Die radikalsten Juristen der 68er-Jahre reduzierten ihre Rechtskritik auf die Formel, die herrschende Meinung sei ohnehin die Meinung der Herrschenden. Damit wurde jedes emanzipatorische Potenzial des Rechts verneint und Recht als Werkzeug beliebiger Machtverhältnisse taxiert.
Die Demokratischen Juristinnen und Juristen der Schweiz (DJS) entstanden 1978 im Nachgang der 68er-Bewegung. Mehrheitsfähig war diese fundamentale Rechtskritik in ihren Reihen nie. Eine stattliche Anzahl der Mitglieder strebte grundlegende gesellschaftliche Reformen – auch – über das Recht an. Ihr Grundkonsens lautete: eine Gegenmacht in der Justiz bilden und linke (rechts-)politische Standpunkte in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen.
Der Paradigmenwechsel in den 90er-Jahren
Die DJS wollten nichts weniger als «den Abbau gesellschaftlicher Machtstrukturen mit dem Ziel gleicher Möglichkeiten der Selbstverwirklichung für alle», wie es im Protokoll der Gründungsversammlung vom 11. November 1978 heisst. Die erste Generation setzte sich damit das Ziel einer gerechten Gesellschaft jenseits der bestehenden Rechts- und Machtverhältnisse. Und sie war sich gleichzeitig der gesellschaftlichen Interessenkonflikte und der daraus resultierenden politischen und juristischen Auseinandersetzungen bewusst.
Bis Anfang der 90er-Jahre wurde zwischen der Linken und Rechten lebhaft über Gerechtigkeit gestritten. Ab der zweiten Hälfte der 90er-Jahre setzte jedoch ein Paradigmenwechsel ein: Das Politische – mithin der Diskurs über und wider gesellschaftliche (Macht-)Verhältnisse und die Auseinandersetzung über Gerechtigkeit – wurde durch ein technokratisches, ökonomisch geprägtes Sachzwangsdenken ersetzt. Um das Bonmot des Berner Emeritus Richard Bäumlin umzukehren, wurden selbst die Ansätze einer lebendigen Demokratie vollständig gebändigt.
Grundlegend in Frage gestellt wurden diese eingeengten Rahmenbedingungen in den europäischen Postdemokratien fortan selten durch die gesamte Linke, sondern allenfalls durch die Minderheit der politisch gebliebenen Linken. Die Mehrheit der weitgehend postpolitisch gewordenen Linken verlor sich im «Dritten Weg» und forderte den neoliberalen Zeitgeist nicht mehr grundsätzlich heraus, sondern beschränkte sich darauf, seine Spitzen etwas abzurunden.
Die Übernahme des Sachzwangsdenkens
An den DJS ging diese Tendenz ebenfalls nicht spurlos vorbei: Unsere Anliegen beschränkten sich immer mehr auf defensive Feinjustierungen im Rahmen der bestehenden Rechts- und Machtverhältnisse. Positiv emanzipatorische, an Gerechtigkeit orientierte (Rechts-)Perspektiven, die darüber hinaus zielten, gerieten aus dem Fokus und spielten eine marginale Rolle. Und weil der Widerstreit, das Bewusstsein für gesellschaftliche Machtverhältnisse und deren grundlegende Veränderbarkeit für das (Rechts-)Politische konstitutiv sind, fand damit letztlich eine entpolitisierte Übernahme des (rechts-)technokratischen Sachzwangsdenkens statt.
Auch wenn hier eine Repolitisierung der DJS befürwortet wird, kann das Ziel keine denkmalpflegerische Imitation des Vorgehens in den frühen 80er-Jahren sein. Indessen obliegt es uns gemäss der statutarischen Zielsetzung nach wie vor, für eine umfassende Demokratisierung der Gesellschaft und für einen ausgebauten Grundrechtsschutz für alle zu streiten. Daher sollten wir nicht vorschnell vor bestehenden Macht- und Rechtsverhältnissen kapitulieren. Wir müssten uns vielmehr auch heute dezidiert für ein Recht einsetzen, das redlich nach Gerechtigkeit strebt.
