Das Schweizerische Jugendstrafrecht ist ein spezielles Strafrecht. Sein Grundsatz in Artikel 2 lautet: «Wegleitend für die Anwendung dieses Gesetzes sind der Schutz und die Erziehung des Jugendlichen.» Es ist also nicht die Rede von Schuld und Sühne, sondern von Schutz und Erziehung. Das gilt sowohl für die Strafen wie die Massnahmen. Massnahmen sind laut Gesetz dann auszusprechen, wenn die Abklärungen eines jugendlichen Straftäters ergeben haben, dass dieser einer besonderen erzieherischen Betreuung oder einer therapeutischen Behandlung bedarf. Das Gesetz führt in den Artikeln 12 bis 14 drei ambulante Massnahmen auf: Aufsicht, persönliche Betreuung und ambulante Behandlung. Dazu in Artikel 15 die offene Unterbringung bei Privatpersonen sowie die offene oder geschlossene Unterbringung in Erziehungs- oder Behandlungseinrichtungen als stationäre Massnahme. Nebst der Massnahme muss seit dem Inkrafttreten des neuen Jugendstrafgesetzes grundsätzlich auch eine Strafe ausgesprochen werden.
Massnahmen kommen bei etwa 6 Prozent der jugendlichen Straftäter zur Anwendung. Dabei gilt der Grundsatz der Verhältnismässigkeit. Das bedeutet: Es darf keine stationäre Massnahme ausgesprochen werden, wenn zu erwarten ist, dass auch eine weniger einschneidende ambulante Massnahme zum Ziel führt. Ziel jeder jugendstrafrechtlichen Massnahme ist in erster Linie die Verhinderung weiterer Straftaten durch den Jugendlichen. Dieses Ziel wird dann am ehesten erreicht, wenn die berufliche Eingliederung gelingt. Oder – auch das kommt vor – die geordnete Überführung in die Sozialhilfe oder die Invalidenversicherung.
Nur rudimentäre Erfolgszahlen greifbar
Schon die grundsätzliche Frage, was jugendstrafrechtliche Massnahmen bringen, ist schwierig zu beantworten. Die Erhebung von Zahlenmaterial ist problematisch, es liegen nur dürftige Zahlen vor. Die Jugendanwaltschaft Zürich-Stadt hat über drei Jahrgänge hinweg versucht, solche Zahlen zu eruieren. Mittels Einholung eines Auszugs aus dem Strafregister wurde eruiert, wie viele der Jugendlichen, bei denen eine Massnahme vollzogen wurde, in den drei Jahren nach Abschluss der Massnahme wieder straffällig wurden. Bei denen, die wieder straffällig wurden, wurde überprüft, ob sie nach der Entlassung aus der Massnahme gleich schwere, weniger schwere oder schwerere Straftaten begangen hatten. Das Ergebnis: Knapp 50 Prozent der aus der Massnahme Entlassenen waren in den drei Jahren danach nicht mehr straffällig geworden. Dabei fällt auf: Die Erfolgsquote ist bei den stationären Massnahmen leicht höher als bei den ambulanten. Bei weiteren rund 30 Prozent der Entlassenen war die Schwere der neuen Straftaten geringer. Diese Jugendlichen waren wegen Verbrechen verurteilt worden und im späteren Verfahren noch wegen Vergehen. Auffallend häufig verstiessen frühere Gewalttäter später gegen das Strassenverkehrsgesetz. Das müsste eigentlich Anlass sein, entsprechende Präventionsmassnahmen zu prüfen.
Damit ist aber noch nichts darüber ausgesagt, welche konkreten Massnahmen und welche konkreten Massnahmeeinrichtungen erfolgreich waren. Diese Frage ist gerade im stationären Bereich sehr schwierig zu beantworten. Die Schweiz kennt in diesem Bereich eine sehr grosse Zahl von etablierten Einrichtungen, die meisten mit privater Trägerschaft. Das Problem: Erfolgszahlen liegen nicht vor – allerhöchstens rudimentäre.
Nackte Statistiken oft trügerisch
Wenn ein Heim zum Beispiel publiziert, dass 80 Prozent der Eingewiesenen, die eine Massnahme erfolgreich abgeschlossen hätten, nicht mehr straffällig geworden seien, so ist das auf den ersten Blick ein sehr grosser Erfolg. Wenn – gemäss mündlicher Auskunft auf Anfrage hin – aber eingeräumt werden muss, dass bei 50 Prozent der Eingewiesenen die Massnahme abgebrochen wurde, dann relativieren sich die ausgewiesenen 80 Prozent doch erheblich. Aber auch wenn in vielen Einrichtungen genaue Zahlen vorlägen, wäre der Erkenntnisgewinn wohl klein. Denn alle Einrichtungen sind richtigerweise auf bestimmte Jugendliche mit ganz bestimmten Problematiken spezialisiert. Eine Bewertung nur nach den Erfolgszahlen wäre daher ungerecht und würde für die Einweiser nichts bringen.
