1. Neue Regeln für Gutachten
Am 1. Januar 2022 traten diverse Gesetzes- und Verordnungsänderungen in Kraft, welche die Transparenz erhöhen und die Rechte der Versicherten im Sozialversicherungsverfahren stärken sollen. Neu sind standardmässig Tonaufnahmen der gutachterlichen Explorationen anzufertigen,2 und die IV-Stellen müssen Listen führen, welche die attestierten Arbeitsunfähigkeiten systematisch erfassen.3
Mit der Eidgenössischen Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung (EKQMB) wurde eine Stelle geschaffen, um die Qualität der medizinischen Gutachten zu überprüfen.4 Obwohl die EKQMB keine Einzelfälle prüft, zeigte bereits der erste Bericht über die Arbeit der Gutachterfirma PMEDA der Jahre 2022 und 2023, dass die Kommission kein «zahnloser Tiger» ist. Die durch die EKQMB festgestellten gravierenden Qualitätsmängel in 90 Prozent der Gutachten führten zur Beendigung der Zusammenarbeit der PMEDA mit dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV).
Auch wenn die neuen Instrumente von Betroffenenseite allgemein begrüsst wurden, bleiben systemimmanente Fehlanreize und Benachteiligungen zulasten der versicherten Person bestehen.
2. Systemimmanente Fehlanreize
2.1 Quantität vor Qualität
Polydisziplinäre und bidisziplinäre Gutachten werden in der Invalidenversicherung mittels Zufallsprinzips vergeben (Artikel 72bis Absatz 2 IVV). Die Einführung des Zufallsprinzips geht auf den Leitentscheid BGE 137 V 210 zurück, in welchem das Bundesgericht auf das Risiko einer «bewusst ergebnisgesteuerten Auftragsvergabe» hinwies.5 Das vom Bundesgericht vorgesehene Einigungsverfahren erwies sich in der Praxis im Bereich Invalidenversicherung als schwierig umsetzbar, da die IV-Stellen nur «harte Ausstandsgründe» gelten lassen wollten.6 Einigungen waren faktisch unmöglich.
Im Unfallversicherungsbereich funktioniert das Einigungsverfahren dagegen praktisch reibungslos. Im Invalidenversicherungsbereich gilt es heute nur noch für monodisziplinäre Gutachten.7 Trotz den Bedenken des Bundesgerichts, dass eine pauschale Vergütung polydisziplinärer Gutachten zu Fehlanreizen führen könne,8 werden diese – im Gegensatz zu mono- oder bidisziplinären Gutachten, welche nach dem Ärztetarif Tarmed abgerechnet werden – nach wie vor pauschal vergütet.9
Inbegriffen in dieser Pauschale sind auch Beanstandungen und Rückfragen durch die regionalen ärztlichen Dienste (RAD) und Gutachtensergänzungen.10 Dass diese Tarife für fundierte Abklärungen kaum ausreichen, zeigen die regelmässig viel höheren Kosten für Gerichtsgutachten, für die keine Beschränkungen gelten.11
Aufgrund des Zufallsprinzips und der hohen Nachfrage nach medizinischen Expertisen müssen sich Gutachterstellen keine Sorgen um Aufträge machen. Dies führt in Kombination mit der pauschalen Vergütung für polydisziplinäre Gutachten zu einem hohen Anreiz für «Quantität vor Qualität». Finanziell werden Gutachterstellen belohnt, welche möglichst viele Gutachten in kurzer Zeit erstellen und sich schnell wieder für den Lostopf anmelden.
2.2 Bundesgericht fordert Qualität nicht ein
Massgeblich verschärft wird der Anreiz «Quantität vor Qualität» dadurch, dass die bundesgerichtliche Rechtsprechung fundierte gutachterliche Abklärungen nicht einfordert. So misst das Bundesgericht der Dauer der Exploration vor allem auch bei psychiatrischen Gutachten keine wesentliche Bedeutung bei.12
Bekannt sind Fälle, in denen der Beweiswert des Gutachtens trotz einer behaupteten 20 bis 30 minütigen psychiatrischen Untersuchung nicht in Abrede gestellt wurde.13 Dabei nimmt allein die seriöse Befundaufnahme nach dem psychiatrischen System AMDP rund 40 bis 60 Minuten in Anspruch.14
Mit der Befundaufnahme sind weder die Anamnese, die Krankheitsentwicklung oder der Behandlungsverlauf besprochen noch allfällige Inkonsistenzen geklärt. Viele Symptome wie Konzentrationsstörungen oder Ermüdungserscheinungen zeigen sich oft erst nach längerer Exploration, weshalb etwa eine gutachterliche Aussage, wonach sich während einer kurzen Exploration keine Beschwerden zeigten, kritisch zu hinterfragen wäre.
