Kerstin Noëlle Vokinger ist jung – doch ihr Leistungsausweis schon beachtlich. Die Motivation und der Tatendrang der Juristin sind ansteckend. Im Herbst 2007 begann die damals 19-Jährige das Jus-Studium an der Uni Zürich. Zwölf Jahre später wird sie mit 31 hier bereits Assistenzprofessorin. Das alleine ist schon eine bemerkenswerte Leistung. Doch Vokinger machte während ihres Rechtsstudiums zusätzlich noch einen Abschluss in Medizin.
Wie geht das? «Jus absolvierte ich grösstenteils im Selbststudium», sagt Vokinger und lächelt schelmisch. Sie nennt es «Schattenstudium». Die Juristin erinnert sich, wie ihr in einer Vorlesung zum Scheidungsrecht im ersten Semester klar wurde, dass Recht und Gerechtigkeit zwei Paar Schuhe sind. «Diese Erkenntnis war schwierig für mich und hat mich sehr beschäftigt.» Abbrechen kam aber nicht in Frage. Zu spannend fand sie das Rechtsstudium. Gleichzeitig nahm das Interesse für Medizin weiter zu. «Mir gefiel die Nähe zum Menschen. Und ich sah interessante Möglichkeiten an der Schnittstelle zwischen Recht und Medizin.»
Vokinger bezeichnet Thomas Gächter als ihren Mentor. Der Sozialversicherungsrechtler an der Uni Zürich lernte die Juristin während eines Seminaraufenthalts in Istanbul kennen. Kurze Zeit später stellte er sie als wissenschaftliche Assistentin eines Programms für Biomedical Ethics and Law an seinem Lehrstuhl an. Gächter: «Ich erkannte gleich ihren enormen Hunger nach Wissen und ihren Tatendrang. Mein Ziel war es, sie zu bremsen, damit sie sich nicht übernimmt und sich selbst in die richtigen Bahnen lenkt.»
Während ihrer vierjährigen Tätigkeit an Gächters Lehrstuhl schloss Vokinger ihr Jus- und Medizinstudium erfolgreich ab, machte das Staatsexamen in Medizin und nach einem Praktikum in einer Anwaltskanzlei gleich auch noch das Anwaltspatent. Gleichzeitig schrieb sie ihre medizinische Dissertation zum Thema «Artificial Intelligence und Machine Learning in der Medizin. Eine medizinische und rechtliche Würdigung».
Ihr aktueller wissenschaftlicher Leistungsausweis: mehr als 50 Publikationen in medizinischen, juristischen, nationalen und internationalen Journals.
Bereits Erfahrung in Harvard
Ihre wissenschaftlichen Kompetenzen drehen sich um die Bereiche Recht, Medizin und Digitalisierung. «Hier kann sie sich profilieren», sagt Gächter. Er befürchtet jedoch, «dass sie uns irgendwann abhandenkommt und nach Harvard berufen wird». Er habe das Gefühl, dass sie von ihrem Format her die Decke in der Schweiz bald erreichen werde.
Harvard kennt die Juristin bereits gut. Sie absolvierte dort vor drei Jahren ein Masterstudium, arbeitete als Postdoc Fellow. Dabei handelt es sich um eine wissenschaftliche Tätigkeit nach dem Doktorat, vergleichbar mit der Stufe einer Habilitation. Zudem ist sie heute affiliiertes Fakultätsmitglied der Harvard Medical School in Boston. Hier arbeitet Vokinger insbesondere mit dem Institutsvorsteher Aaron Kesselheim an gemeinsamen juristisch- medizinischen Forschungsprojekten im Bereich von Arzneimitteln und Medizinprodukten. «Alle zwei Wochen skype ich mit dem Institutsvorsteher, um die Projekte weiterzuentwickeln. Daneben treffen wir uns an Kongressen, wo wir gemeinsame Forschungsergebnisse präsentieren.»
Vokinger nennt Beispiele aus ihrer Tätigkeit in Boston: «Wir haben dieses Jahr am US-Onkologiekongress in Chicago sowie am europäischen Onkologiekongress in Barcelona unsere Studie präsentiert, wonach es keine Korrelation zwischen therapeutischem Nutzen und Preisen von Onkologika gibt.» In einer anderen Studie ging es um künstliche Intelligenz und Medikamente. Immer mehr Medizinprodukte nutzen künstliche Intelligenz, um Patienten präziser zu diagnostizieren und behandeln. Obwohl viele Produkte bereits zugelassen wurden, sind viele regulatorische Fragen noch ungeklärt.
Für Vokinger ist mit der Berufung an die juristische Fakultät der Uni Zürich ein Traum in Erfüllung gegangen. «Das Berufungsverfahren war herausfordernd. Ich zweifelte, ob es klappen würde.» Sie schätzt heute die sehr guten Forschungsmöglichkeiten und auch ihre Kollegen. Gegenwärtig baut sie ein Team auf. Dafür sucht sie Geld. Bei der Krebsliga war sie bereits erfolgreich. «Damit kann ich zwei Assistenzstellen finanzieren.» Nebst Juristen seien auch Mediziner und Wissenschafter mit Wissen in Statistik und Programmierung gefragt.
Inhaltlich beschäftigt sich ihre Forschung etwa mit folgenden Fragen: Wie ist künstliche Intelligenz vom Staat oder in der Medizin einzusetzen? Wie muss sie reguliert werden? Wie ist der Umgang mit Gesundheitsdaten zu regulieren? Wie kann der Zugang von Patienten zur Medizin – insbesondere Onkologika – verbessert werden vor dem Hintergrund der stets steigenden Gesundheitskosten?
Im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit analysierte sie Ende 2018 etwa zusammen mit dem Radiologen Urs Jakob Mühlematter 387 Bundesgerichtsurteile aus den Jahren 2000 bis 2017. Dabei berücksichtigten sie alle Entscheide, bei denen die Kostenübernahme medizinischer Leistungen aus der Grundversicherung der Krankenkassen strittig war. Resultat: Die Patienten unterliegen mit ihren Beschwerden in mehr als 80 Prozent aller Fälle. Rekurrieren hingegen die Krankenkassen, obsiegen sie in zwei Dritteln aller Fälle (plädoyer 6/2018).
Ein Notizbüchlein für alle Forschungsideen
Kerstin Vokinger ist in der Nähe von Lenzburg und in Bergdietikon AG aufgewachsen. Seit dem Studium wohnt sie in Zürich. Sie führt stets ein kleines Notizbuch mit sich, in dem sie ihre Forschungsideen notiert. «Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man nie wirklich weiss, wann und wo die Kreativität durchbricht», sagt sie lachend.
Wichtig ist für Vokinger, in der Wissenschaft unabhängig zu sein. «Als Professorin will ich nicht, dass Interessengruppen wie eine Grossbank oder eine Pharmafirma Einfluss auf meine Forschungstätigkeit nehmen.» Sie ergänzt: «Als Wissenschafterin will ich der Gesellschaft dienen und mir selbst treu bleiben.»