Das Vorhaben ist ambitioniert: Bis in acht Jahren soll das elektronische Gerichtsdossier die Papierakten fast umfassend ersetzen. Der Startschuss für das Digitalisierungsprojekt Justitia 4.0 fiel am 14. Februar in Luzern. 240 Personen aus dem Justizwesen waren gekommen, um dieses «Organisations- und Kulturprojekt», wie es die Zürcher Justizdirektorin Jacqueline Fehr in ihrer Eröffnungsrede nannte, gemeinsam zu lancieren.
30 000 Arbeitsplätze werden betroffen sein
Justitia 4.0 ist ein gemeinsames Projekt der schweizerischen Gerichte und der kantonalen Straf- und Justizvollzugsbehörden. Das Projekt betrifft alle Akteure der Schweizer Justiz: Die Gerichte des Bundes und der Kantone, die Bundesanwaltschaft und die Staatsanwaltschaften und alle Anwälte des Landes. 30 000 Arbeitsplätze im Justizwesen werden von dieser Umgestaltung betroffen sein. Das geplante Justizportal, die elektronische Justizakte und der elektronische Rechtsverkehr werden die Abläufe in der Schweizer Justiz stark verändern.
Zurzeit ist eine fünfköpfige Projektgruppe an der Arbeit. Drei Personen sind von der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren angestellt, zwei vom Bundesgericht. Acht Fachgruppen sollen sich in diesem und im nächsten Jahr um die Projektentwicklung kümmern. Wenn es nach den Projektverantwortlichen geht, soll das Vorhaben bereits im Jahr 2026 umgesetzt sein.
Ein ehrgeiziges Ziel. Immerhin müssen neben dem genauen Vorgehen Software-, Lizenz- und Infrastrukturfragen geregelt und öffentliche Ausschreibungsverfahren durchlaufen werden. Die Höhe der Kosten ist ebenso offen wie die Frage, wer sie trägt. Vor allem aber: Es fehlt an den gesetzlichen Grundlagen. Auch da laufen erst die Vorarbeiten.
Laut einem Sprecher des Bundesamts für Justiz sieht der Vorentwurf zu einem Bundesgesetz über die elektronische Kommunikation mit Gerichten und Behörden (BEKG) ein Obligatorium für den elektronischen Rechtsverkehr für Gerichte, Behörden und Anwälte vor. «Das Bundesgesetz regelt dabei primär die zu bauende Plattform, während die Änderungen in den Prozessgesetzen die entsprechenden Anpassungen für das Obligatorium enthalten.» Gemäss dem Bundesamtssprecher will der Bundesrat voraussichtlich Ende Jahr die Vernehmlassung zum Vorentwurf eröffnen.
Warum ein Obligatorium? Bundesgerichtspräsident Ulrich Meyer sagte dazu am letztjährigen Richtertag vom 23. November 2018: «Die in den Nachbarländern gemachten Erfahrungen zeigen, dass die elektronische Kommunikation erst genutzt wird, wenn sie einfach und obligatorisch ist.»
Deutschland will wie Justitia 4.0 bis 2026 in sämtlichen gerichtlichen Verfahrensbereichen mit der elektronischen Akte arbeiten. Allerdings: Der nördliche Nachbar schuf die gesetzliche Grundlage dafür schon am 5. Juli 2017. Zudem sind Anwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts bereits aufgrund des E-Justice-Gesetzes vom 10. Oktober 2013 verpflichtet, spätestens ab 1. Januar 2022 sämtliche Dokumente in elektronischer Form bei den Gerichten einzureichen.
Basel brauchte Jahre für die Umstellung
In der Schweiz haben erst die Gerichte von Basel-Stadt Erfahrungen im Bereich der digitalisierten Justiz. Seit 2010 werden beim Appellationsgericht alle Akten eingescannt, soweit sie nicht bereits elektronisch eingehen. Seit 2012 gelte dies für alle Gerichte des Kantons, erklärt Stephan Wullschleger, Präsident des Appellationsgerichts. Zwischen den Gerichten erfolge der Datentransit seit 2014 elektronisch. Wullschleger: «Damit besteht in den allermeisten Fällen die Möglichkeit, ohne Papierakten zu arbeiten.»