Eine derart kurze Exploration lässt auch kaum kritische Nachfragen oder ein «Nachbohren» zu. Dabei wären Diskrepanzen, Widersprüche und Unklarheiten gemäss den Qualitätsleitlinien für versicherungspsychiatrische Gutachten der Schweizerischen Psychiatriegesellschaft (SGPP) noch während der Exploration zu klären. Auch Hinweise auf mangelnde Mitarbeit sollten, wenn immer möglich, direkt im Gespräch geklärt werden.15
Weiter überlässt es das Bundesgericht dem Ermessen der Gutachtensperson, ob sie eine Fremdanamnese beim behandelnden Arzt einholt oder nicht.16 Dies, obwohl die Qualitätsleitlinien bei massiv divergierender Beurteilung gegenüber dem aktuellen Arzt eine fremdanamnestische Auskunft empfehlen.17
Die Leitlinien für Psychosomatische Medizin des Branchenverbands SAPPM erachten den Einbezug der hausärztlichen Langzeiterfahrung sogar für unerlässlich für die Beurteilung der arbeitsmässigen Einschränkungen. Der Hausarzt verfüge über deutlich mehr Empirie, die Leistungseinschränkungen im Längsschnitt realitätsgerecht zu erfassen. Auch bezüglich der Konsistenzfrage sei die hausärztliche Einschätzung gewichtig. Sind andere behandelnde Fachärzte involviert, sind auch diese anzuhören.18
Das Bundesgericht hat nun allerdings auch diesen Begutachtungsleitlinien die Massgeblichkeit entzogen. Obwohl es noch in BGE 141 V 281 ausführte, dass sich aus diesen der medizinische Grundkonsens ergebe und diesbezüglich dringender Handlungsbedarf bestehe,19 hat es kurze Zeit nach Erlass der ersten Leitlinien entschieden, dass ein Gutachten nicht automatisch seinen Beweiswert verliere, wenn es die Leitlinien nicht beachte.20
Das Beachten der Leitlinien macht die Erstellung des Gutachtens wesentlich aufwendiger (Zusatzuntersuchungen, Fremdanamnese, Klären von Widersprüchen, Begründungsdichte und so weiter). Gutachter, die nach den Leitlinien vorgehen, müssen finanzielle Nachteile in Kauf nehmen, da sie mehr Zeit benötigen.21 Die Rechtsprechung setzt den Gutachtern somit kaum Leitplanken und überlässt vieles dem Ermessen der Gutachtensperson. Dies begünstigt oberflächliche Gutachten und den Fehlanreiz «Quantität vor Qualität».22
2.3 Beschränkte «fachliche» Prüfungskompetenzen
Im Sozialversicherungsverfahren ist die fachlich-medizinische Prüfung der gutachterlichen Entscheidungsgrundlagen faktisch nur auf der untersten Stufe im Verwaltungsverfahren vorgesehen. Während das Bundesgericht die Einhaltung der Leitlinien für nicht zwingend erforderlich erachtet, sind die RAD angewiesen, die verwaltungsexternen Gutachten unter anderem im Hinblick auf die Einhaltung der spezifischen Leitlinien zur versicherungsmedizinischen Begutachtung der Fachgesellschaften zu überprüfen.23
Auf Ebene der kantonalen Verwaltungs- und Versicherungsgerichte findet eine solche inhaltliche Prüfung nicht mehr statt. Denn die kantonalen Gerichtsinstanzen müssen auf die verwaltungsexternen Gutachten abstellen, solange nicht konkrete Indizien gegen die Zuverlässigkeit der Expertise sprechen.24
Die Gerichte sind in der Regel nicht in der Lage, fachliche Mängel in Gutachten zu erkennen.25 Der Sinn und Zweck von Gutachten ist es gerade, dem Gericht Fachwissen in einem Gebiet zur Verfügung zu stellen, wo es dieses nicht hat. Dies steht einer fachlichen Prüfung entgegen und führt dazu, dass die Gutachten auf Stufe Gericht eher formell als inhaltlich geprüft werden (können).
Vor Bundesgericht kann sodann die Beweiswürdigung der Vorinstanz nur noch auf Willkür überprüft werden.26 Eine Korrektur vor Bundesgericht ist damit kaum noch möglich, ist doch Willkür selbst dann nicht gegeben, wenn eine andere Lösung ebenfalls in Betracht fällt oder sogar vorzuziehen wäre.27 Mit anderen Worten stellt das Bundesgericht auch auf ein «schlechtes» Gutachten ab, weil es nicht «schlecht genug» ist.
