (ABGB § 1323). Der geschädigten Person soll individuell-konkret ermöglicht werden, (ihr) wichtige Tätigkeiten trotz Behinderung wieder wahrnehmen zu können. Beispielhaft kann der behindertengerechte Umbau eines Fahrzeugs erwähnt werden (wobei dieser Leistung m.E. nur dann Genugtuungscharakter im Schweizer Sinne zukommen kann, wenn die Massnahme nicht schadenmindernd wirkt – also der Umbau eines Freizeitfahrzeugs und nicht des Autos für den Berufsweg). Die Praxis geht aber eher Richtung abstrakte Geldzahlung.
Das österreichische Recht kennt zudem eine eigene Regelung für ästhetische Schäden, die als pauschaler Vermögensschaden gelten (ABGB § 1326).11
Sowohl nach der österreichischen, der deutschen und der schweizerischen Rechtsordnung geben Körperverletzungen im Grundsatz Anspruch auf Genugtuung oder Schmerzensgeld. Im Falle einer Tötung sieht das anders aus: Die in Art. 47 OR gesetzlich festgeschriebene Genugtuung bei Tötungen ist in Deutschland unbekannt. Auch in Österreich gibt es eine vergleichbare Zahlung nur in gewissen Fällen. Der Oberste Gerichtshof hält dazu fest, dass es kein «Schmerzensgeld für verkürztes Leben» gibt und dass das Schmerzensgeld (bzw. seine Ausgleichsfunktion) mit dem Tod des Verletzten endet.12 Damit ein Angehöriger etwas erhält, hat er einen «Schockschaden» nachzuweisen. Dabei muss die Nachricht über den Tod bei einer angehörigen Person einen Gesundheitsschaden mit Krankheitswert hervorrufen, dann «ist ihr für die mit der Krankheit verbundenen Schmerzzustände auch einSchmerzensgeld zuzubilligen».13 Bei schwersten Verletzungen und Tötung kann bei grober Fahrlässigkeit ein Trauerschmerzensgeld fällig werden.14
Auffällig ist aus Schweizer Sicht auch, dass Deutschland die Angehörigengenugtuung nicht kennt. Und die Maximalhöhe von Zahlungen für Körperverletzungen geht in Deutschland bis zu Summen von 700 000 Euro.15 Publiziert sind Urteile mit Summen von 650 000 Euro16 (Arzthaftung, schwerer Hirnschaden, Ernährung über eine Magensonde, ständige Pflege; die Klägerin kann dabei ihre Umwelt nur noch eingeschränkt wahrnehmen und zeigt emotionale Reaktionen) bzw. knapp 620 000 Euro17 (dreieinhalbjähriges Kind ab dem ersten Halswirbel abwärts gelähmt, künstliche Beatmung, es kann über Laute und Augenbewegungen mit seiner Umwelt kommunizieren und leidet an chronischen starken Schmerzen). Ein Kind, das nach einem Fehler bei der Geburtshilfe im Wachkoma liegt, erhielt 600 000 Euro.18 Diese Urteile dokumentieren nicht nur hohe Schmerzensgelder. Sie sind für Schweizer Verhältnisse auch deshalb bemerkenswert, weil die Opfer das Ausmass ihrer erlittenen Schädigung wohl bei weitem nicht erfassen.
In Österreich liegen die Maximalbeträge für Genugtuungen deutlich tiefer als in Deutschland. Österreichische Gerichte entscheiden regelmässig auf Basis einer Begutachtung durch einen Sachverständigen. Gesetzlich massgeblich ist für das Schmerzensgeld vor allem die Dauer und Intensität von Schmerzen (körperlicher und seelischer Schmerz). In der Praxis werden üblicherweise für leichte Schmerzen um die 100 Euro pro Tag bezahlt, für mittlere Schmerzen um die 200 Euro und für schwere Schmerzen gegen 300 bis 350 Euro. Solche Ansätze können sich aber nur auf zeitlich begrenztes Leiden beziehen. Gemäss Huber19 hat sich bei Dauerschäden noch nie ein Schmerzensgeld über 220 000 Euro ergeben.
Im Bereich der sexuellen Integrität kennen laut Huber20 weder die deutsche noch die österreichische Praxis nennenswerte Schmerzensgelder. Dies liegt laut Huber am Umstand, dass die Täter kaum je Geld hätten und mit Blick auf den Vorsatz keine Haftpflichtversicherung in Anspruch genommen werden könne. Hat der Gegner allerdings «deep pockets», scheint zumindest die deutsche Praxis durchaus unschweizerische Höhen zu erklimmen, was sich bei Jörg Kachelmanns Prozess gegen den Springer-Verlag zeigte: In erster Instanz sprach das Landgericht Köln Kachelmann 635 000 Euro zu. Das Oberlandesgericht Köln hiess seine Klage in 26 Fällen von schwerwiegender Persönlichkeitsrechtsverletzung im Umfang von noch 395 000 Euro gut.21 Ein ähnlicher Fall in der Schweiz ist nicht bekannt, nach bisheriger Praxis wären solche Beträge in der Schweiz sehr unwahrscheinlich.