Massnahmen zu oft abgebrochen
Die Aufgabe lautet daher: Es gilt für jeden jugendlichen Straftäter die im Einzelfall richtige Massnahmeeinrichtung zu finden. Das ist Aufgabe der Jugendanwaltschaften, die ja auch Vollzugsbehörden sind. Sie müssen den Jugendlichen abklären und einen guten Überblick über die vorhandenen Einrichtungen haben. Die stationäre Unterbringung eines Jugendlichen erfordert heute fast durchwegs eine jugendforensische Begutachtung und eine aufwendige sozialarbeiterische Beurteilung. Was die Abklärung eines Jugendlichen angeht, ist in den letzten Jahren sehr viel getan worden. Der Aufwand, der in dieser Hinsicht geleistet wurde und wird, reicht aber nicht. Es sind vor allem drei Bereiche, bei denen ein Nachholbedarf besteht.
Die Intensivierung und Verfeinerung der Abklärungen müsste zu klaren Forderungen an die Vollzugseinrichtungen führen, wo Veränderungen zu erfolgen haben. Das zeigt sich nur schon an der grossen Zahl von Massnahmeabbrüchen. Etablierte Einrichtungen neigen zu einer gewissen Trägheit, sie brauchen immer mal wieder Anstösse von aussen.
Gruppen für schwierige Jugendliche oft ungeeignet
Die stetig weiter gehende Individualisierung der Gesellschaft zeigt sich natürlich auch bei straffälligen Jugendlichen. Das führte in den vergangenen Jahrzehnten – nach anfänglichem Widerstand – immer wieder zu Veränderungen in der Heimlandschaft, meist zur Schaffung von kleineren Wohn- und Arbeitseinheiten. Auch neue Ideen und Wege, die sich als sinnvoll erwiesen, wurden – wieder nach anfänglichem Widerstand – von den etablierten Einrichtungen aufgenommen. Man denke an die Schaffung von Aussenwohngruppen oder auch den Einbezug von erlebnispädagogischen Elementen in den Massnahmeverlauf.
Deutlich wurde in den vergangenen Jahren, dass es gerade bei sehr schwierigen Jugendlichen (oder bei Jugendlichen mit sehr traurigem Lebensrucksack und sehr grossen Schwierigkeiten) unmöglich sein kann, in Gruppen erfolgversprechend zu arbeiten.
Ohne Beziehungsarbeit keine Erfolge
Es gibt noch einen zweiten Bereich, der verbessert werden sollte. Es geht um die Frage: Wie bringe ich die gewonnenen Erkenntnisse an den Mann beziehungsweise an den Jugendlichen? Hier geht es um Beziehungsarbeit, die gelernt werden muss. Denn Jugendliche können mit sachlichen Argumenten und klinischen Erkenntnissen allein nicht viel anfangen. Sie sind – bei ihren Lebensgeschichten meist logischerweise – misstrauisch. Es geht darum, ein gewisses Vertrauen des Jugendlichen (und der Eltern) in die handelnden Personen herzustellen. Das heisst: Der Jugendliche muss merken, dass man ihn (nicht seine Taten) mag, dass er für den Jugendanwalt wichtig ist und dass man ihm etwas zutraut. Beziehungsarbeit wird heute oft belächelt. Sie ist nicht alles – das ist klar. Aber ohne Beziehungsarbeit ist fast alles nichts.
Menschen mit Engagement auf allen Stufen nötig
Der dritte Bereich, auf den es zu achten gilt, ist simpel. Es braucht auf allen Stufen engagierte Leute: bei den Jugendanwaltschaften, den Gerichten, den Verteidigern und den Vollzugseinrichtungen. Nebst rationalen Abklärungen, Überlegungen und Planungen erfordert jede Erziehung von Jugendlichen auch Emotionen. Eine Zurechtweisung oder Sanktion zeigt nur Wirkung, wenn der Jugendliche erkennt, dass der Handelnde aus Sorge um ihn zurechtweist oder straft. Das wissen alle, die erzogen worden sind oder eigene Kinder erzogen haben.
Die wirkungsvollsten und erfolgreichsten jugendstrafrechtlichen Massnahmen sind somit diejenigen, bei denen sich die Jugendanwaltschaft, der Jugendliche, sein Verteidiger und die Eltern gestützt auf sorgfältige Abklärungen auf eine von allen getragene, erfolgversprechende Lösung einigen können. Der Weg dahin ist oft beschwerlich, er erfordert Zeit, Geduld und Beharrlichkeit. Das Jugendgericht muss bei Unterbringungen dann den endgültigen Entscheid fällen.