Praxisgemäss greifen die kantonalen Gerichte oder das Bundesgericht nur dann ein, wenn die Expertise widersprüchlich ist oder die gestellten Fragen nicht beantwortet werden. Es geht um Mängel, die derart offensichtlich sind, dass sie auch ohne spezielles Fachwissen erkennbar sind. Nur in solchen Fällen wird einem Gutachten der Beweiswert entzogen.28
2.4 Hoher Beweiswert externer Gutachten
Verwaltungsexterne Gutachten haben somit einen schier unerschütterlichen Beweiswert.29 Spätestens der Überprüfungsbericht der EKQMB über die Gutachten der PMEDA hat aufgezeigt, dass Gerichte nicht in der Lage sind, fachliche Mängel in einem Gutachten zu identifizieren. Im Bericht wurden 32 zufällig ausgewählte Gutachten der Jahre 2022 und 2023 überprüft. 29 von 32 Gutachten (91 Prozent) entsprachen bezüglich Konsensbeurteilung nicht den BSV-Vorgaben. In 28 von 32 Gutachten (87 Prozent) lag eine mangelhafte Befunderhebung vor.30 Auf der anderen Seite hat das Bundesgericht zwischen 2016 und 2023 in zehn von zehn Urteilen, in denen PMEDA-Gutachten zu würdigen waren, diesen volle Beweiskraft zuerkannt.31
Gemäss einer Auswertung des BSV stellte das Bundesgericht in zwei Dreimonatsperioden 2012 bei 55 Gutachten nur in drei Fällen respektive bei 63 Gutachten nur in zwei Fällen eine fehlende Beweiskraft fest. Mit anderen Worten wurde in über 95 Prozent der Urteile auf die IV-Gutachten abgestellt.32 Dabei waren gemäss einer unveröffentlichten Studie der Asim-Versicherungsmedizin des Unispitals Basel von 2010 zirka ein Viertel der Gutachten mit erheblichen Mängeln behaftet.33
2.5 Arbeitsunfähigkeit schwierig zu begründen
Das Begründen einer psychiatrischen Arbeitsunfähigkeit ist für einen Gutachter anspruchsvoll. So hat das Bundesgericht in BGE 143 V 418 ausgeführt, dass der Gutachter nicht von der psychiatrischen Diagnose auf die Arbeitsunfähigkeit schliessen dürfe. Vielmehr habe er im Detail zu beschreiben, aus welchen medizinisch-psychiatrischen Gründen die Befunde das funktionelle Leistungsvermögen und die psychischen Ressourcen in qualitativer, quantitativer und zeitlicher Hinsicht beeinträchtigen. Zur Plausibilisierung hat er zudem die persönlichen, familiären und sozialen Aktivitäten miteinzubeziehen.34
Obwohl die vom Bundesgericht gestellten Anforderungen zu begrüssen sind, zeigen sie auf, wie schwierig es ist, eine Arbeitsunfähigkeit plausibel zu begründen. Vor allem kontrastieren die hohen Anforderungen mit den Freiheiten, die das Bundesgericht den Gutachtern ansonsten lässt, vor allem bezüglich Leitlinienkonformität, Dauer der Begutachtung, Fremdanamnese. Kommt hinzu, dass der Gutachter bei Bescheinigung einer (vollen) Arbeitsfähigkeit kaum Rückfragen befürchten muss.
Solche Rückfragen kommen fast nur bei Gutachten vor, die eine Arbeitsunfähigkeit ausweisen. Gibt es Beanstandungen oder Rückfragen durch die RAD, sind Gutachtensergänzungen ohne zusätzliche Vergütung innert nützlicher Frist zu beantworten. Bei wiederholten Beanstandungen sind protokollierte Gespräche und eine Meldung an das BSV vorgesehen, was zur Anordnung von Weisungen oder aber zu einem Ausschluss von der Medap-Plattform führen kann.35
Provokativ kann man somit sagen, dass es sich als Gutachter wesentlich «angenehmer» leben lässt, wenn man es sich nicht mit den RAD «verscherzt». Was die RAD hören und lesen möchten, kann der Gutachter ohne weiteres den in den Akten vorhandenen Stellungnahmen entnehmen.
