Von 2012 bis 2014 hat die Sozialversicherungsanstalt des Kantons Zürich (SVA) 3676 Aufträge für mono- und bidisziplinäre Gutachten erteilt. Spitzenreiterin auf der Liste war die Ärztin Christine Sengupta aus St. Gallen. Sie durfte 392 Gutachten erstellen. An zweiter Stelle liegt Thomas-Martin Wallsach aus St. Gallen (194). Auf den nächsten Plätzen folgen An Bossaerts aus Zollikon ZH (167), Milan Kalabic aus Teufen AR (133) und Olav Lux aus Bern (109). Andere Gutachter dagegen kamen in dieser Periode kaum zum Zug oder erhielten bloss vereinzelte Aufträge.
Der Zürcher Rechtsanwalt Holger Hügel schätzt den Aufwand für ein seriöses medizinisches Gutachtens inklusive Aktenstudium und Untersuchung des Patienten auf rund zwei Arbeitstage. «Wenn Christine Sengupta in drei Jahren 392 Gutachtenaufträge ausführte, war sie somit an 784 Arbeitstagen nur mit Gutachten für die SVA Zürich beschäftigt. Das wären während mehr als drei Jahren fünf Werktage pro Woche», rechnet Hügel vor. Dazu kamen wohl weitere Aufträge aus andern ostschweizerischen Kantonen. Hügel: «Die Zahlen der SVA zeigen: Einige Ärzte leben quasi von diesen IV-Gutachtenaufträgen.»
Das wirft die Frage nach der wirtschaftlichen Abhängigkeit und der Befangenheit der Gutachter auf. Hügel: «Je mehr Aufträge ein Gutachter für eine bestimmte Institution erstellt, desto grösser ist sein Risiko, bei Missfallen der Ergebnisse künftig erhebliche Einkommenseinbussen zu erleiden.»
Thomas Gächter, Professor für Staats-, Verwaltungs- und Sozialversicherungsrecht an der Uni Zürich, verweist aber auf die aktuelle Gerichtspraxis: «Nach der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung gelten diese Gutachter, selbst wenn sie fast nur von IV-Gutachten leben, als unabhängig.»
Tatsächlich: Laut einem unveröffentlichten Bundesgerichtsentscheid vom 29. Mai 2015 stellt eine ausgedehnte Gutachtertätigkeit für die Sozialversicherungsträger auch bei einem gerichtlich bestellten Experten keinen Befangenheitsgrund dar: «Unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Abhängigkeit führen nach gefestigter Rechtsprechung der regelmässige Beizug eines Gutachters oder einer Begutachtungsinstitution durch den Versicherungsträger, die Anzahl der beim selben Arzt in Auftrag gegebenen Gutachten und Berichte sowie das daraus resultierende Honorarvolumen für sich allein genommen nicht zum Ausstand.»
In einem andern Entscheid hat die sozialversicherungsrechtliche Abteilung des Bundesgerichts mehr Fingerspitzengefühl gezeigt. Es ging um die Vergabe von polydisziplinären Gutachteraufträgen. Das sind Expertisen, an denen mehrere Fachleute aus verschiedenen medizinischen Disziplinen beteiligt sind. Bei diesen muss die Auftragserteilung stets nach dem Zufallsprinzip erfolgen (Art. 72bis Abs. 2 IVV, BGE 139 V 349). Solche Expertisen haben bei einer Gutachterstelle zu erfolgen, mit der das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) eine Vereinbarung getroffen hat. Gemeint sind die medizinischen Abklärungsstellen (Medas) im Sinn von Art. 59 Abs. 3 IVG. Im Fall stichhaltiger Einwendungen gegen einzelne Experten ist die Zufallszuweisung sogar zu wiederholen oder so zu modifizieren, dass ein bestimmter Arzt nicht am Gutachten mitwirkt. Eine solche Auftragsvergabe nach dem Zufallsprinzip neutralisiert Abhängigkeits- und Befangenheitsbefürchtungen.
