Sollen Schweizer Strafverfolger Informationen aus im Ausland erfolgten Überwachungen verwerten dürfen? Diese Frage treibt seit einigen Monaten hiesige Staatsanwaltschaften, Strafverteidiger und Gerichte um. Grund dafür sind zwei aktuelle Fälle, in denen Behörden wie die US-amerikanische Bundespolizei FBI oder Europol Hunderttausende verschlüsselte Handys heimlich überwachten.
In Europa geht es um eine verschlüsselte Nachrichten-App mit der Bezeichnung Sky ECC. Sie galt als besonders sicher und wurde weltweit auch von Kriminellen benutzt. Rund 170'000 Benutzer setzten auf diese App. Was sie nicht wussten: 2019 war es Ermittlern gelungen, die App zu hacken und die Kommunikation der Benutzer in Echtzeit abzuhören. Die Strafverfolgungsbehörden der Niederlande, Belgiens und Frankreichs fingen über 20 Monate hinweg täglich bis zu 1,5 Millionen Nachrichten ab.
Laut Europol wurden rund 70'000 Mobiltelefone überwacht. Im März 2021 führte dies zu gross angelegten Polizeioperationen mit Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und Beschlagnahmungen – auch in der Schweiz. Hier laufen zurzeit gemäss Medienberichten über 60 Ermittlungen. «Es geht um Kokain, Cannabis, synthetische Drogen und Waffen», sagte Nicoletta della Valle, die frühere Chefin des Bundesamts für Polizei.
Der zweite Fall betrifft die Massenüberwachung der verschlüsselten Kommunikationsplattform Anom durch das FBI. Anders als bei Sky ECC wurde Anom von den US-amerikanischen Behörden selbst entwickelt und betrieben, um kriminelle Aktivitäten zu überwachen. Der Durchbruch bei Anom gelang dem FBI dank einem Informanten, der zuvor Handys an kriminelle Netzwerke verkaufte. Um einer Gefängnisstrafe zu entgehen, bot er dem FBI an, Anom in seinem Kundennetz zu verbreiten. Zur Umgehung der Gesetze der USA gründete das FBI darauf ein Unternehmen in Panama. Es lieferte 12'000 verschlüsselte Geräte mit Anom-Verschlüsselung an mehr als 300 kriminelle Banden in 100 Ländern. Zudem nutzte das FBI ausländische Server.
Damit konnten die US-Strafverfolger die Kommunikation der Handybesitzer in Echtzeit überwachen und eine der grössten internationalen Ermittlungen gegen organisierte Kriminalität starten: Die Kooperation zwischen dem FBI, der australischen Bundespolizei, Europol und weiteren internationalen Partnern mündete in die Operation Trojan Shield: Ab 2019 sichteten die Behörden innerhalb von 18 Monaten über 27 Millionen Nachrichten.
Anschliessend wurden in 16 Ländern 800 Verdächtige verhaftet sowie mehrere Tonnen Kokain und Cannabis sowie über 250 Waffen beschlagnahmt. Die FBI-Aktion führte in der Schweiz ebenfalls zu Strafverfahren. Im Kanton Aargau ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen Anom-Nutzer. Ein Verdächtigter ist in Untersuchungshaft. Nun will sie Beweise verwerten, die das FBI und ihre Partner ohne rechtliche Grundlage erhoben. Die Staatsanwältin versuchte es zuerst mit einem Antrag beim Zwangsmassnahmengericht, das die Anom-Daten als Zufallsfund beurteilen soll.
Das Gericht erteilte grünes Licht. Das Obergericht erklärte diese Verfügung für nichtig. Sein Argument: Einzig bei einer Überwachung in der Schweiz könnten solche Daten als Zufallsfund eingestuft werden. Bei einer ausländischen Überwachung hingegen müsse das Sachgericht klären, ob die Beweise verwertbar sind. Diese Sichtweise bestätigte letztes Jahr auch das Bundesgericht.
In Aargauer Fall fehlte ein konkreter Anfangsverdacht
Der Aargauer Rechtsanwalt Kenad Melunovic verteidigt den Beschuldigten. Er sagt, nichts hindere die Staatsanwaltschaft daran, die Daten auszuwerten. Sie trage aber das Risiko der Unverwertbarkeit, wenn das Gericht an der Hauptverhandlung feststellen sollte, dass diese Beweise ohne genügende Gesetzesgrundlage erhoben wurden. Diese Frage stellte sich schon bei einem Schweizer Gerichtsverfahren mit Sky-ECC-Daten in Basel.
Das Strafgericht liess die Auswertung der Daten der ausländischen Überwachungsaktion zu, weil ein französisches Gericht die Abhöraktion bewilligt hatte. Die Ausgangslage ist laut Melunovic aber nicht dieselbe: «Bei Anom liegt der besondere Fall vor, dass die gesamte Aktion Trojan Shield klandestin war und nur dank einer Umgehung von gesetzlichen Grundlagen möglich war.» Ein dringender Tatverdacht habe sich erst durch die Überwachung ergeben.
Auch das Aargauer Obergericht stellt in seinem Urteil fest, dass ein konkreter Anfangsverdacht fehlte. Der Basler Strafrechtsprofessor Wolfgang Wohlers kritisiert dies in seinem Aufsatz zur «Verwertbarkeit von Informationen aus im Ausland erfolgten Überwachungen» als «Massenausforschungen ohne individualisierten Tatverdacht gegen einzelne Nutzer». Wohlers weist plädoyer auf die fragwürdige Praxis hin, dass «die Schweizer Strafbehörden nur aufgearbeitete Ergebnisberichte zur Verfügung gestellt bekommen, mehr nicht».