2.5.1 Die RAD müssten unabhängig entscheiden
Nach Artikel 54a Absatz 2 IVG stehen die RAD den IV-Stellen für die Beurteilung der medizinischen Voraussetzungen des Leistungsanspruchs zur Verfügung. In ihrem medizinischen Sachentscheid sind die RAD im Einzelfall unabhängig (Artikel 54a Absatz 4 IVG). Allerdings übt das BSV die fachliche Aufsicht nicht nur über die IV-Stellen, sondern auch über die RAD aus. Es kann den RAD im medizinischen Bereich allgemeine Weisungen erteilen (Artikel 64a Absatz 1 litera c IVG). Das BSV schliesst zudem mit den IV-Stellen Zielvereinbarungen ab (Artikel 52 IVV).
2.5.2 Fiktion von Objektivität und Neutralität
Das Bundesgericht geht davon aus, dass die IV-Stellen im Verwaltungsverfahren zur Neutralität und Objektivität verpflichtete Organe des Gesetzesvollzugs sind.36 Diese Fiktion ist vor allem bei einer Institution, die seit Jahren einen Schuldenberg von zehn Milliarden Franken vor sich herschiebt, kaum aufrechtzuhalten.37
Fakt ist, dass die IV-Stellen unter massivem politischem und medialem Druck stehen. Für Aufsehen sorgten 2018 die Sparvorgaben des BSV an einzelne IV-Stellen, die Neurentenquoten zu halten oder gar zu senken.38 In der Zwischenzeit hat das BSV diese Sparvorgaben zwar modifiziert, und die Neurenten- und Rentenbestandsquote werden neu ohne Zielwerte geführt. Zielwerte gibt es aber weiterhin für die Erwerbsfähigkeitsquote, die Veränderung der Kosten für versicherte Personen im Erwachsenenalter und die Bearbeitungsdauer.39
Bekannt wurde zudem ein Fall der IV-Stelle Aargau, in dem ein RAD von einem Teamleiter aufgefordert wurde, die medizinische Stellungnahme anzupassen, da diese zwar die konkrete Anfrage bezüglich des Vorliegens eines Geburtsgebrechens verneinte, allerdings das Bestehen eines anderen (ungefragten) Leidens bejahte, was zu einer Leistungspflicht der IV führte. Als sich der betroffene RAD-Arzt weigerte, erhielt er die Kündigung. Diese erfolgte zu Unrecht, wie das Verwaltungsgericht Aargau feststellte.40
2.5.3 Die RAD messen mit zwei Ellen
Es ist ein offenes Geheimnis, dass die RAD vor allem diejenigen Gutachten penibel überprüfen, die zu einer Leistungspflicht der IV-Stellen führen würden.41 Gutachten, die eine volle Arbeitsfähigkeit ausweisen, werden hingegen unkritisch durchgewunken.42 Es ist zu vermuten, dass den RAD gar nicht genügend zeitliche Ressourcen zur Verfügung stehen, um alle Gutachten mit derselben Genauigkeit zu prüfen.43 Zudem sehen die RAD nicht zwingend alle Gutachten, sondern nur diejenigen, die ihnen von der Fallbearbeitung zugeteilt werden.
Im Suissemedap-Prozess war früher vorgesehen, dass die RAD die Gutachten einer internen Qualitätsprüfung unterziehen, die systematisch erfasst wurde.44 Dabei wurden Noten zwischen 1 und 4 vergeben (1 schlechteste, 4 beste). Das Suissemedap-Reporting sah vor, dass die Gutachterstellen die von ihnen bescheinigten Arbeitsunfähigkeiten veröffentlichten. Dies wurde nur von vereinzelten Gutachterstellen gemacht, andere weigerten sich, weswegen das BSV die Angaben schon bald nicht mehr einforderte.
Wie den Feedbacks 45 entnommen werden kann, erachteten die RAD die Schlussfolgerungen der Gutachtensstelle ZIMB bloss in 4,9 Prozent der Fälle für schlecht oder nicht nachvollziehbar begründet (Note 1: 2,4 Prozent, Note 2: 2,5 Prozent). Auf der anderen Seite kritisierten die RAD 13,7 Prozent der Gutachten der Medas Zentralschweiz (Note 1: 4,5 Prozent und Note 2: 9,2 Prozent). Wie sich aus dem Reporting des BSV aus dem Jahre 2014 ergibt, beurteilte die ZIMB die Arbeitsfähigkeit der versicherten Personen «doppelt» so streng wie die Medas Zentralschweiz.
So wurden 2014 von der ZIMB in Schwyz in nur 22 Prozent der 120 Gutachten Arbeitsfähigkeiten bis 59 Prozent in leidensangepassten Tätigkeiten attestiert, wohingegen bei der Medas Zentralschweiz der Anteil bei 45 Prozent lag (von 284 Gutachten, bei weiteren 8 Gutachten war keine Angabe möglich).
