Die Massenproteste gegen die Justizreform der Regierung von Benjamin Netanyahu ebben nicht ab. Die Regierung will die Macht des Obersten Gerichtshofs beschränken.
Laut den Protagonisten der Reform – von der die Gegner sagen, sie müsste eher Umsturz genannt werden – geht es darum, das angeblich aus der Balance geratene Verhältnis zwischen dem Parlament und dem Obersten Gerichtshof neu auszurichten. Der Gerichtshof sei gegenüber dem Parlament viel zu mächtig geworden. Daher, so Vertreter der Regierungskoalition, sei die Demokratie durch einen unkontrollierten Obersten Gerichtshof in Gefahr. Dieser lege einen ausserordentlichen juristischen Aktivismus an den Tag.
Zentral ist dabei die Frage, welche Kontrollmöglichkeiten der Gerichtshof gegenüber dem Parlament haben sollte. Eine zweite Frage betrifft die rechtlichen Grundlagen einer solchen Kontrolle. Sie ist eng verbunden mit der Systemfrage: Soll Israel eine liberale oder eine majoritäre illiberale Demokratie sein? Sollen Menschen- und Bürgerrechte das Fundament des Staats bilden, vor dem Zugriff des Parlaments geschützt werden und gerichtlich einklagbar sein – oder soll das Parlament eine unumschränkte Verfügungsgewalt besitzen?
Der Oberste Gerichtshof (OGH) spielt dabei eine entscheidende Rolle. Er dehnte seit Beginn der 1980er-Jahre seine Kontrollkompetenzen gegenüber Parlament und Regierung deutlich aus. Der sogenannte Reformvorschlag der Regierung will nun alle Kontrollkompetenzen des Gerichtshofs abbauen.
Neue Einsprachebefugnisse lösten Klageflut aus
Der Gerichtshof erweiterte das Prinzip der «Angemessenheit», an dem sich staatliches Handeln messen lassen musste. Ein Verstoss gegen dieses Prinzip liege dann vor, wenn nicht alle relevanten Aspekte von staatlicher Seite berücksichtigt werden, ein Aspekt übermässig gewichtet wird oder eine Entscheidung gegen öffentliches Interesse oder Menschenrechte verstösst.
Das Gericht fordert hier eine klassische Güterabwägung: etwa zwischen Sicherheitsaspekten auf der einen und dem Recht auf Eigentum oder der Menschwürde auf der anderen Seite. In Ergänzung dazu hat das Gericht das Rechtsprinzip der Verhältnismässigkeit ausgeweitet, um die individuellen Rechte und das öffentliche Interesse gegeneinander abzuwägen.
Weiter liberalisierte der Gerichtshof die Klagebefugnis, nach der nicht mehr nur direkt Betroffene klagen konnten, sondern auch Dritte wie etwa Nichtregierungsorganisationen, wenn Fragen der Rechtsstaatlichkeit tangiert waren. Die Ausweitung sowohl der Kontroll- als auch der Klagebefugnis zog eine Flut von Klagen nach sich, von denen allerdings nur ein geringer Teil erfolgreich war.
Dennoch interveniert das Gericht seitdem auch in Bereichen, die vorher unberücksichtigt blieben. Dazu gehörten verschiedene Massnahmen des Militärs gegen Palästinenser.
Zum Beispiel wurden bestimmte Verhörtechniken untersagt. Oder es wurden politische Ernennungen bis hin zur Ministerebene bei laufenden Korruptionsverfahren oder Verurteilungen gestoppt. Zuletzt wurde 2023 ein Urteil gefällt, wonach Innenminister Arye Deri wegen einer Verurteilung wegen Korruption sein Amt nicht weiter ausführen könne. Der OGH griff aber auch bei Budgetfragen, Sozialrechten oder Umweltfragen ein.
1995 sprach sich der Oberste Gerichtshof ein Normenkontrollrecht zu. Voraus ging ein Gesetzgebungsvorgang, dessen Folgen bis heute umstritten sind. 1992 verabschiedete das Parlament unter einer konservativen Likud-Regierung zwei Grundgesetze – eines zur Menschenwürde sowie eines zur Beschäftigungsfreiheit.