Also keine Rohdaten und keine Hinweise dazu, auf welcher tatsächlichen und rechtlichen Grundlage die Erkenntnisse gewonnen und wie sie bearbeitet wurden. Damit ist der fundamentale Anspruch auf ein faires Verfahren verletzt, der in Artikel 6 der europäischen Menschenrechtskonvention, in Artikel 3 Absatz 2 Strafprozessordnung und in Artikel 29 Absatz 1 der Bundesverfassung verankert ist. Der Fair-Trial-Grundsatz umfasst insbesondere das rechtliche Gehör und das Akteneinsichtsrecht.
Gemäss Bundesgerichtsentscheid 129 I 85 stellt das Akteneinsichtsrecht sicher, dass der Angeklagte als Verfahrenspartei von den Entscheidgrundlagen Kenntnis nehmen und sich wirksam und sachbezogen verteidigen kann. Die effektive Wahrnehmung dieses Anspruchs setze notwendig voraus, «dass die Akten vollständig sind».
In einem Strafverfahren bedeute dies, dass die Beweismittel «in den Untersuchungsakten vorhanden sein müssen und dass aktenmässig belegt sein muss, wie sie produziert wurden, damit der Angeklagte in der Lage ist, zu prüfen, ob sie inhaltliche oder formelle Mängel aufweisen und er gegebenenfalls Einwände gegen deren Verwertbarkeit erheben kann». Dies sei Voraussetzung dafür, dass er seine Verteidigungsrechte überhaupt wahrnehmen könne, wie dies Artikel 32 Absatz 2 der Bundesverfassung verlangt.
Bei den von ausländischen Behörden zugespielten Unterlagen sehen sich die Gerichte gemäss Wohlers mit denselben Herausforderungen konfrontiert wie die beschuldigten Personen und ihre Verteidigung. Könne das Gericht den Beweiswert der Informationen nicht verifizieren, dürfe es nicht davon ausgehen, dass diese Informationen «den tatsächlichen Sachverhalt belegen».
Claudio Riedi ist Erster Staatsanwalt in Graubünden. Der Jurist promovierte an der Universität Luzern zum Thema «Auslandsbeweise und ihre Verwertung im schweizerischen Strafverfahren». Er weist darauf hin, dass es auf die Frage, welches Recht bei der Beweismittelverwertung zur Anwendung gelangt, unterschiedliche Ansichten gebe. In der Lehre bestehe weitgehend Einigkeit, dass das Recht des ersuchenden Staats zur Anwendung komme, also das Recht des Staats, der das Strafverfahren durchführt. Auch Professor Wohlers spricht sich in solchen Fällen für die Anwendung von Schweizer Recht aus.
Rechtmässigkeit mit Gutachten kaum zu belegen
Bei der Beweiserhebung hingegen gilt nach Ansicht von Riedi das Recht des Landes, in dem die Beweise erhoben wurden. Wenn die Schweizer Behörden diese Beweise verwenden wollen, müssten sie vorher prüfen, ob die Beweise im ersuchten Staat rechtmässig erhoben wurden und ob die ausländische Norm rechtsstaatlichen Prinzipien widerspreche. Wurden die Beweise unrechtmässig erhoben, seien sie möglicherweise unverwertbar. Auf die Frage, wie denn die hiesigen Strafbehörden die Einhaltung des ausländischen Rechts prüfen wollen, antwortet Riedi: «Dies ist mittels Gutachten zu eruieren.»
Wolfgang Wohlers widerspricht vehement. Er hält es für ausgeschlossen, die Rechtmässigkeit der im Ausland durchgeführten Beweisgewinnungsmassnahmen durch ein Gutachten klären zu wollen. Ein Gutachter könnte allenfalls feststellen, ob gewisse Ermittlungsmassnahmen im Ausland überhaupt zulässig sind oder nicht: «Damit ist aber nicht erwiesen, dass die Voraussetzungen für die Durchführung im konkreten Einzelfall vorlagen und die Massnahmen prozessordnungsgemäss durchgeführt worden sind.»
Um dies gutachterlich beurteilen zu können, müsste der Gutachter laut Wohlers eine Einsicht in alle den Massnahmen zugrundeliegenden Ermittlungshandlungen haben. «Dass diese Einsicht von den ausländischen Stellen gewährt wird, halte ich für sehr zweifelhaft. Vollkommen ausgeschlossen ist es dann, wenn es um Massnahmen geht, bei denen nicht nur ausländische Strafbehörden beteiligt waren, sondern auch Geheimdienste.»
Der Zürcher Strafverteidiger Franziskus Jaklin verfasste eine Dissertation zur Verwertbarkeit der Daten aus den Anom- und Sky-ECC-Fällen. Er betont, dass ein Rechtsgutachten voraussetzen würde, dass die technischen Modalitäten und Eigenschaften der Überwachungssoftware von Sky ECC und Anom bekannt seien. Dies sei jedoch nicht gewährleistet. Aufgrund der Geheimhaltung der Quellcodes und der Rohdaten sei dies nicht möglich.