Mit anderen Worten war die Wahrscheinlichkeit im Jahre 2014, dass im Gutachten eine rentenrelevante Arbeitsunfähigkeit bescheinigt wurde, bei der Medas Zentralschweiz statistisch mehr als doppelt so hoch wie beim ZIMB in Schwyz. Vergleicht man diese Zahlen mit den qualitativen Feedbacks der IV-Stellen, so kann hier ein Zusammenhang vermutet werden: Als ungenügend wurden vor allem diejenigen Gutachten von den IV-Stellen erachtet, die eine Arbeitsunfähigkeit bescheinigten. Vom ZIMB wurde jedes zwanzigste Gutachten für ungenügend beurteilt, von der Medas Zentralschweiz dagegen jedes zehnte beziehungsweise jedes siebte.
Die ZIMB erhielt mit der Durchschnittsnote 3,79 die beste Note aller deutschsprachigen Gutachterstellen, die Medas Zentralschweiz erhelt die Note 3,62. Von total 701 bewerteten PMEDA-Gutachten wurden immerhin 8,7 Prozent für nicht oder schlecht nachvollziehbar erachtet (Note 1: 2 Prozent, Note 2: 6,7 Prozent). In der Gesamtbeurteilung erzielten 75,8 Prozent der PMEDA-Gutachten die Bestnote 4 und 20,6 Prozent die zweitbeste Note. Nur 3,6 Prozent erhielten eine ungenügende Note 1 oder 2. Somit haben die RAD mindestens 96,4 Prozent der Gutachten für gut oder sehr gut befunden (Note 3 oder 4). Die PMEDA erzielte eine Gesamtnote von 3,7.46
Diese hohe Anzahl an beweiswertig beurteilten PMEDA-Gutachten kontrastiert diametral zu den 91 Prozent und 87 Prozent nicht beweiswertigen Gutachten, die durch die EKQMB festgestellt wurden.47 Der Anteil der PMEDA-Gutachten, die eine rentenrelevante Arbeitsunfähigkeit auswiesen, lag bei 28 Prozent.48
Die RAD waren nicht in der Lage, die gemäss der EKQMB 91 Prozent respektive 87 Prozent mangelhaften PMEDA-Gutachten zu identifizieren und auszusondern. Vielmehr wurden auf Basis dieser Gutachten Leistungsentscheide gefällt. Dies zeigt auf, dass die Qualitätskontrolle auf Stufe RAD nicht funktioniert.
3. Versicherte auf verlorenem Posten
3.1 Grundproblematik
Für die versicherte Person ist es unabdingbar, dass sie die Meinung ihres behandelnden Arzts einholen und in das Verfahren einbringen kann. Den Rechtsvertretern wird die Kompetenz abgesprochen, sich zu spezifisch medizinischen Fragen zu äussern. So führte etwa das Verwaltungsgericht Zug aus, dass ein Gutachten eines psychiatrischen Facharzts nicht durch die Diagnostik eines Juristen in Frage gestellt werden könne.49
Zwar ist der Sozialversicherungsträger im Rahmen der Abklärungspflicht nach Artikel 43 ATSG verpflichtet, bei den Ärzten Berichte einzufordern. Allerdings werden diese Standard-IV-Arztberichte oft nur rudimentär, schlimmstenfalls schlecht leserlich verfasst. Anlässlich der zweiten Medico-legal-Fachtagung von «Versicherte Schweiz» identifizierten die Referenten als Ursachen für mangelhafte Arztberichte unter anderem Zeitmangel und eine zu geringe Entschädigung.50
Der Bedarf nach medizinischem Rat ist für die versicherte Person noch akuter, wenn ein negatives Gutachten vorliegt. Oft ist dann zusätzlich ein Fristendruck vorhanden. Die versicherte Person wird versuchen, von ihrem behandelnden Arzt eine Stellungnahme zum Gutachten zu erhalten. Dies erweist sich als schwierig bis unmöglich. Kaum ein behandelnder Arzt ist bereit, sich in ein umfangreiches Gutachten einzulesen und eine Stellungnahme abzugeben.