Rechtsfreie Räume am Rand der Gesellschaft
Und hier liegt einiges im Argen: Der Zürcher Ordinarius Marcel Senn hält in seinem Werk «Rechtswissenschaft und Juristenausbildung» zu Recht fest, dass das Recht zu einer Waffe in der Hand von wenigen zu verkommen droht, die damit Kapital und Eigentum verteidigen (Seite 4). Sein Kollege Marcel Alexander Niggli kommt in seinem Aufsatz «Ist das Recht am Ende?» zu einem ähnlichen Schluss: «Die ‹rule of law› scheint zu einer ‹rule of money› zu mutieren, wobei nicht diese Mutation an sich das Bemerkenswerte ist, sondern die Tatsache, dass sie widerstandslos hingenommen wird» (AJP 7/2012, Seite 891).
Gerade an den gesellschaftlichen Rändern entstehen zunehmend Räume, in denen fundamentale rechtsstaatliche Prinzipien in Frage gestellt und teils ausser Kraft gesetzt werden – etwa im Migrationsrecht, im Straf- und Strafvollzugsrecht, im Sozialhilfe- und Sozialversicherungsrecht.
Stefan Krauth schreibt in seiner «Kritik des Rechts», es sei die Tradition der Unterdrückten, die uns belehre, diesen «Ausnahmezustand» nicht als Ausnahme, sondern als Regel zu verstehen.
Man mag diesen Rechtspessimismus teilen oder nicht. Fest steht laut Krauth, dass just jene Marginalisierten im heutigen politischen Kontext dennoch Rechte brauchen, um überhaupt (über-) leben zu können (ebenda Seite 131). Mit anderen Worten: Man entkommt zwar mit dem Recht allein kaum sämtlichen Ungerechtigkeiten. Indessen redet das Recht durchaus und immerhin ein gewichtiges Wort beim Ausmass der Ungerechtigkeit mit, was in einer apodiktischen Rechtskritik vergessen geht. Gerade deshalb lohnt es sich auch, auf den fragilen Grundrechten zu insistieren.
Mehr grundsätzliche Einmischung
Wer akzeptiert, dass Recht ungerecht ist, wird ohnehin zum Zyniker, der sich zuweilen selber hochtrabend Realist nennt, wie der Rechtsphilosoph Martino Mona im «Tages-Anzeiger» vom 15. März 2013 schreibt. Den Grundstein für ein Recht, das zunehmend gerecht wird, ortet er in der Einnahme der Perspektive derjenigen, die von der jeweiligen rechtlichen Regelung nachteilig betroffen sind.
Genau hier sollten wir Demokratischen Juristinnen und Juristen ansetzen: Mit einem klaren Bewusstsein die politische Auseinandersetzung suchen und auf einem gerechten Recht insistieren. Ein Mehr an offensiver Rechtskritik, an grundsätzlicher und auch tagespolitischer Einmischung täte not, um nicht länger vor dem hegemonialen neoliberalen Rechtspopulismus zu erstarren.
Repolitisierte Demokratische Juristinnen und Juristen nehmen dennoch nicht vorschnell den schulmeisterlichen Rundumschlag eines Kollegen im plädoyer hin, sondern widersprechen energisch, grundsätzlich und im Detail. Denn erst auf Basis diskutierter Haltungen wird es möglich, den entpolitisierten Rechtskulturpessimismus hinter sich zu lassen und den Wärmestrom der Gerechtigkeit zumindest in ersten Ansätzen zu reaktivieren.
Zusammenfassend stelle ich deshalb folgenden vorläufigen Standpunkt zur Diskussion: Die DJS wissen um den Januskopf des Rechts. Denn das Verhältnis des Rechts zur Macht bleibt ambivalent. In seinen lichten Momenten begrenzt und domestiziert das Recht Machtverhältnisse und trägt zur umfassenden gesellschaftlichen Demokratisierung bei. Sehr oft verschleiert, legitimiert und zementiert Recht aber auch un- und vordemokratische Machtverhältnisse.
Die Demokratischen Juristinnen und Juristen treten deshalb konsequent wider die Instrumentalisierung des Rechts durch die Macht ein; sie streiten für eine lebendige und gegen eine gebändigte Demokratie. Daher obliegt es ihnen nicht bloss im Rahmen bestehender Macht- und Rechtsverhältnisse, linke Positionen einzunehmen. Viel mehr besteht ihre Aufgabe auch und gerade darin, zu insistieren auf der utopisch-emanzipatorischen Sprengkraft des Rechts.