Das Jahr des 175. Jubiläums der Bundesverfassung neigt sich dem Ende zu. Es wurde nicht zu knapp gefeiert: So gab es etwa eine Ausstellung im Landesmuseum (plädoyer 3/23), ein 13 Kilometer langer «Sonderbundsweg» von Sins AG nach Gisikon LU wurde eröffnet – und selbst das eher öffentlichkeitsscheue Bundesgericht gewährte Interessierten einen Blick hinter die Kulissen (plädoyer 5/23).
Michel Huissoud und Daniel Graf nahmen das Jubiläumsjahr zum Anlass, um in die Zukunft zu blicken. Huissoud, ehemaliger Direktor der Eidgenössischen Finanzkontrolle, und Graf, Präsident der Stiftung für direkte Demokratie, riefen das Projekt «Update Schweiz» ins Leben. Ihr Ziel: Eine Volksinitiative, an deren Ende die Totalrevision der Bundesverfassung stehen soll. Die aktuelle Version knüpft zwar an die Verfassung von 1848 an, datiert aber von 1999. Nach rund einem Vierteljahrhundert sei es Zeit für eine Neuauflage, so Huissoud und Graf.
Im Herbst ging in Bern die Eröffnungsveranstaltung von «Update Schweiz» über die Bühne. Rund 200 Personen erschienen, darunter mehrere Regierungsräte. Kommenden Frühling soll die Unterschriftensammlung für die Volksinitiative starten. Wenn die 100'000 Unterschriften zusammenkommen, muss die Stimmbevölkerung über die Frage entscheiden, ob sie eine Totalrevision der BV will. Das Volksmehr genügt. Bei einem Ja käme es zu Neuwahlen, das neue Parlament würde die neue Verfassung ausarbeiten.
Für ein Inkrafttreten müssten Volk und Stände zustimmen. Wie eine neue Bundesverfassung aussehen soll, liessen Huissoud und Graf bislang weitgehend offen. «Wir wollen in einem ersten Schritt klären, wo es überhaupt Handlungsbedarf gibt.» In ihren bisherigen öffentlichen Stellungnahmen führten die beiden Initiatoren unter anderem aus, dass in der aktuellen Verfassung die Worte «Internet» oder «Digitalisierung» nirgends vorkämen.
Auch die unübersichtliche Kompetenzordnung im Gesundheitswesen brachten sie zur Sprache. Gegenüber plädoyer macht Huissoud auch den Ständerat und das Ständemehr zum Thema: «Das sind Relikte aus der Zeit nach dem Sonderbundskrieg und bis heute heilige Kühe. Aber wir sollten die Diskussion darüber aufnehmen.»
Statt 26 Kantone nur noch 5 Grosskantone
Schweizer Staatsrechtsexperten beurteilen die Notwendigkeit einer Totalrevision unterschiedlich. Verbesserungspotenzial sehen aber alle. Für Zurückhaltung im Umgang mit allfälligen Änderungen plädiert Hans Georg Seiler. Er war von 2005 bis 2021 Bundesrichter (SVP). In seinen letzten sechs Jahren präsidierte er die Zweite öffentlich-rechtliche Abteilung. «Die ideale Verfassung ist für mich überzeitlich und spiegelt nicht die Tagesaktualität wider», sagt er. Dem Projekt «Update Schweiz» und einer erneuten Totalrevision steht er ablehnend gegenüber.
Probleme ortet er in der Verfassung aber durchaus: «Wesentliche Aspekte des Föderalismus sind nicht abgebildet.» So sei es heute Realität, dass in zentralen politischen Fragen die kantonalen Direktoren zusammenkommen und eine einheitliche Regelung schaffen – die weder demokratisch legitimiert noch föderalistisch sei. Die Kompetenzen solcher Direktorenkonferenzen zu regeln, könnte gemäss Seiler Gegenstand einer Teilrevision sein.
Auch Andreas Kley, Professor für öffentliches Recht an der Universität Zürich, sieht Verbesserungspotenzial in Sachen Staatsorganisation. Er hält die Idee für prüfenswert, die aktuell 26 Kantone auf «5 bis 7 Grosskantone» zu reduzieren. Das hätte zur Folge, dass alle Kantone auch effektiv genügend grosse Verwaltungen hätten. Heute gäbe es Kantone, die kleiner seien als Gemeinden und Probleme mit der Selbstverwaltung hätten. Allgemein seien in den letzten Jahren «immer mehr Kompetenzen auf Bundesebene gewandert», so Kley. Eine Machtverschiebung beobachtete er auch von den Parlamenten hin zur Regierung.
Kley ist ein profilierter Kritiker der Notrechtspraxis, wie sie in den letzten Jahren angewandt wurde. «Unsere aktuelle Bundesverfassung will gar kein Notrecht zulassen.» Der häufig zitierte Artikel 185 Absatz 3 BV, der es dem Bundesrat bei «eingetretenen oder unmittelbar drohenden schweren Störungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit» erlaube, Verordnungen oder Verfügungen zu erlassen, sei nur für Gesetzeslücken vorgesehen.
Im Fall Credit Suisse habe es keine gesetzliche Lücke gegeben. Mit der «Too big to fail»-Regulierung habe vielmehr ein Gesetz genau für solche Fälle vorgelegen. Trotzdem habe der Bundesrat zu Notrecht gegriffen. «Man könnte die Anwendung von Notrecht klarer regeln», so Kley: «Zum Beispiel, indem man in der Verfassung verankert, dass der Artikel 185 eben nur «im Rahmen der Verfassung» gelten soll – wie es eigentlich die Absicht war.»
