Die Stadt St. Gallen wartet schon seit längerem darauf, die Marke von 80 000 Einwohnern zu erreichen. Das seit 2012 in St. Gallen domizilierte Bundesverwaltungsgericht hingegen hat die Zahl von 80 000 Fällen übertroffen und wird in diesem Jahr die 100 000. Erledigung verzeichnen. Das zu feiern steht für die seit dem 1. Januar amtierende Präsidentin Marianne Ryter jedoch nicht im Vordergrund. Viel wichtiger ist ihr eine hochstehende und effiziente Rechtsprechung des zweitjüngsten Gerichts des Bundes. Das wiederholt sie wie ein Mantra. Ryter wirkt überlegt, wägt ihre Worte sorgfältig ab – wie es dem klassischen Richterbild entspricht.
Am energischsten reagiert sie auf die Feststellung, das Bundesgericht stelle die Qualität der Rechtsprechung sicher: «Wir haben einen eigenständigen Anspruch an die hohe Qualität unserer Rechtsprechung, unabhängig davon, ob ein Urteil von uns beim Bundesgericht anfechtbar ist oder nicht.» Hier schwingt eine Por-tion Stolz und Autonomiegeist mit. Dennoch kann man sich nicht vorstellen, dass die der SP angehörende Richterin sich einmal in der Öffentlichkeit so über das Bundesgericht als administrative Aufsichtsbehörde des Bundesverwaltungsgerichts enervieren könnte wie einer ihrer Vorgänger, der wegen der Rechenschaft über leere Büros zeterte: «Da fühle ich mich an der Hand geführt und geleitet wie ein Primarschüler, der seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. Ganz abgesehen davon, dass diese Bevormundung unser Ansehen mindert.»
Kampf gegen den “Erledigungsdruck”
Das Ansehen des Bundesverwaltungsgerichts ist Ryter wichtig. «Wir haben unseren Platz in der Schweizer Justizlandschaft gefunden und werden als tragende Säule wahrgenommen.» Die heute 50-Jährige ist seit der Aufnahme des Betriebs am 1. Januar 2007 als Richterin am Bundesverwaltungsgericht tätig. Zuvor arbeitete sie in der Advokatur, der Wissenschaft und als Richterin der Rekurskommission für Infrastruktur und Umwelt.
Ryter erachtet es als eine der wichtigsten Aufgaben ihres Amtes, dafür zu kämpfen, dass sich der «Erledigungs- und Ressourcendruck» nicht zulasten der Qualität der Entscheide auswirkt. «Wenn der Gesetzgeber Vorgaben macht, wie jene der verkürzten Dauer für die Asylverfahren, oder neue Aufgaben schafft, wie bei der Genehmigung nachrichtendienstlicher Überwachungsmassnahmen, müssen wir diese umsetzen», findet Ryter. Entsprechend bereitet sich das Gericht vor und setzt Prioritäten. Bei Bedarf schliesst Ryter eine Intervention auf politischer Ebene nicht aus.
Damit meint sie ganz im Sinne der richterlichen Zurückhaltung nicht die Einflussnahme auf die materielle Gesetzgebung. Vielmehr geht es ihr darum, bewusst zu machen, dass zusätzliche Aufgaben, neue Vorgaben in den Verfahren und personelle Aufstockungen bei den Vorinstanzen nicht ohne Auswirkungen auf die Justiz bleiben. Der durchschnittlichen Verfahrensdauer von 268 Tagen im Jahr 2017 erteilt Ryter das Prädikat «mindestens genügend».
Die 7385 erledigten Fälle im Vergleich zu den 7365 eingegangenen stellen dem Gericht für das Jahr 2017 numerisch ein gutes Zeugnis aus. Im selben Jahr hob das Bundesgericht nur in 77 Verfahren den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts teilweise oder ganz auf. In einer Umfrage bei mehreren Hundert Rechtsvertretern äusserten sich vor kurzem zudem über 80 Prozent der Antwortenden zufrieden mit der Qualität der Gesamtleistungen des Bundesverwaltungsgerichts.
Ryter ist die erste Präsidentin einer bundesgerichtlichen Instanz. Inwieweit ihr Führungsstil weiblich geprägt ist, wird sich weisen. Sie setzt auf Dialog und Vertrauen. «Ich war lange genug Vizepräsidentin. Deshalb weiss ich, was als Präsidentin auf mich zukommt», glaubt Ryter. Sie wird weiterhin in der Abteilung I mit einem 40-Prozent-Pensum richterlich tätig sein. Diese Abteilung ist unter anderem für Infrastruktur, Abgaben, Pensionskassenaufsicht, Bundespersonal und Datenschutz zuständig. Von ihren 90 Prozent verbleiben ihr somit 50 Prozent für die Leitung des Gerichts. In erster Linie will sie auf strategischer Ebene die Voraussetzungen für die von ihr angestrebte hochstehende Rechtsprechung sicherstellen.
Als Präsidentin ist sie auch Blitzableiterin
Ryter wehrt sich, wenn die richterliche Unabhängigkeit angegriffen wird. In ihrer Funktion als Präsidentin eines Gerichts, das über viele Bereiche entscheidet, die zu politischen Diskussionen und zu öffentlicher Kritik führen, wird sie ab und zu als Blitzableiterin herhalten müssen. Ryter sagt aber: «Als Präsidentin entscheide ich nicht allein.» Vielmehr würden die Entscheide gemeinsam mit der Verwaltungskommission oder den Abteilungspräsidien getroffen. Im Bereich der Rechtsprechung dagegen, wo die Konferenz der Abteilungspräsidenten am meisten Gewicht hat, ist die Präsidentin ohne Stimmrecht an den Sitzungen dabei. Ob dies sinnvoll ist? Marianne Ryter bejaht: «Die richterliche Unabhängigkeit schliesst aus, dass die Gerichtspräsidentin in die Koordination der Rechtsprechung eingreift.»
Die Bernerin wohnt mit Lebenspartner, Sohn (16) und Tochter (19) in Bern. In ihrer Freizeit liest sie viel, nimmt an kulturellen Veranstaltungen teil und reist gerne. An der Universität Basel hat sie einen Lehrauftrag im öffentlichen Recht. Der Brückenschlag von der Wissenschaft zur Praxis ist ihr wichtig. Auch der Brückenschlag zur Ostschweiz sei ihr gelungen, sagt Ryter. Allerdings blieb der Lebensmittelpunkt der Familie in Bern. «Ich erlebe die Ostschweizer aber als sehr offen», erzählt sie. «Wir fühlen uns hier wohl und sehr gut aufgehoben.»
Die Zeiten scheinen vorbei, als das Gericht zittern musste, ob genug Personal aus der Romandie und dem Tessin nach St. Gallen gelockt werden konnte. «Das Bundesverwaltungsgericht ist ein attraktiver Arbeitgeber», sagt Ryter. Die Fluktuation halte sich sowohl bei den Gerichtsschreibern als auch beim übrigen Personal im üblichen Rahmen. Dass heute am Bundesverwaltungsgericht Homeoffice-Tätigkeit verbreitet sei, sei nicht etwa eine Reaktion auf Rekrutierungsprobleme, sondern Zeichen eines modernen Arbeitgebers.
Als Kind wollte Marianne Ryter unbedingt Archäologin werden. Archäologen haben Freude an Ruinen. Davon ist das moderne, erst siebenjährige Gerichtsgebäude in St. Gallen weit entfernt.