Grundgesetze statt Verfassung
Israel hat keine Verfassung, sondern nur einige Grundgesetze, für die keine Normenkontrolle vorgesehen ist. Neuere Grundgesetze enthielten aber einen Paragrafen, wonach die durch diese Grundgesetze gewährten Rechte «nur dann durch ein anderes Gesetz verletzt werden dürfen», wenn dieses besonderen Zielen diene wie etwa den «Leitwerten des Staates Israel». Der OGH argumentierte 1995, dass diese Grundgesetze übergesetzlichen Status hätten und andere Gesetze diesbezüglich überprüft werden könnten.
In den letzten 28 Jahren wies der Oberste Gerichtshof 22 Gesetze zurück. Dabei ging es in einem Fall um die Verstetigung einer generellen Wehrdienstbefreiung für ultraorthodoxe Männer. In einem anderen Fall ging es um ein Gesetz, das selbst nach israelischem Recht illegale Siedlungen im Westjordanland legalisieren wollte. Abgewiesen wurden auch mehrere Gesetze, die eine unbegrenzte Abschiebehaft für Asylsuchende festlegen wollten.
Die israelische Politik war und ist über die Kompetenzen des Gerichtshofs uneinig. Bis Mitte der 2000er-Jahre war die Kritik daran vor allem technischer Natur. Die Gegner des OGH argumentierten, dass der Gerichtshof Politik anstelle des Parlaments betreibe und die Hoheit der Knesset beschneide. Unterstützer des Gerichtshofs argumentieren, er stelle ein notwendiges Korrektiv zu einem politischen System dar, das grundlegende Rechte weder verankere noch befolge und Korruption in der Politik kaum sanktioniere.
Kritik aus dem rechtsreligiösen Lager
Gegen Ende der 2000er-Jahre kam die Kritik am OGH aus dem rechtsreligiösen Lager dazu. Israel hat in den letzten Jahren einen signifikanten Rechtsruck erlebt. Ein eher liberal orientierter Teil der Gesellschaft steht einer rechten Mehrheit gegenüber. Sie ist gegenüber universalen und liberalen Werten skeptisch und betont den jüdisch-kollektiven Charakter des Staates wesentlich stärker als individuelle Rechte.
Dies ist oft mit einem Freund-Feind-Schema verbunden, bei dem die Verteidiger von Bürger- und Menschenrechten als «Nestbeschmutzer» oder «Verräter» gesehen werden. Diesem Lager werden Medien und Universitäten, aber insbesondere auch der OGH zugerechnet.
In diesem Kontext stellte das Israel Democracy Institute in seinem Jahresbericht 2019 fest, dass sich Israel in die Riege westlicher Staaten einreihe, bei denen Grundprinzipien liberaler Demokratien umkämpft seien.
Die grösste Zuspitzung stellt der Konflikt unter der aktuellen Regierung dar, die sich aus dem Likud und mehreren orthodoxen und ultraorthodoxen Parteien zusammensetzt. Es handelt sich um die rechteste Regierung der israelischen Geschichte. Geeint wird sie durch eine antiliberale Haltung, die sich insbesondere gegen den OGH richtet.
Eingriffe in den «Willen der Mehrheit»
Die religiösen Parteien haben ohnehin eine starke Abneigung gegen den Gerichtshof: Die Ultraorthodoxen, weil er ihnen viele Sonderrechte (etwa die Verstetigung der Wehrdienstbefreiung) untersagte. Weite Teile der religiösen Zionisten sehen den OGH kritisch, weil sie ihn als Akteur einstufen, der die Besiedlung des Westjordanlands behindert.
Für den Likud ist dies eine Entwicklung, die erst in den 2010er-Jahren an Bedeutung gewann, als er sich von einer nationalliberalen zu einer majoritär-populistischen Partei transformierte. Machtbeschränkungen des Parlaments wurden vom Likud zunehmend als Eingriffe in den «Willen der Mehrheit» erachtet.
