Daniel Kipfer Fasciati war Gerichtsschreiber am Bundesgericht, als man Richter für das neue Bundesstrafgericht in Bellinzona suchte. «Ich habe bei meiner Bewerbung nicht mit der Wahl gerechnet», gesteht er. Doch er schaffte es nicht zuletzt «wegen seines etwas speziellen Werdegangs», wie er erfahren hat. Ursprünglich hatte er sich ganz der Philosophie verschrieben. Er studierte in Basel, München und Frankfurt Philosophie und Germanistik, erwarb nach dem Lizentiat noch den Doktortitel und plante bereits eine Habilitationsschrift. Doch es kam anders. Aus familiären Gründen kehrte er nach Basel zurück und entschied sich, noch ein Jus-Studium zu machen. Das Recht habe ihn schon immer interessiert, sagt er dazu: «Zudem kann das Philosophiestudium auch brotlos sein. Als Philosoph versteht man zwar von vielem etwas, aber auf einem Niveau ohne praktischen Anschluss.»
Nach dem Lizentiat arbeitete Kipfer als Gerichtsschreiber in den beiden Basel und schliesslich am Kassationshof des Bundesgerichtes bei Martin Schubarth. Seit zehn Jahren ist er Richter am Bundesstrafgericht, das er 2014 und 2015 präsidieren wird. Als Richter zählt er zu den Grünen, hat sich aber nie parteipolitisch betätigt. «Ich bin in der Justiz hängengeblieben», stellt er mit einem Lachen fest. Unglücklich sei er deswegen nicht, denn die Tätigkeit des Richters liege ihm.
«Am Aufbau einer neuen Justizbehörde mitwirken zu können, war eine einmalige Chance», sagt Kipfer. Er hat sich stark engagiert für einen funktionierenden Betrieb. Besonders wichtig sind ihm ein guter Umgang mit Konflikten und die Transparenz der Justiz. Nicht umsonst loben Gerichtsberichterstatter seine Offenheit. Doch so locker er sich im Gespräch gibt, eine gewisse Vorsicht schwingt mit. Er möchte vermeiden, dass einzelne Sätze zu viel Gewicht erhalten, ihm allenfalls gar den Vorwurf der Befangenheit einhandeln könnten.
Was geschehen kann, wenn etwas überinterpretiert oder falsch verstanden wird, hat er im August 2013 erleben müssen. Es ging um einen Bankdatendiebstahl. Bei der Urteilseröffnung wollte Kipfer der Bundesanwaltschaft signalisieren, dass das Gericht bei solchen Fällen das abgekürzte Verfahren auch einmal ablehnen könnte. Es sei unbefriedigend, wenn der Bankdatendiebstahl ausschliesslich im abgekürzten Verfahren abgehandelt werde, das Gericht bloss noch Zaungast sei und die Praxis nicht mitgestalten könne. Bei den Gerichtsberichterstattern kam das offenbar etwas anders an, als es gemeint war. Das Gericht wolle überhaupt keine abgekürzten Verfahren mehr akzeptieren und Deals zwischen Staatsanwalt und Datendieb faktisch verbieten, war zu lesen.
Das löste laut Kipfer «einen Riesenwirbel» aus. Auch Bundesanwalt Michael Lauber reagierte auf die Presseberichte und erinnerte daran, dass es Sache der Bundesanwaltschaft sei, in welcher Form sie einen Fall vor Gericht bringen wolle. Frei ist jedoch auch das Gericht bei der Frage, ob es das abgekürzte Verfahren für «angebracht» hält oder die Akten zur Durchführung eines ordentlichen Verfahrens zurückweist, betont Kipfer: «Und dieser Entscheid ist nicht anfechtbar.»
Der Gerichtspräsident weiss, dass bei den Staatsanwälten abgekürzte Verfahren beliebt sind, denn dies gilt als effizient und verspricht tiefere Kosten. Doch inzwischen gebe es nicht weniger als drei Verfahrensformen, die ganz auf Effizienz ausgerichtet sind: das abgekürzte Verfahren, der Strafbefehl und die Einstellungen nach Wiedergutmachung. Die Tendenz weg von der gerichtlichen Beurteilung hin zur Staatsanwaltschaft gefällt ihm nicht: «Die Gerichte werden durch diese Entwicklung marginalisiert. Ich bin der Meinung, dass es richtig und gut ist, wenn man die Verfahren ausführlich vor Gericht führt.»
Fairness ist für Kipfer das oberste Gebot beim Führen eines Prozesses. Diesbezügliche Vorgaben und die subjektiven Rechtsansprüche der Parteien müssen beachtet werden. Doch das reicht nicht: «Der Richter muss zuhören, sich interessieren für das, was gesagt wird. Er darf niemals zynisch werden und etwas einfach als Taktik abtun. Zynismus ist ein ganz schlechter Berater.» Und schliesslich müsse man das mit einer «pragmatischen Effizienz» verbinden.
Als Beispiel kann der Prozess gegen die Anführerin des Revolutionären Aufbaus, Andrea Stauffacher, dienen. Am Schluss der Verhandlung fragte Kipfer die Angeklagte, ob sie das Recht auf das letzte Wort wahrnehmen wolle. Diese bejahte das, setzte sich auf den Tisch vor ihrem Platz und begann, mit dem Rücken zum Gericht zu ihren Anhängern zu sprechen. Kipfer griff ein, unterbrach die Sitzung für einige Minuten. Dann machte er ihr das Angebot, von ihrem Sitzplatz aus zu reden. Sie dürfe aber dem Gericht nicht den Rücken zuwenden. Wenn sie das wolle, betrachte das Gericht das als Verzicht auf das letzte Wort. Stauffacher akzeptierte den Kompromiss. Der Prozess endete ohne grössere Probleme.
Als Präsident setzt sich Kipfer für die Schaffung einer Berufungsinstanz ein: «Es braucht eine Oberinstanz, die reformatorisch entscheiden kann und nicht bloss kassatorisch.» Nicht nur das Bundesstrafgericht, auch das Bundesgericht hält die Schaffung einer Berufungskammer in Bellinzona für die einfachste Lösung (plädoyer 6/13). «Wir haben im neuen Gerichtsgebäude genügend Platz und grosse zusätzliche personelle Kapazitäten braucht es nicht», wirbt er für diese Idee. Und das Argument, es gebe für eine Berufungsinstanz zu wenig Fälle, würde mit dieser Lösung hinfällig.
Ganz abgeschlossen mit der Philosophie hat der Jurist nicht. Von 1990 bis 2010 nahm er Lehraufträge für Philosophie, Wirtschaftsethik und Recht an der Uni Basel und der Fachhochschule Nordwestschweiz wahr. Noch heute ist er Vorstandsmitglied der Schweizerischen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie. Mit seiner Frau und den beiden Töchtern wohnt der 53-Jährige in Basel, wenn er nicht im Tessin übernachtet.
Hier hat er ein neues Tätigkeitsfeld gefunden: die Bienenzucht. Er startete mit einem Bienenvolk, machte dann auf der Terrasse ein zweites daraus. Vom Ertrag ist er, der sich als «Miniatur-Imker» bezeichnet, selber überrascht: «Das eine Volk hat im letzten Sommer 34 Kilo Honig gebracht.»