Eine Totalrevision der BV sieht Kley skeptisch.
Das würde zu einer neuen Praxis, einer neuen Rechtsprechung und zu neuer Verunsicherung führen. «Eine Verfassung ist kein Computerprogramm – und ein Update ist ein Stück weit auch eine Blackbox.» Auch sei die heutige Verfassung erst 24 Jahre jung. Michel Huissoud von «Update Schweiz» widerspricht: «Der Vorentwurf der heutigen Verfassung stammt aus dem Jahr 1981.» Auf diesen Vorentwurf sei massgeblich abgestellt worden. Die Verfassung sei somit nicht 24, sondern 42 Jahre alt.
Unzeitgemässe Anrufung des «Allmächtigen»
Judith Wyttenbach, Professorin für Staats- und Völkerrecht an der Universität Bern, gibt ihm grundsätzlich recht: «Die aktuelle BV atmet durchaus den Geist der späten 1980er-Jahre und ist ein Stück weit ein Nachführungsprojekt.» Allerdings nicht nur, so Wyttenbach. «2007 gab es eine Justizreform, die Rechtsweggarantie im Sinne von Artikel 29a BV wurde eingeführt – das waren bedeutende Neuerungen.»
Die Grundstruktur der heutigen Verfassung hält Wyttenbach für «tauglich». Jedoch gäbe es einige Bereiche, in welchen die BV nicht mehr zeitgemäss sei. Das beginne bei der Präambel, wo noch immer auf «den Allmächtigen» Bezug genommen werde. «Auch gehört für mich zu einer modernen Verfassung die konsequente Umsetzung einer geschlechtsneutralen Sprache», sagt Wyttenbach.
Die Berner Professorin wünscht sich auch eine Überarbeitung des Grundrechtskatalogs. Einen Gesetzgebungsauftrag gäbe es nur bei der Gleichstellung von Mann und Frau und beim Abbau der Benachteiligungen von Menschen mit Behinderung – nicht aber allgemein für das Diskriminierungsverbot gemäss Artikel 8 Absatz 2 BV. «Man sollte einen solchen Gesetzgebungsauftrag auch für die Diskriminierung in wichtigen privatrechtlichen Bereichen vorsehen.»
Um den Grundrechtsschutz von Individuen und den Vorrang der Verfassung zu stärken, aber auch um die Kompetenzordnung zwischen Bund und Kantonen zu schützen, spricht sich Wyttenbach für eine Verfassungsgerichtsbarkeit aus. Den Artikel 190 BV, der Bundesgesetze und nicht die Verfassung für die rechtsanwendenden Behörden und Gerichte – auch das Bundesgericht – für massgebend erklärt, gelte es zu revidieren. Mit diesem Anliegen rennt Wyttenbach bei ihrer Zürcher Kollegin Helen Keller offene Türen ein.
Seit dem PKK-Urteil 1998, wo es um den Umgang mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK ging, gebe es «zwei Klassen von Grundrechten», sagt Keller. Das Bundesgericht habe nämlich festgehalten, dass völkerrechtliche Normen, die dem Schutz der Menschenrechte dienen – und wie sie vor allem im Grundrechtskatalog der EMRK festgehalten sind – Bundesgesetzen grundsätzlich vorgehen.
Manche dieser Grundrechte finden sich auch in der Bundesverfassung. Für diese Grundrechte gelte deshalb de facto eine Verfassungsgerichtsbarkeit. Für andere Grundrechte, die in der BV, nicht aber in der EMRK, verankert sind – zum Beispiel die Wirtschaftsfreiheit – jedoch nicht. «Ein solcher Flickenteppich sollte im Jahr 2023 nicht die Realität in einem Rechtsstaat sein», sagt Keller.
Mehr Kompetenzen für das Bundesgericht
Eine neue Verfassung müsste gemäss Keller definieren, wie weit die Kompetenzen des Bundesgerichts reichen. Und die Zürcher Professorin vertritt den Standpunkt, dass diese im Vergleich zu heute zu erweitern sind.
Widerspruch erntet sie von Hans Georg Seiler. «Bei der Verfassungsgerichtsbarkeit geht es meist um unbestimmte Rechtsbegriffe wie etwa «Rechtsgleichheit», sagt er. «Weshalb soll ein Richtergremium solche Begriffe besser konkretisieren können als der Gesetzgeber?» Letztlich gelte auch an Gerichten das Mehrheitsprinzip, so Seiler, «einfach die Mehrheit des Spruchkörpers statt die politische Mehrheit».
Für Keller ist es jedoch offensichtlich, dass politische Mehrheiten sich nicht für Minderheiten einsetzten. Die Verfassungsgerichtsbarkeit könne ein wichtiges Korrektiv bilden: «Ein Parlament entscheidet in der Regel politisch und anders als ein Gericht nicht nach grundrechtlichen Kriterien.»
Über Kreuz liegen Keller und Seiler auch in der Frage, ob die Beziehung der Schweiz zum Ausland in der Verfassung klarer geregelt sein sollte. Während Seiler keinen Bedarf für eine programmatische Bestimmung sieht, spricht sich Keller für einen Europa-Artikel in der Verfassung aus. «In diesem sollten wir uns zu Europa bekennen und festlegen, bei welchen europäischen Rechtsmechanismen wir mitmachen.»
Keller hofft nicht nur in der Europafrage auf Aufbruchstimmung: «Biodiversität, Klima, Digitalisierung – die Zukunft bringt grosse Herausforderungen. Die aktuelle Verfassung sagt so gut wie nichts dazu.» Sie begrüsst deshalb die Initiative «Update Schweiz» und den Ruf nach einer Totalrevision.