Kerstin Noëlle Vokinger, Rechtsanwältin und Ärztin, hat zusammen mit ihrem Arztkollegen Urs Jakob Mühlematter nicht weniger als 387 Bundesgerichtsurteile aus den Jahren 2000 bis 2017 analysiert. Die zwei Forscher berücksichtigten dabei alle Entscheide, bei denen die Kostenübernahme medizinischer Leistungen aus der Grundversicherung der Krankenkassen strittig war. Unfälle, Mutterschaft, Geburtsgebrechen und Zahnbehandlungen wurden ausgeklammert. Laut der Studie waren in zwei Dritteln aller untersuchten Fälle die Patienten in der Klägerrolle.
Kostendeckung im Ausland häufiger Streitpunkt
Die Analyse der Urteile zeigt: Patienten ziehen im Streit gegen Versicherer mehrheitlich den Kürzeren. Wenden sich Patienten zum Beispiel mit einer Beschwerde wegen einer abgelehnten Kostenübernahme einer Auslandbehandlung ans Bundesgericht, unterliegen sie in mehr als 80 Prozent aller Fälle. Klagen hingegen die Krankenkassen, obsiegen sie in zwei Dritteln aller Fälle.
Kerstin Vokinger bezeichnet es als auffällig, dass Streitigkeiten bezüglich der Kostendeckung insbesondere bei Auslandbehandlungen und bei Arzneimitteln stark zugenommen haben. Daneben stieg die Zahl der Streitfälle bei onkologischen Behandlungen, in psychiatrischen Fällen und bei Geschlechtsumwandlungen leicht. Laut den Autoren geht es vor Bundesgericht oft auch um Preise von Medikamenten, Krebsbehandlungen, Pflegeleistungen, plastische Chirurgie und Psychiatrie.
Bundesgericht als “Sanierer der Sozialversicherungen”
Laut der Analyse wurden beim Bundesgericht 27 Prozent aller Beschwerden der KVG-Verfahren ganz oder teilweise gutgeheissen. Diese Zahl variiert jedoch je nach Zahl der Richter: Die Wahrscheinlichkeit einer Gutheissung steigt, je mehr Richter über einen Fall urteilen. In Dreierbesetzung wurden 27 Prozent gutgeheissen, in Fünferbesetzung 31 Prozent. In den meisten Fällen setzte sich das urteilende Gericht aus drei Richtern zusammen.
Ueli Kieser, Rechtsanwalt und Professor für Sozialversicherungsrecht, ist über die Ergebnisse der empirischen Studie nicht erstaunt. Eine Gutheissungsquote von über 30 Prozent sei «gar nicht so schlecht», erläutert Kieser. Vor allem vor dem Hintergrund, dass das Bundesgericht im Jahr 2017 in allen Abteilungen lediglich 13,4 Prozent der Beschwerden guthiess.
Dass das Bundesgericht die Kassen nur eher zurückhaltend verpflichtet, in strittigen Fällen Leistungen zu erbringen, überrascht auch den Basler Anwalt Markus Schmid nicht: «Wenn man sich die Rechtsprechung im Leistungsrecht der Invaliden- und der Unfallversicherung sowie in der beruflichen Vorsorge vergegenwärtigt, hat man ohnehin den Eindruck, das Bundesgericht in Luzern habe es sich zur Aufgabe gemacht, die Sozialversicherungen zu sanieren.»
Analysiere man hingegen die Lausanner Rechtsprechung bei Streitigkeiten zwischen regressierenden Sozialversicherungen und Haftpflichtversicherungen, stelle man erstaunt fest, «dass dort die Haftpflichtversicherungen zulasten der Sozialversicherungen gerade in grundsätzlichen Fragen obsiegen (etwa in BGE 143 III 79).» Im Bereich der Krankenversicherung könne nur eine Gesetzesänderung Abhilfe schaffen: «Es kann nicht sein, dass man unter dem Deckmantel der Wirtschaftlichkeit eine notwendige Behandlung ablehnen kann, wie es im Myozyme-Entscheid geschah (BGE 136 V 395).»
Schmid kritisiert damit eine der drei Voraussetzungen für eine Kostenübernahme im Rahmen der obligatorischen Krankenversicherung. So sind für eine Kostenübernahme Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit der Leistung ausschlaggebend. Laut Bundesgericht ist eine Leistung wirksam, wenn sie geeignet ist, «das angestrebte diagnostische oder therapeutische Ziel zu erreichen». Die Zweckmässigkeit fragt nach dem diagnostischen oder therapeutischen Nutzen im Einzelfall unter Berücksichtigung der damit verbundenen Risiken – gemessen am angestrebten Heilerfolg der möglichst vollständigen Beseitigung der körperlichen oder psychischen Beeinträchtigung.
“Der Anfang einer unguten Entwicklung”
Das Wirtschaftlichkeitserfordernis bezieht sich auf die Wahl unter mehreren zweckmässigen Diagnose- oder Behandlungsalternativen. Bei vergleichbarem medizinischem Nutzen ist die kostengünstigste Variante beziehungsweise diejenige mit dem besten Kosten-Nutzen-Verhältnis zu wählen. Vor acht Jahren äusserte sich das Bundesgericht in einem Leiturteil erstmals ausdrücklich zur Frage der Wirtschaftlichkeit einer teuren medikamentösen Behandlung (BGE 136 V 395). Unbestritten war, dass es sich beim Morbus Pompe um eine seltene Krankheit handelt (englisch Orphan Disease), das strittige Medikament Myozyme nicht auf der Spezialitätenliste steht und es kein alternatives Arzneimittel zur Behandlung der Krankheit gibt.
Das Bundesgericht hatte nun zu klären, ob die Kosten von rund 800 000 Franken für die Behandlung wirtschaftlich sind. Es kam zum Schluss, dass selbst dann, wenn ein hoher therapeutischer Nutzen erwiesen wäre, eine Leistungspflicht aus Wirtschaftlichkeitsgründen, also mangels eines angemessenen Verhältnisses zwischen den Kosten und dem Nutzen, zu verneinen sei.
Für Markus Schmid stellt das Urteil den Anfang einer sehr unguten Entwicklung dar. «Es ist eines Landes wie der Schweiz – immerhin eines der reichsten Länder dieser Welt – unwürdig», konstatiert der Basler Anwalt.