Das Tempo ist atemberaubend, der Eifer gross. Die Notwendigkeit für den Aktivismus bleibt jedoch fragwürdig: Nirgendwo wird so häufig am Recht geschraubt wie im Strafrecht – der sinkenden Kriminalität zum Trotz. Jüngst hat Justizministerin Simonetta Sommaruga der Öffentlichkeit dargelegt, was sich im materiellen Strafrecht im Auftrag des Parlaments als Nächstes ändern soll: Bei ausgewählten Gewalt- und Sexualdelikten werden gemäss Vorschlag des Bundesrats die Mindeststrafen massiv erhöht. Was sie als «Harmonisierungsvorlage» darstellt, schränkt das Ermessen der Richterinnen und Richter ein und muss als Misstrauensvotum an die Gerichte interpretiert werden.
Der Freiburger Strafrechtsprofessor Marcel Niggli sagte dem «St. Galler Tagblatt», es handle sich in Wirklichkeit um eine Totalrevision des Strafrechts und um eine Verschärfungsvorlage.
Nicht weniger Sprengstoff birgt die Reform der Strafprozessordnung (StPO), die von der breiten Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen wird. Das mangelnde Interesse steht im Gegensatz zur Bedeutung der Vorlage. Mit den vorgeschlagenen Änderungen an der erst siebenjährigen eidgenössischen Strafprozessordnung steht nichts Geringeres als der faire Prozess zur Debatte.
Strafverfolger gewinnen nochmals Macht
Der Basler Strafrechtsprofessor und Advokat Niklaus Ruckstuhl bezeichnet die Vorlage als eine «unreflektierte Verschiebung der Gleichgewichte»: Hin zum Vorverfahren, wo das Wesentliche geschieht, weg vom Hauptverfahren, das fast nur noch ein mittelbares ist. Mit anderen Worten: Die Strafverfolger gewinnen nochmals an Macht, die Beschuldigten und deren Verteidiger verlieren zunehmend Rechte.
Auch dem Zürcher Strafverteidiger Matthias Brunner ist die Machtverschiebung ins Auge gesprungen: «Die vorgeschlagenen Änderungen sind fast durchwegs im Sinne der Staatsanwaltschaft ausgefallen. Das macht die ganze Vorlage fragwürdig. Nur einzelne, eher unerhebliche Vorschläge bringen den Beschuldigten ein bisschen mehr Rechte. Und was besonders bedenklich ist: Die Fehlentwicklungen der letzten Jahre werden nicht etwa behoben, sondern noch verstärkt.»
Verlagerung in die geheime polizeiliche Vorermittlung
Der erfahrene Strafrechtler meint insbesondere vier Phänomene: Erstens verschöben sich das Geschehen und die Kompetenzen immer mehr in die geheimen polizeilichen Vorermittlungen, was zweitens die Machtkonzentration der Staatsanwaltschaft verstärke. Drittens torpediere die Ökonomisierung des Strafrechts den «fair trial». Zu diesen Effizienzbestrebungen zählt Brunner das abgekürzte Verfahren oder das Strafbefehlsverfahren. Dieses berge in der heutigen Ausgestaltung die Gefahr von Fehlurteilen, was mit den Reformvorschlägen nicht beseitigt werde.
Als vierten und zentralen Punkt nennt Brunner die ungebremste Tendenz hin zu einem Präventivstrafrecht, was dem Grundprinzip des Strafrechts als ein repressives Recht widerspreche: «Mit der betonten Ausrichtung auf die Prävention wird das Strafrecht zweckentfremdet. Prävention ist in erster Linie Sache der Polizei. Das Strafrecht hat vergangenes Unrecht aufzuarbeiten und – gegebenenfalls – zu sanktionieren.»
Mit ihren Einschätzungen stehen Ruckstuhl und Brunner nicht alleine da. Der Schweizerische Anwaltsverband und die Demokratischen Juristinnen und Juristen der Schweiz lehnen die Reformvorschläge unisono und in ihrer Gesamtheit ab. Beide Verbände konstatieren, dass die verfassungsmässig gebotene Waffengleichheit weiter geschwächt werde und notwendige Reformen unterbleiben.