Der Weg war lang. Der Entscheid, in Richtung eines papierarmen Büros zu gehen, erfolgte im Jahr 2006. Im Jahr 2009 begann die Umsetzung. Angesprochen auf den ehrgeizigen Zeitplan von Justitia 4.0 meint Wullschleger: «Es ist nicht Sache der Gerichte Basel-Stadt, diesen Terminplan zu kommentieren, zumal uns der operative Überblick dazu fehlt.» Die Gerichte Basel-Stadt würden sich aber aktiv bemühen, ihre Erfahrung einzubringen.
Kostenschätzung ist Geheimsache
In der Schweizerischen Juristenzeitung vom 1. Juli 2018 schätzte Paul Tschümperlin, Generalsekretär des Bundesgerichts, die Projektkosten auf 15 Millionen Franken, die jährlichen Betriebskosten auf rund 3 bis 6 Millionen Franken. Gegenüber plädoyer betont Tschümperlin, diese Angaben würden auf dem Stand vom Mai 2018 beruhen: «In der Zwischenzeit liegen neue Kostenschätzungen vor, die insbesondere auch die Betriebskosten einer provisorischen Plattform einrechnen.»
Vital Meyer ist Projektleiter von Justitia 4.0. Er sagt zum Thema Kosten: «Zum heutigen Zeitpunkt besteht erst eine grobe Schätzung.» Die Finanzplanung werde nach Abschluss der Konzeptphase erhärtet sein. Wie hoch die grobe Schätzung ist, sagt er nicht.
Martin Steiger, Zürcher Rechtsanwalt und Sprecher des Vereins Digitale Gesellschaft, hält die Digitalisierung der Justiz für wichtig. Sie verbessere die Zugänglichkeit zur Justiz. In Bezug auf Justitia 4.0 sagt Steiger aber: «Es macht einem nicht nur als Laie Angst, wenn man sich die Komplexität des Vorhabens anschaut.» IT-Projekte des Bundes würden notorisch viel teurer und dauerten viel länger als geplant (Siehe unten).
Jean-Marc Hensch, Geschäftsführer der Swico, dem Wirtschaftsverband der ICT- und Online-Branche, sagt: «Bevor das Pflichtenheft steht und die Ausschreibung publiziert wird, ist eine Schätzung der Kosten kaum möglich.» Der genaue Funktionsumfang stehe ja noch gar nicht fest. «Vom Schiff aus würde ich die von Tschümperlin genannten 15 Millionen für das Gesamtprojekt als sehr optimistisch betrachten.»
Und wie steht es um die Datensicherheit? Jacqueline Fehr meinte dazu am Eröffnungstag in Luzern nur: «Der Schwachpunkt in allen Sicherheitskonzepten sind wir selber. Unsere Bequemlichkeit, simple Passwörter zu setzen. Unsere Nachlässigkeit, die Passwörter unter die Tastatur zu legen. Unsere Trägheit, die Chipkarte am Abend wirklich rauszunehmen. Sicherheit ist nur zu einem bestimmten Teil ein technisches Problem.»
Hernani Marques, Experte für Computersicherheit, sieht in Bezug auf Justitia 4.0 weit grössere Risiken. Bei einer besonders stark zentralisierten Lösung – ähnlich wie beim elektronischen Patientendossier – könnten sich erhebliche Probleme ergeben. Marques: «Ich kann mir bei Verfahren, die Geheimbereiche des Staates betreffen, vorstellen, dass weder die Staatsanwaltschaften noch die Polizeibehörden, noch der Nachrichtendienst besonders darauf erpicht sind, dass alles im Netz landet.» Die Wahrung des Amtsgeheimnisses oder den Schutz vor Hackern nennt Marques als weitere Herausforderungen.
Die Datensicherheit gibt auch Anwalt Steiger zu denken. Es gehe hier um eine staatliche Infrastruktur. Der Staat könne also genau schauen, wer zum Beispiel welche Dokumente betrachtet, wer was markiere oder kopiere. Theoretisch sei so zum Beispiel ein Einblick in die Verteidigungsstrategie eines Beschuldigten möglich. Natürlich solle das mit Zugangskontrollen ausgeschlossen werden. «Aber der Nachrichtendienst des Bundes beispielsweise hat ja faktisch zu allem Zugang.»
Obligatorium als kritischer Punkt
plädoyer hat zehn Deutschweizer Kantonen, um Stellungnahmen zum Grossprojekt gebeten. Sieben haben geantwortet.
