Auch nach bald 36 Jahren am Bundesgericht wird es Ulrich Meyer noch immer nicht langweilig: «In jedem Dossier, das ich aufschlage, ist potenziell eine Überraschung drin», sagt der 63-jährige Pfarrerssohn aus dem Emmental. «Ich lerne immer wieder dazu.»
Ulrich Meyer sitzt in seinem Büro in der sozialversicherungsrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts in Luzern. Seit Anfang Jahr arbeitet er aber mindestens drei Tage pro Woche auch am Hauptstandort in Lausanne. Der Grund: Der SP-Richter ist seither Präsident des Bundesgerichts.
“Ich war ihnen zu links”
Meyer strebte bereits in jungen Jahren eine Richterkarriere an. Obwohl er Bestnoten hatte, wollten ihn im Kanton Bern weder das Verwaltungsgericht noch das Obergericht, noch die Steurrekurskommission als Gerichtschreiber anstellen. «Ich war ihnen zu links», sagt Meyer. So arbeitete er nach dem Jus-Studium an der Uni Bern zuerst als juristischer Angestellter im Bundesamt für Justiz. 1981 – mit 27 Jahren – wurde er dann Gerichtsschreiber am Eidgenössischen Versicherungsgericht in Luzern. 1986 wurde er dort zum Richter gewählt. 1998 und 1999 präsidierte er das Gericht.
Der Name Meyer ist Sozialversicherungsrechtlern ein Begriff –und vielen ein rotes Tuch. Der Mann zeigt sich oft streitbar. In einer Festschrift zur Pensionierung des Freiburger Rechtsprofessors Erwin Murer äusserte er die Ansicht, die gesundheitlichen Beschwerden nach einem unfallbedingten Schleudertrauma könnten «nach dem derzeitigen medizinischen Wissensstand» maximal ein Jahr lang anhalten. Länger dauernde Beschwerden müssten andere Gründe haben. Daraus ergebe sich, dass Unfallversicherungen ihre Leistungen nach einem Jahr einstellen könnten. Insbesondere könnten solche Beschwerden keine «Berentung rechtfertigen».
Kein Bundesrichter vor ihm hatte sich so dezidiert zum Thema geäussert. Die Versicherungsbranche jubelte – die Anwälte der Geschädigten rebellierten. Kurze Zeit später erliess das Versicherungsgericht in einem Schleudertraumafall ein Grundsatzurteil, das die Sicht Meyers widerspiegelte.
“Die Rechtsschriften werden immer länger”
Die Rechtsprechung stehe nie still, doziert Meyer. Er weist auf den Paradigmenwechsel in der Medizin Ende der 70er-Jahre hin. Damals definierte die Weltgesundheitsorganisation den Gesundheitsbegriff als vollständiges physisches, psychisches und soziales Wohlbefinden. Der Einbezug der sozialen Dimension birgt laut Meyer die Gefahr der Redundanz: Letztlich liessen sich versicherte gesundheitsbedingte Erwerbsunfähigkeit und nicht versicherte Erwerbslosigkeit nicht mehr unterscheiden.
Hier könnten und sollten die Bundesrichter mitreden. «Der soziale Bereich ist keine ausschliessliche Domäne der Medizin», schmettert Meyer die Kritik der Mediziner und Anwälte ab, die ihm vorwerfen, er definiere selbst Haftungsgrenzen und glaube, besser als die Ärzte entscheiden zu können, ob jemand arbeitsfähig ist oder nicht.
Als Präsident des Bundesgerichts ist Meyer der Frieden in der Institution Bundesgericht wichtig. «Das will ich erreichen, in dem ich auf die Leute zugehe und versuche, ihnen ein Vorbild zu sein.» Der Friede sei zwar nicht akut gefährdet, «aber man muss ihn permanent pflegen». Was bleibt ihm anderes übrig, hat er doch als Präsident keinerlei Disziplinargewalt gegenüber den 37 Bundesrichtern.
Meyer sieht es als seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die bestmöglichen Rahmenbedingungen bestünden, damit Recht gesprochen werden könne. «Das Bundesgericht steht seit Jahren enorm unter Druck, wir hatten vergangenes Jahr wieder fast 8000 Fälle zu bearbeiten – dies mit im Vergleich zu früher weniger Richtern und nur unwesentlich erhöhten Redaktorenstellen.» Auch habe die Komplexität der Fälle zugenommen. Das Bundesgericht sei deshalb gespannt auf die Revision des Bundesgerichtsgesetzes: «Der Ball liegt beim Justizdepartement.»
Die Revision sieht einen Wegfall der subsidiären Verfassungsbeschwerde vor. Ist weniger Rechtsschutz die Lösung? Meyer winkt ab: Die Gutheissungsquote bei einer subsidiären Verfassungsbeschwerde liege heute bei zwei bis vier Prozent, die Gutheissungsquote aller Rechtsmittel beim Bundesgericht aber bei 13 Prozent. Das Bundesgericht habe in der Gesetzesvorlage auf Wunsch der Justizministerin die zwei Eintretensgründe «Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung» und «Fall aus anderen Motiven von besonderer Bedeutung» in einer nicht abschliessenden Aufzählung konkretisiert. «Die Gutheissungsquote bei subsidiären Verfassungsbeschwerden hat man damit bei weitem erfasst.»
Aktuell macht Meyer die «enorme Zunahme der Strafrechtsfälle» Sorgen. 2010 – vor Inkrafttreten der neuen StPO – habe die strafrechtliche Abteilung jährlich 750 bis 800 Eingänge verzeichnet. «Heute sind es fast doppelt so viele. Man sagt, eine Abteilung könne bis 1200 Fälle bearbeiten. Die strafrechtliche Abteilung liegt aber seit Jahren massiv darüber.»
Wie schätzt Meyer die Qualität der anwaltlichen Tätigkeit vor Bundesgericht ein? Sein Anliegen: Die Rechtsfragen, um die es wirklich gehe, sollten so kurz und verständlich wie möglich in sauberem Deutsch formuliert werden. «Heute sehen die Rechtsschriften jedoch ganz anders aus als vor 30 Jahren. Sie werden immer länger.» Zum Teil kämen Rechtsschriften wie Masterarbeiten samt Inhaltsverzeichnis daher. «Das scheint mir kein guter Weg zu sein.» Anwaltliche Kunst sei es, «den streitigen und matchentscheidenden Punkt dem Richter auf dem Tablett vorzuführen».
“Der Aufschlag ist mein Geburtsgebrechen”
Zu seiner Freizeit befragt, sagt Meyer: «Ich liebe die schöne Literatur.» Besonders angetan haben es ihm die Werke von Thomas Mann. In zwei Jahren erreicht Meyer sein Pensionsalter, doch er denkt überhaupt nicht daran, aufzuhören. «Ich fühle mich immer noch fit. Ich fahre viel Velo und spiele gern Tennis – wenn auch ziemlich schlecht: Der Aufschlag ist mein Geburtsgebrechen.»
Nach seiner Wahl zum Bundesgerichtspräsidenten hörte Meyer letztes Jahr mit seiner Lehrtätigkeit an der Uni Zürich auf. Er will auch nicht mehr publizieren. Die Anwaltschaft dürfte über den Entscheid erfreut sein. Ihre Hauptkritik am Bundesrichter: er publiziere zu viel und zitiere sich in den Urteilen am liebsten selbst.