3.2 Im Zweifel zugunsten des Patienten
Das Bundesgericht hat unlängst entschieden und bestätigt, dass bezüglich hausärztlicher Berichte die Erfahrungstatsache gilt, dass diese aufgrund ihrer auftragsrechtlichen Stellung in Zweifelsfällen eher zugunsten der Patienten aussagen.51 Diese Beweiswürdigungsregel wurde später auf behandelnde Spezialärzte und ganz besonders auf schmerztherapeutisch tätige Ärzte ausgeweitet. Diese müssten aufgrund des besonderen Vertrauensverhältnisses von der Existenz der geklagten Schmerzen zunächst bedingungslos ausgehen.52
Obwohl diese Beweiswürdigungsregel in den Worten des Bundesgerichtes nicht dahingehend missinterpretiert werden dürfe, wonach den Aussagen der Ärzte in jedem Fall zu misstrauen und ihnen ohne nähere Begründung jegliche Glaubwürdigkeit abzusprechen sei,53 wird sie nach der Erfahrung des Schreibenden und in der Wahrnehmung vieler Ärztinnen und Ärzte inflationär angewendet.54 Zweifel an der Aussage eines Arzts bestehen immer dann, wenn ein Administrativgutachten zu anderen Schlussfolgerungen gelangt. Mit dieser Erfahrungstatsache lässt sich jede Aussage eines Arzts entkräften oder zumindest abschwächen, spätestens wenn ein verwaltungsexternes Gutachten vorliegt.
3.3 Rückerstattungspflicht nur in Ausnahmen
Die Kosten für medizinische Stellungnahmen, die von der versicherten Person eingeholt werden, werden grundsätzlich nicht durch den Versicherungsträger gedeckt. Doch dies wäre für die Interessenwahrung unabdingbar. Diese Kosten müssen vorgeschossen werden. Nur wenn sich herausstellt, dass die medizinische Stellungnahme für die Beurteilung des Anspruchs unabdingbar war oder Anlass zu weiteren Abklärungen gab, entsteht eine Rückerstattungspflicht.55
Damit besteht für die versicherte Person ein grosses Risiko, dass sie die Kosten für einen Arztbericht nicht zurückerstattet erhält, wenn sie denn überhaupt in der Lage ist, sie vorzuschiessen. Dies gilt umso mehr für noch wesentlich teurere Privatgutachten.
3.4 Kosten für Berichte nicht durch URB/UP gedeckt
Es besteht kein Anspruch auf einen unentgeltlichen Rechtsbeistand im Verwaltungsverfahren nach Artikel 37 Absatz 4 ATSG. Das Bundesgericht geht davon aus, dass der Umstand, dass sich juristische und medizinische Fragen stellen, das Verfahren nicht schwierig macht. Dies gilt auch in Fällen, in denen verwaltungsexterne Gutachten zu würdigen sind.56 Diese Rechtsprechung ist vor allem durch die neu anzufertigenden Tonaufnahmen kritisch zu hinterfragen. Es ist nicht davon auszugehen, dass ein Sozialamt in der Lage ist, stundenlang Tonaufnahmen anzuhören und diese mit den Akten und Aussagen des Versicherten abzugleichen.
Somit kann die versicherte Person oft erst dann einen unentgeltlichen Rechtsvertreter beiziehen, wenn es um das verwaltungsgerichtliche Beschwerdeverfahren geht (Artikel 61 litera f ATSG). Zu diesem Zeitpunkt ist aber die erste umfassende fachliche Prüfung eines Gutachtens durch die RAD bereits abgeschlossen. Die Prüfung des Gerichts ist nun auf offensichtliche Mängel im Gutachten beschränkt, die auch ohne Fachwissen erkennbar sind.
Für die bedürftige Partei ist das Einholen einer Stellungnahme vom Arzt faktisch nicht möglich und vom Goodwill des Arzts oder des allenfalls vorschiessenden Rechtsvertreters abhängig. Laut Artikel 12a IVV wird bezüglich Kosten der unentgeltlichen Rechtsverbeiständigung auf die Artikel 8 bis 13 des Reglements des Bundesverwaltungsgerichts vom 11.12.2006 verwiesen. Gemäss Artikel 9 VGKE sind unter den erstattungsberechtigten Auslagen namentlich nur administrative Kosten wie Kopieren, Porti und Telefonspesen sowie Reise- und Verpflegungskosten erwähnt. Auslagen für medizinische Stellungnahmen (und Privatgutachten) fallen damit nicht unter die unentgeltliche Prozessführung.