Vonseiten der Staatsanwaltschaften fallen die Reaktionen unterschiedlich aus. Ulrich Weder, ehemaliger Leitender Staatsanwalt im Kanton Zürich, spricht in einem NZZ-Gastkommentar zwar ebenfalls von einer verfehlten Revision, die abzulehnen sei. Er meint damit aber, dass die Interessen der Strafverfolger immer noch zu wenig berücksichtigt würden. Die beschnittenen Teilnahmerechte der Beschuldigten gehen dem pensionierten Staatsanwalt weiterhin viel zu weit, die Bestellung der notwendigen Verteidigung kommt ihm viel zu früh. Den präzisierten Haftgrund der Wiederholungsgefahr bezeichnet Weder gar als «kriminalpolitisch äusserst bedenklich» – obwohl die Voraussetzungen gelockert werden. Gemäss geltendem Recht müssen mehrere gleichartige Strafen für frühere Delikte vorliegen, in Zukunft soll eine einzige Strafe genügen, die nicht einmal mehr «gleichartig» sein muss.
Der Berner Staatsanwalt Roland Kerner, der in der Arbeitsgruppe Strafprozessrevision des Bundesamts für Justiz mitwirkte, mag sich der Kritik seines ehemaligen Berufskollegen nicht anschliessen. «Diese Position wäre 2010 noch berechtigt gewesen, als es darum ging, die schweizerische Strafprozessordnung zu gestalten.» Jetzt werde aber die geltende Strafprozessordnung reformiert. Die Vorschläge seien natürlich Kompromisse, «aber sie bringen Verbesserungen, die auch von der Staatsanwaltschaft begrüsst werden».
Staatsanwälte sind mehrheitlich zufrieden
Im Zentrum der Kritik stehen die Teilnahmerechte der Parteien an den Beweiserhebungen. In einem neuen Artikel 147a StPO sollen sie eingeschränkt werden können: «Ist zu befürchten, dass die beschuldigte Person ihre Aussagen an diejenigen einer einzuvernehmenden Person anpassen wird, so kann die Staatsanwaltschaft sie von dieser Einvernahme ausschliessen», so der Wortlaut von Absatz 1 der vorgeschlagenen Neuerung. Der Ausschluss gilt auch für die Verteidigung. Als Kompensation für den Ausschluss soll eine solche Einvernahme in Bild und Ton aufgezeichnet werden; ausser, die ausgeschlossene Partei verzichtet darauf.
Staatsanwalt Roland Kerner bedauert, dass damit über die Minimalvorgabe der EMRK hinausgegangen wird. Laut Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte genügt es, wenn Mitbeschuldigte oder deren Verteidigung einmal im Verfahren an einer Konfrontationseinvernahme teilnehmen können. Mit dieser Ansicht widerspricht Kerner auch dem Berner Rechtsanwalt Oliver Lücke.
Die Obwaldner Oberstaatsanwältin Esther Omlin schlägt vor, das Aufnahmeobligatorium zu streichen. Es schiesse über das Ziel hinaus, der Aufwand dafür wäre zu gross. Omlin und Kerner sind der Ansicht, dass auch das Akteneinsichtsrecht hätte geändert werden müssen. Roland Kerner sagt: «Es nützt aus Sicht der Strafverfolger nicht viel, wenn wir die Teilnahme des Beschuldigten und seines Anwalts an Einvernahmen von Mitbeschuldigten oder Zeugen ausschliessen können, sie aber über die Akteneinsicht Kenntnis von den Aussagen erhalten. Besonders problematisch kann dies sein, wenn sich der Beschuldigte oder ein Mitbeschuldigter in Freiheit befindet. In diesem Fall könnte er die über die Akteneinsicht gewonnenen Erkenntnisse zur Verdunkelung nutzen.»
Dennoch: Der Berner Staatsanwalt sagt, er könne mit den vorgeschlagenen Änderungen leben –ganz anders als die Strafverteidiger. Die Einschränkung des Teilnahmerechts der beschuldigten Person ist für die Verteidiger ein Paradebeispiel für die gefährliche Machtverschiebung zugunsten der Strafverfolger.
