Der seit kurzem pensionierte Zürcher Staatsanwalt Andreas Brunner findet nur lobende Worte für den wohl gefragtesten Strafverteidiger der Schweiz: «Lorenz Erni ist ein Mann der vorsichtigen, eher leisen Töne. Er ist kein brillanter Redner oder Blender, sondern ein scharfsinniger Analytiker, der vorausschauend stets in Varianten denkt und die Regeln des Strafprozesses hervorragend beherrscht.»
Brunner ist nicht der Einzige, der von Ernis Qualitäten überzeugt ist. Davon zeugen die Namen der Klienten: Erni verteidigte Swissair-Chef Philipp Bruggisser, Financier Martin Ebner, den russischen Milliardär Viktor Vekselberg, Privatbankier Oskar Holenweger oder den Gastronomen Rudolf Bindella. Sein bekanntester Mandant war Filmregisseur Roman Polanski. In den meisten dieser Fälle endeten die Verfahren mit einem Freispruch. Der Fall des Privatbankiers Holenweger, den die Bundesanwaltschaft wegen angeblichen Schwarzgeldgeschäften über acht Jahre lang verfolgte, kostete die Bundesanwälte Valentin Roschacher und Erwin Beyeler sowie den Untersuchungsrichter Ernst Roduner die Stelle.
«Über meine Klienten rede ich nicht», stellt Erni gleich zu Beginn des Gesprächs in seinem Büro an der Ankerstrasse im Zürcher Kreis 4 fest. Dort, gegenüber des Bezirksgerichts Zürich, eröffnete der heute 64-Jährige zusammen mit dem Zivilrechtler Urs Eschmann 1981 eine Kanzlei. An deren Zusammensetzung änderte sich bis heute nichts.
«Erni suchte bewusst keine Stelle in einer renommierten Anwaltskanzlei», sagt Brunner. «Er war in den ersten Jahren hauptsächlich mit amtlichen Mandaten beschäftigt.» Das waren vor allem Betäubungsmittel-, Eigentums- und Gewaltdelikte. Brunner erinnert sich: «Erni schuf sich bei den Justizbehörden bald einen guten Namen, sodass ihm immer häufiger auch komplexere Fälle als Pflichtverteidiger übergeben wurden. Sein Ruf drang hinter die Mauern der Untersuchungsgefängnisse. Nicht selten erbat ein erstinstanzlicher Verurteilter für die zweite Instanz einen Verteidigerwechsel und verlangte Erni.»
Dass aus dem Sohn einer Pianistin ein Anwalt wird, war lange unsicher. «Eigentlich wollte ich Fotograf werden», sagt Erni mit einem Augenzwinkern in Richtung des plädoyer-Fotografen, «glücklicherweise ist aus mir aber doch noch etwas Vernünftiges geworden.» Er entschied sich für ein Rechtsstudium. Vor allem das Strafrecht interessierte ihn. Der angesehene Strafrechtler Peter Noll habe ihn dafür begeistert, sagt Erni. «Noll war damals der einzige Professor, der den Stoff mit Leben füllen konnte.»
Nach dem Studium in Zürich doktorierte Erni in Hamburg mit einer Dissertation zur «Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes als Straftat im deutschen und schweizerischen Strafrecht». Zurück in der Schweiz ging Erni zuerst ans Zürcher Bezirksgericht, später ans Obergericht: «Richtig gepackt hat mich das Strafrecht aber erst, als ich als Verteidiger mit Menschen und ihren Lebensgeschichten konfrontiert wurde.» Die Arbeit am Gericht sei zwar interessant gewesen, «aber die Betroffenheit der Menschen, die in einem Strafverfahren stecken, die nimmt man am stärksten als Anwalt wahr. Als Verteidiger steht man seinen Klienten viel näher als alle anderen Verfahrensbeteiligten.»
Blickt Erni nach über dreissig Jahren als Strafverteidiger zurück, stellt er kaum Veränderungen fest: «Die Gerichte funktionieren noch immer gleich.» Auch bei der Staatsanwaltschaft habe sich wenig verändert – neue Strafprozessordnung hin oder her. «Es gibt gute und weniger gute Staatsanwälte», sagt er mit einem breiten Lächeln.
Spricht man mit Personen, die Erni kennen, wird klar: Er geniesst sowohl an Gerichten wie bei der Staatsanwaltschaft grossen Respekt. Ex-Staatsanwalt Brunner: «Für den mit kriminalistischem Spürsinn ausgestatteten Lorenz Erni steht stets die Maxime ‹Im Zweifel für den Angeklagten› im Zentrum. Zielgerichtet versucht er bei Staatsanwälten und Richtern alle möglichen, allerdings nur alle vernünftigen, keine an den Haaren herbeigezogenen Zweifel zu säen.» Das gelinge nicht immer. Und das anerkenne Erni auch, sagt Brunner. «Wohl deshalb nimmt er Verurteilung oder Freispruch meist emotionslos, vielleicht mit einem scheuen Lächeln entgegen.»
Der heute von einigen Verteidigern praktizierte Einbezug der Medien in die Verteidigungsstrategie war nie Ernis Sache. Interviews gibt er selten, auch seinen Mandanten rät er zu Zurückhaltung: «Die besten Fälle sind die nicht öffentlichen, weil man in Ruhe und ohne Druck von Seiten der Medien arbeiten kann.» Die Medien erleichterten die Arbeit nicht. Und für einen beschuldigten Klienten sei es schwierig, in der Öffentlichkeit zu stehen.
Die Frage nach seinem Erfolgsrezept erstaunt Erni: «Als Anwältin oder Anwalt, egal in welchem Bereich man tätig ist, hat man nur ein Kapital – die Glaubwürdigkeit und den Einsatz. Ein Erfolgsrezept gibt es nicht.» Könnte man seinen angenehmen Umgang mit Staatsanwälten und Richtern nicht als Erfolgsrezept interpretieren? «Nein, warum auch? Im Strafverfahren sind die Rollen klar verteilt», sagt der Strafverteidiger bestimmt. Man könne doch mit jemanden trotzdem fair umgehen, auch wenn er als Gegner im Verfahren auftrete. Aber: «Der Strafverteidiger ist einzig und allein seinem Klienten verpflichtet.» Je nach Fall müsse man diese Aufgabe mehr mit Konfrontation oder mehr Kooperation erfüllen.
Fragt man den langjährigen Anwalt, was sich in der Praxis des Strafverteidigers verändert habe, kommt die Antwort schnell: «Leider ist das Geschworenengericht abgeschafft worden.» Erni schätzte dessen Verfahren wegen der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme. «Eine Person direkt anzuhören und sie beobachten zu können, während sie aussagt, ist etwas ganz anderes, als wenn man die Aussagen nur in einem Protokoll liest.»
Als positiv erachtet Erni hingegen den mit der neuen Prozessordnung eingeführten Anwalt der ersten Stunde: «Das ist eine sehr wichtige Errungenschaft.» Allerdings äussert er Skepsis bei der Umsetzung. Als Präsident des Vereins «Pikett Strafverteidigung» frage er sich, «ob die Beschuldigten von den Behörden tatsächlich so über ihre Rechte informiert werden, dass sie den Anspruch verstehen». Es genüge nicht, ihnen in genereller Form ihre Rechte vorzulesen. Er könne zwar nicht mit Sicherheit sagen, wie die Information der Beschuldigten in der Praxis erfolge, sagt Erni. Aber: «Es fällt auf – und das erstaunt mich –, wie wenige Beschuldigte den Anwalt der ersten Stunde in Anspruch nehmen.»