3.5 Versicherte Person ohne RAD-Unterstützung
Wie aufgezeigt, kann die versicherte Person nicht darauf zählen, dass die RAD die Gutachten «ohne Scheuklappen» unabhängig vom Resultat prüfen. Der Umstand, dass die RAD Gutachten auf Leitlinienkonformität prüfen müssen, bringt es mit sich, dass diesen auf Stufe Verwaltungsverfahren der Beweiswert abgesprochen werden kann. In der Praxis kritisieren die RAD zudem verwaltungsexterne Gutachten nicht selten mit dem Argument, dass die Diagnosestellung nicht korrekt erfolgt sei. Die versicherte Person kommt allerdings oft mit diesen Argumenten vor Gericht nicht durch, da gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung weder die genaue Diagnose57 noch das Beachten der Leitlinien matchentscheidend ist.58
Zwar hat die versicherte Person die Möglichkeit, bei einer neuen Begutachtung eine Zwischenverfügung zu verlangen und diese mit dem Argument, es handle sich um eine unzulässige «second opinion», anzufechten. Allerdings sind die Gerichte zurückhaltend, wenn die IV-Stelle fachliche Mängel mit Hilfe der RAD aufzeigen kann.59 Zumal ein Gerichtsverfahren eine erhebliche Verfahrensverzögerung und ein Kostenrisiko für die versicherte Person mit sich bringt.
4. Waffengleichheit verletzt
Artikel 29 BV und Artikel 6 EMRK sollen ein faires Verfahren garantieren, das den Grundsatz der Waffengleichheit einschliesst. Auch wenn eine vollständige Waffengleichheit nicht vorausgesetzt wird, darf eine Partei nicht in eine prozessuale Lage versetzt werden, in der sie keine Chance hat, ihre Sache dem Gericht zu unterbreiten, ohne gegenüber der Gegenpartei klar benachteiligt zu sein.60
Die heutige Praxis bringt mit sich, dass die versicherte Person ihren medizischen Standpunkt nicht oder nur mit erheblichen Schwierigkeiten in das Verfahren einbringen kann. Die Fehlanreize und die bundesgerichtliche Rechtsprechung begünstigen Quantität statt die Qualität der gutachterlichen Arbeit. Wenn Gutachten als beweiswertig qualifiziert werden, obwohl sie auf kurzer Exploration basieren, nicht in Achtung der wissenschaftlichen Leitlinien und ohne Einbezug der behandelnden Ärzte erstellt wurden, liegt eine nicht unerhebliche Wahrscheinlichkeit eines «falsch positiven» Resultats vor.
Nur auf Stufe Verwaltungsverfahren findet durch die RAD eine umfassende, auch inhaltliche Prüfung der verwaltungsexternen Gutachten statt. Da die RAD aber in der Regel nur jene Gutachten kritisch prüfen, die eine Arbeitsunfähigkeit ausweisen, funktioniert dieser erste – aber in Tat und Wahrheit wichtigste – Filter für die versicherte Person nicht. Denn nur die neutrale Prüfung aller medizinischen Gutachten, unabhängig vom Ergebnis, kann ein richtiges Resultat im Einzelfall begünstigen.
Die Verwaltungsgerichte prüfen die Gutachten nur noch auf offensichtliche oder formelle Mängel. Das Bundesgericht kann wegen seiner beschränkten Kognition «schlechte» Gutachten nicht aussondern. Versicherte haben so keine realistische Chance, fachliche Mängel in Gutachten mit genügender Schlagkraft zu kritisieren. Die Waffengleichheit gebietet es, auch bei den verwaltungsexternen Gutachten zu gewährleisten, dass die von der versicherten Person angebotenen Beweismittel angemessen berücksichtigt werden.61 Dies ist nach der hier vertretenen Auffassung aktuell nicht der Fall. Verbesserungen sind dringend notwendig.
5. Verbesserungsvorschläge
5.1 Verbindliche Leitlinien
Es wäre wünschenswert, wenn das Bundesgericht das Einhalten der Begutachtungsleitlinien aktiv einfordern würde. Sie bezwecken, die Professionalität und Qualität der (psychiatrischen) Begutachtung zu steigern.62 Die Beachtung der Leitlinien stellt ein Qualitätsmerkmal dar.63 Sie erleichtern zudem die einheitliche Prüfung der Gutachten.