Wünsche für die künftige Entwicklung in der Schweiz
Das Bundesgericht weist immer wieder darauf hin, es sei bei der Genugtuung einzelfallweise zu entscheiden.22 Dagegen spricht eine Praxis,23 von gewissen «Tarifen», einer «Basisgenugtuung» oder von Faustregeln auszugehen (etwa: die Genugtuung entspricht 1,5 Mal dem Integritätsschaden). Auch das Hinzuziehen von Präjudizien führt zu einer faktischen Angleichung der gesprochenen Summen. Eine «Tarifierung» führt jedoch nicht automatisch dazu, dass Zahlungen schneller fliessen. Akontozahlungen an die Genugtuung sind schon länger Praxis – nur schon deshalb, weil im Umfang der Zahlung der Schadenszins von 5 Prozent nicht länger läuft.
Zum Reformationsbedarf: Erlittenes Unrecht kann man nicht «wiedergutmachen». Aber man kann das Wohlbefinden anderweitig steigern oder die Beeinträchtigung erträglicher machen.24 Es geht um die Verbesserung von Lebensqualität.25 Meines Erachtens sollte weiterhin vorwiegend eine Geldleistung erfolgen, denn eine geschädigte Person kann das Geld in fast alles umtauschen und sich damit aussuchen, was ihr am ehesten lindernde Wirkung verspricht.
Die Frage nach der richtigen Höhe der Genugtuung ist eine Frage nach den gesellschaftlichen Werten. Die Verfassung bezeichnet den Wert aller Menschenleben als gleich hoch. Jede Person hat Anrecht auf körperliche und seelische Unversehrtheit – ein für den demokratischen Rechtsstaat existenzieller Grundsatz. Darauf aufbauend ist zu fragen, was eine geschädigte Person als Genugtuung betrachtet oder als genugtuend empfindet. Das wird nicht immer das Gleiche sein – schon nur mit Blick auf Alter, Beruf, Lebenssituation oder Geschlecht der betroffenen Person. Die Genugtuung soll konkret erlauben, ein Gefühl zu erleben, sich etwas Gutes getan zu haben, das in gewisser Weise das Erlittene aufwiegt.
Bei Körperverletzungen mit mutmasslichem Dauerschaden ist der Weg Österreichs interessant, mit «Tagessätzen» die erlittene Unbill – insbesondere die Schmerzen – möglichst bald mit Zahlungen zu entschädigen. Später könnte dann eine Schlusszahlung für den künftigen Dauerschaden folgen. Die Verknüpfung von Leidensdauer und Entschädigung macht die Genugtuung für die geschädigte Person gut fassbar. So könnte man dem Bedürfnis nach rascher Auszahlung mit klaren Regeln ebenso nachkommen wie dem bundesgerichtlich definierten Ziel, die Genugtuung in Kenntnis aller Umstände «ex aequo et bono» individuell zu bemessen.
Huber kritisiert, die Höhe der Genugtuung liege in der Schweiz mit Blick auf die Praxis in Österreich und Deutschland zu tief.26 Er plädiert nicht dafür, deutsche Maximalbeträge zum Massstab zu nehmen, aber dafür, die Zahlungen deutlich über dem österreichischen Niveau anzusetzen. Er verweist darauf, dass die Haftpflichtversicherer in Deutschland lediglich 1 Prozent des Gesamtaufwands für Schmerzensgeld aufwenden, womit selbst eine deutliche Anhebung der Genugtuungssummen nur eine sehr geringe Auswirkung auf die Prämien hätte. Angesichts des Rückgangs schwerer und tödlicher Unfälle und des erwartenden weiteren Rückgangs durch die zunehmende Automatisierung des Fahrens 27 stellen sich bezüglich künftiger Prämien Fragen, die wohl gewichtiger sind als allfällige Mehrkosten durch höhere Genugtuungszahlungen.
Was den Umfang an genugtuungsrelevanten Tatbeständen angeht, so ist das schweizerische Rechtssystem ohnehin bereits recht weit entwickelt.28 Als Zeichen der Zeit wäre es sicherlich nicht falsch, öfter auch für kleinere Unbill Genugtuungssummen auszurichten, wie sie etwa im Pauschalreisegesetz vorgesehen sind.
Was den Kreis der Berechtigten angeht, sollte heute mehr auf die tatsächlichen Verhältnisse abgestellt werden und weniger als bisher auf den Grad der Verwandtschaft oder die Ehe. Entsprechende Bestrebungen sind in anderen Rechtsgebieten längst umgesetzt (eingetragene Partnerschaft, Unterhaltspflicht ohne Trauschein).
Die Schweiz verfügt über ein Rechtssystem, das im Vergleich zu den deutschsprachigen Nachbarländern viele genugtuungsrelevante Tatbestände kennt. In Deutschland liegt einerseits die Bagatellgrenze viel tiefer, andererseits sind die Maximalzahlungen bei Körperverletzungen massiv höher. Die Genugtuungszahlungen in der Schweiz fallen mit Blick auf die Lebenshaltungskosten in Österreich und Deutschland bescheiden aus.
In der Schweiz sollten künftig unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Genugtuung vermehrt Fragen gestellt werden: Welcher Geldbetrag würde der geschädigten Person tatsächlich ein Gefühl von Genugtuung vermitteln? Welche Summe wäre dazu geeignet, sich etwas Gutes zu leisten, das die erlittene Unbill irgendwie aufwiegt?