Verstärkt wurden diese Tendenzen durch Premier Netanyahu. Er war bis Mitte der 2010er-Jahre ein Verteidiger des Obersten Gerichtshofs. Erst als er wegen Korruption angeklagt wurde, sprach er von einem «juristischen Staatsstreich» und einem Staat der Linken, die das Land mittels Institutionen und gegen gewählte Regierungen aufbringen.
Die geplante Justizreform zielt darauf ab, die Kontrollmöglichkeiten, die das Gericht auf das Parlament ausüben kann, aufzuheben. Von der Vielzahl von kleinteiligen Vorhaben, die die Reform umfasst, sind drei Aspekte zentral:
Neu würde nur die Regierung Richter an den Obersten Gerichtshof und alle anderen Gerichte berufen können. Bislang braucht es einen Kompromiss, weil der Ausschuss, der Richter ernennt, sich aus Richtern, Anwälten und Politikern zusammensetzt. Richter und Politiker haben ein Vetorecht.
Es soll eine «Überstimmungsklausel» verabschiedet werden. Diese soll es möglich machen, ein vom OGH im Rahmen einer Normenkontrollprüfung zurückgewiesenes Gesetz dennoch mit einfacher Parlamentsmehrheit von 61 Stimmen zu verabschieden.
Drittens sollten die Rechtsprinzipien, auf deren Grundlage der Gerichtshof Urteile fällen kann, stark eingeschränkt werden. Dies betrifft vor allem das Aufheben des Prinzips der «Angemessenheit» zur Beurteilung des Handelns der Exekutive. Weiterhin soll dem Gericht eine Ableitung von Normen aus anderen Gesetzen für die Urteilsfindung untersagt werden. In Israel sind nur wenige Grundrechte verankert. Nicht gesetzlich festgehaltene Prinzipien wie etwa Gleichheit, Rede- oder Religionsfreiheit könnten vom Gericht nicht mehr wie bisher gegen dagegen verstossende Gesetze geschützt werden.
Würden diese Massnahmen umgesetzt, wäre dies ein Ende jeglicher effektiven Kontrollfunktion des Gerichts gegenüber dem Parlament.
Dies ist in Israel aber deshalb von besonderer Bedeutung, weil es keine andere Instanz gibt, die eine Kontrolle des Parlaments ausübt: Es gibt keine zweite Kammer im Parlament, kein föderales oder präsidiales System, es gibt keine Einbindung in einen supranationalen Verband wie die EU oder Volksabstimmungen wie in der Schweiz. Das Parlament hätte faktisch kein Gegengewicht mehr und Grundrechte oder andere Rechtsprinzipien könnten nicht mehr gegen den Willen der Parlamentsmehrheit geschützt werden.
Staat hat Vorrang vor Menschenrechten
Der Wille, liberale Rechte zu schützen, scheint bei der aktuellen israelischen Regierung fraglich. Um nur einige Beispiele zu nennen: Der Vorsitzende des Rechtsausschusses und einer der wesentlichen Treiber der Justizreform, Simcha Rothman, erläuterte etwa, dass eine nicht-liberale Demokratie eine Demokratie bleibe, und lobte die ungarischen Justizreformen.
Justizminister Yariv Levin betonte, dass der jüdische Charakter des Staates Vorrang vor Menschenrechten haben müsse, und lehnt die gesetzliche Verankerung eines Gleichheitsprinzips ab. Die Ultraorthodoxen Parteien fordern eine Ausweitung der Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum, andere die Möglichkeit, Gemeinden vor dem Zuzug arabischer Israelis zu schützen.
Zurzeit erscheint es unwahrscheinlich, dass die Pläne der Regierung wie von ihr ursprünglich geplant umgesetzt werden können: Der Widerstand in der Öffentlichkeit ist zu stark, und einige Abgeordnete des Likud signalisierten, dass sie die Pläne nicht mehr mittragen würden.
Vorbei scheint die Krise allerdings nicht: Netanyahu kündigte an, nicht mehr das ganze Paket, sondern Schritt für Schritt einzelne Vorhaben verabschieden zu wollen.