Einigungsverfahren findet selten statt
Mono- und bidisziplinäre Gutachten hingegen werden von den IV-Stellen nicht nach dem Zufallsprinzip vergeben. Die Vergabe erfolgt freihändig. Der Kreis der in Frage kommenden Sachverständigen wird dadurch grösser und umfasst sowohl Unikliniken wie frei praktizierende Ärzte. Wann immer möglich sollte die Anordnung eines externen Gutachters zwar einvernehmlich stattfinden – das heisst in Absprache zwischen der versicherten Person und der IV-Stelle. Laut Hügel finde ein Einigungsverfahren, das diesen Namen auch nur ansatzweise verdiene, aber höchst selten statt.
Gächter fordert, dass auch die Vergabe an solche Gutachter gewissen Verfahrensregeln folgen sollte, wie sie in BGE 137 V 210 aufgestellt werden. Das scheine aber nicht immer der Fall zu sein. Dieser Ansicht ist auch Hügel: «Es geht bei den verschiedenen Gutachtensarten um dieselbe Problematik, die das Bundesgericht zu BGE 137 V 210 veranlasst hat.» Laut Hügel sollte demnach jede Medas-Stelle auf Geheiss des Bundesgerichts jährlich dem BSV einen Rapport schreiben, wie viele und welche Art von Gutachten sie erstellt und welche Arbeitsunfähigkeiten sich dabei ergeben haben. «Dies gilt auch für mono- und bidisziplinäre Gutachten.» Er kritisiert, das BSV komme seiner Aufsichtspflicht in Bezug auf mono- und bidisziplinäre Gutachten nicht nach.
Fürsprecher Ralf Kocher vom BSV sieht das anders: «Das BSV hält sich an die Vorgaben des Bundesgerichts.» Das Bundesamt habe hinsichtlich justiziabler Garantien Weisungen erteilt. Im Übrigen habe das Bundesgericht das Zufallsprinzip im Zusammenhang mit dem Unabhängigkeitserfordernis nur für polydisziplinäre Gutachterstellen als anwendbar erklärt.
Qualitätskontrolle der Gutachten gefordert
Hügel verlangt zumindest eine Qualitätskontrolle der Gutachten durch die IV-Stellen. Und zusätzlich eine Auswertung der mono- und bidisziplinären Gutachten nach Ergebnis, also nach Arbeitsfähigkeit in Prozent. Kocher hat dafür kein Verständnis: «Transparenz und die Veröffentlichung der attestierten Arbeitsfähigkeiten von Gutachterstellen oder einzelnen Gutachtern sollten nicht dazu verleiten, direkte Rückschlüsse auf die Qualität der Gutachter herzustellen. Die Qualität und Schlüssigkeit kann jeweils nur aus dem einzelnen Gutachten hervorgehen.» Statistische Auswertungen über die Gutachtertätigkeit seien keine relevanten Informationen.
Hügel widerspricht: «Wenn die Medas-Stellen dem Bundesamt für polydisziplinäre Gutachten eine derartige Statistik abzugeben haben, ist nicht einzusehen, warum bei mono- und bidisziplinären Gutachten eine solche Auswertung nicht erfolgt.» Immerhin würden diese Aufträge nach wie vor freihändig vergeben. Eigentlich müssten deshalb dafür sogar strengere Anforderungen an die Auswahl der Gutachter gestellt werden. Zeige sich nämlich bei dieser Auswertung, dass vor allem die häufig beauftragten Gutachter zu geringen Arbeitsunfähigkeitsgraden kommen, sei evident, dass «von mangelnder Ergebnisoffenheit» ausgegangen werden könne.
Hügel: «Zumindest im Durchschnitt wäre mit einer solchen Qualitätskontrolle zu erwarten, dass sich die Gutachter mehr an den vorliegenden Fakten und weniger am vermeintlich vom Auftraggeber gewünschten Ergebnis orientieren.»