Bereits das Bundesgericht schränkte die heute geltende Teilnahmeregelung dahingehend ein, dass jede Person zu jedem Tatvorwurf mindestens einmal ohne Teilnahme anderer Parteien einvernommen werden kann (BGE 139 IV 25). Diese höchstrichterliche Auslegung ging einigen Staatsanwälten zu wenig weit. Sie begannen, Verfahren zu trennen, um die Teilnahmerechte der Mittäter zu umgehen. Das Bundesgericht zeigte für solche Tricksereien wenig Verständnis (Urteil 1B_124/2016). Der Vorschlag des Bundesrats buchstabiert hier zurück und kommt der Staatsanwaltschaft weit entgegen.
Für Matthias Brunner ist der vorgeschlagene Artikel 147a StPO eines von mehreren Beispielen dafür, wie unsorgfältig gearbeitet wurde. «Die Norm stellt einen Freipass für die Staatsanwälte dar. Sie können nach Belieben entscheiden, ob die Teilnahmerechte gewährt werden oder nicht.» Gerade wenn es um derart weitreichende Beschneidungen der Beschuldigten-Rechte gehe, so Brunner, müssten die Anforderungen im Gesetz sowohl restriktiv als auch klar umschrieben werden.
Abwertung des Haftrichters kaum EMRK-konform
Grosses Unverständnis zeigen die Strafverteidiger beider Anwaltsorganisationen auch beim vorgeschlagenen neuen Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft im Rahmen von haftrichterlichen Entscheiden. Der Bundesrat übernimmt in seinem Entwurf die Rechtsprechung des Bundesgerichts (BGE 137 IV 22), das von einem Versehen des Gesetzgebers ausgeht und deshalb auch den Staatsanwälten ein Beschwerderecht zubilligt. Der Solothurner Rechtsanwalt Konrad Jeker hält nichts davon: «Die vorgeschlagene Lösung ist entsetzlich kompliziert und bringt nur Probleme.»
Sämtliche Kritiker zweifeln an der EMRK-Kompatibilität: Zum einen, weil das Beschleunigungsgebot kaum mehr eingehalten werden kann. Zum anderen, weil dem Haftrichter wesentliche Kompetenzen entzogen werden. «Es stellt sich deshalb die Frage», so Strafverteidiger Brunner, «ob es sich beim Haftrichter noch um einen vollwertigen Richter im Sinne der EMRK handelt.» Jeker erinnert daran, dass heute in der Schweiz die allermeisten Haftentscheide zuungunsten des Inhaftierten ausfielen: «Die Erfolgsquoten bei Haftbeschwerden der Betroffenen sind lächerlich tief. Es ist nicht einzusehen, warum den Staatsanwälten gerade hier ein zusätzliches Recht eingeräumt werden soll.»
Ebenfalls auf Ablehnung bei der Anwaltschaft stösst die Ausgestaltung der Sicherheitshaft nach dem erstinstanzlichen Urteil. Wenn ein Beschuldigter von einem Gericht nach Würdigung aller Beweise freigesprochen werde, sei kein dringender Tatverdacht mehr gegeben. Dass der Beschuldigte dann für die Dauer des Berufungsverfahrens dennoch wegen dringenden Tatverdachts in Haft gesetzt werden soll, sei ein Widerspruch in sich selbst.
Alternativvorschlag zum Teilnahmerecht
Der Schweizerische Anwaltsverband und die Demokratischen Juristinnen und Juristen der Schweiz reichten dem Bundesamt für Justiz in der Vernehmlassung einen eigenen Vorschlag zum Teilnahmerecht ein:
Art. 147a StPO
Abs. 1: Die Staatsanwaltschaft kann eine beschuldigte Person und ihre Verteidigung von der Teilnahme an einer Einvernahme ausschliessen, wenn die beschuldigte Person selber seitens der Untersuchungsbehörden noch nicht zur Sache befragt worden ist und die konkrete Gefahr einer Absprache besteht.
Abs. 2: Ein Ausschluss ist von der Staatsanwaltschaft schriftlich zu verfügen
und den Parteien vor der Durchführung der entsprechenden Einvernahme zu eröffnen.
Abs. 3: Die Einvernahme wird in Bild und Ton aufgezeichnet, sofern die von der Einvernahme ausgeschlossene Person nicht auf die Aufzeichnung verzichtet.