Dem Bundesgericht ist zwar zuzustimmen, dass bei Nichteinhaltung der Leitlinien nicht zwingend ein Automatismus zum Tragen kommen muss. Allerdings könnte nach der hier vertretenen Auffassung bei Nichteinhaltung der Leitlinien die Beweiskraft herabgestuft und diese auf dieselbe Stufe wie versicherungsinterne Berichte gestellt werden. Somit dürfte bereits bei geringen Zweifeln an der Zuverlässigkeit nicht mehr auf das Gutachten abgestellt werden.64
5.2 Behandelnde Ärzte müssen angehört werden
Wie aufgezeigt, ist der Einbezug der behandelnden Ärzte gemäss den einschlägigen gutachterlichen Leitlinien unabdingbar für die Beurteilung der zumutbaren Arbeitsfähigkeit.65 Trotzdem werden ihre Stimmen nur selten angehört. Dies ist umso bedeutsamer in Kenntnis der Tatsache, dass die medizinische Folgenabschätzung eine hohe Variabilität aufweist und im psychiatrischen Bereich unausweichlich Ermessenszüge trägt.66 Problematisch ist der fehlende Einbezug der Behandlerseite auch immer dann, wenn das Gericht beabsichtigt, eine Parallelprüfung vorzunehmen und von einem Gutachten aus rechtlichen Gründen abzuweichen.67
In Deutschland sieht Paragraf 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) das Recht der versicherten Person vor, einen Arzt ihrer Wahl als Sachverständigen beizuziehen. Dieser muss angehört werden, sogar gegen den Willen des Gerichts. In solchen Fällen müssen die Versicherten die Kosten übernehmen. Auch der behandelnde Arzt kann als sachverständige Person einvernommen werden, wobei die Nähe zum Patienten bei der Beweiswürdigung berücksichtigt wird.
Das Recht, einen Arzt eigener Wahl als sachverständigen Zeugen einvernehmen zu lassen, fehlt im schweizerischen Sozialversicherungsrecht. Wegen der immanenten Verletzung der Waffengleichheit sollte daher die gerichtliche Befragung des behandelnden Arzts auf Antrag der versicherten Person nach Vorbild von Paragraf 109 SGG eingeführt werden.
Dieses Recht besteht aufgrund der Verletzung der Verfahrensfairness nach der hier vertretenen Auffassung bereits gestützt auf die elementaren Verfahrensgarantien nach Artikel 6 EMRK und Artikel 29 Absatz 2 BV, weil die versicherte Person andernfalls keine angemessene Möglichkeit wie die Verwaltung hat, ihren Standpunkt einzubringen.68 De lege ferenda sollte das Befragungsrecht in Artikel 61 ATSG aufgenommen werden.
Vor Gericht muss der behandelnde Arzt erscheinen und aussagen. Er steht zudem unter Wahrheitspflicht.69 Die Parteien und das Gericht können – «da, wo es wehtut» – spezifische Fragen stellen (etwa zu Indikatoren, Inkonsistenzen, Aussagen zugunsten des Patienten). Neben dem gutachterlichen Ermessen kommt auch das Ermessen des behandelnden Arzts zur Sprache. Der Arzt wird für sein Erscheinen eine entsprechende Zeugenentschädigung erhalten, womit das Problem der schwierigen Finanzierung gelöst ist.
Zudem dürfte die gerichtliche Befragung des Arzts generell zu mehr Akzeptanz der Urteile führen, da sie der versicherten Person das Gefühl geben, ihre Sache sei umfassend angehört worden. Denn es macht einen erheblichen Unterschied, ob die Meinung des behandelnden Arzts unmittelbar vor den Schranken des Gerichts abgegeben wird oder – schlimmstenfalls noch handschriftlich – in irgendeinem rudimentär verfassten Arztbericht nachzulesen ist.
6. Fazit
Mit dem heutigen System und den systemimmanenten Fehlanreizen besteht trotz den Neuerungen ein erhebliches Risiko, dass inhaltlich falschen Gutachten von den Gerichten Beweiswert zuerkannt wird. Die von der EKQMB festgestellten eklatanten Qualitätsmängel in neun von zehn PMEDA-Gutachten wurden offenkundig von den RAD nicht erkannt.
Ob die Leitlinien beachtet werden oder nicht, bleibt in der Regel ohne Konsequenzen, womit ein falsches Signal gesendet wird. Der Ist-Zustand erlaubt es der versicherten Person kaum, ihren Standpunkt aus medizinischer Sicht einzubringen, vor allem wenn die finanziellen Mittel fehlen oder eine Bedürftigkeit vorliegt.
Ob die versicherte Person ihre medizinische Sichtweise einbringen kann oder nicht, sollte nicht vom Goodwill Dritter oder von den finanziellen Möglichkeiten abhängig sein. Es ist davon auszugehen, dass bei einem besseren Einbezug der behandelnden Ärzte mittels gerichtlicher Befragung die Fehlerquote reduziert und die Verfahrensfairness verbessert werden kann. Ein reiner Aktenprozess wird der Komplexität der Sache bei der delikaten Fragestellung, was ein Mensch noch im Stand ist zu leisten, nicht gerecht.
Fussnoten siehe PDF.