Der St. Galler Justizdirektor Fredy Fässler findet das gewählte schrittweise Vorgehen gut. Auch Heinrich Tännler, Gerichtsverwalter des Kantons Solothurn, begrüsst das Projekt. Kritische Punkte sieht er bei der Schaffung der rechtlichen Grundlagen (Stichwort: Obligatorium) und dem nicht einfach zu bewerkstelligenden Umdenken bei der Richterschaft.
Auch die Justiz des Kantons Bern steht dem Vorhaben grundsätzlich positiv gegenüber, meint Michel-André Fels, der die bernischen Justizbehörden bei Justitia 4.0 vertritt. Die Digitalisierung bringe aber einschneidende Veränderungen mit sich. So sei namentlich darauf zu achten, dass die bekannten negativen Folgen der Bildschirmarbeit vermieden werden.
Cornelia Komposch, Justizdirektorin des Kantons Thurgau, sagt: «Ein kritischer Punkt besteht darin, alle Betroffenen in diesem Transformationsprozess zu Beteiligten zu machen und genügend personelle sowie finanzielle Ressourcen für die Umsetzung bereitzustellen.»
“Ein von oben aufgepfropftes Projekt”
Klare Kritik äussert Gerichtsschreiber Erich Hug vom Obergericht Glarus. Dieses Projekt erscheine ihm letztlich als «von oben aufgepfropft». Es sei vom Bundesgericht via Bundesamt für Justiz und der Konferenz der kantonalen Justizdirektoren angeschoben worden. Man merke dem Projekt an, dass es von einer PR-Agentur beworben werde. Sorge bereite unter anderem, dass sich die für das Projekt kommunizierten geschätzten Kosten ständig erhöhen würden. Zudem: Wann immer ein Vorhaben national aufgegleist werde, bedeute dies für die Kantone im Ergebnis einen Verlust an Eigenständigkeit. Hug: «Die Kantone werden zu bezahlen haben, und das sicher nicht zu knapp.» Es sei nicht davon auszugehen, dass ein Kanton wie Glarus beim Vergabeprozess ein gewichtiges Wort mitreden könne. «Dazu fehlt es am erforderlichen technischen Fachwissen.» Dieses sei bei den grossen Kantonen zumeist auch nicht vorhanden – nur würden diese das nicht so freimütig einräumen. Bei einem solchen Projekt hätten letztlich nur ganz wenige Köpfe den technischen Durchblick: «Dabei verwischen sich die Grenzen zwischen Anbieter und Kunde.» Deutlich zustimmend zum Projekt Justitia 4.0 äusserte sich der Geschäftsführer des Schweizerischen Anwaltsverbands (SAV). René Rall verweist als Pluspunkt vor allem auf die Effizienzsteigerung. Auf die Frage, ob in Bezug auf Justitia 4.0 auch schon eine Mitgliederbefragung durchgeführt wurde, antwortet Rall: «Nein, das ist auch nicht nötig. Über unsere Kantonalverbände, die das Grossprojekt mit grosser Mehrheit mittragen, kennen wir deren Anliegen und Bedürfnisse sehr genau.»
Bei den Anwälten gibt es Vorbehalte
Eine Nachfrage von plädoyer bei kantonalen Deutschschweizer Anwaltsverbänden zeigt aber, dass es bei der Basis offenbar durchaus Vorbehalte gibt. So schreibt Ana Dettwiler, Präsidentin des basellandschaftlichen Anwaltsverbandes, dass innerhalb ihres Verbands keine Einigkeit in Bezug auf das Projekt Justitia 4.0 bestehe. Dettweiler gibt zu bedenken: «Da es sich um ein laufendes Projekt handelt, ist auch noch nicht absehbar, in welchem Ausmass Infrastrukturanpassungen, Schulungen und so weiter auf die Kanzleien zukommen.» Laut Eveline Roos, Präsidentin des Solothurner Anwaltsverbands, bejaht ihr Verband das Projekt Justitia 4.0 grundsätzlich. «Es ist aber zu hoffen und davon auszugehen, dass das Projekt so ausgestaltet sein wird, dass es auch für kleinere Kanzleien realisierbar ist.»
Der Vorstand des bernischen Anwaltsverbandes teilt mit, man habe in Bezug auf das geplante Obligatorium Vorbehalte. Dies vor allem, weil die Anforderungen und die damit verbundenen Kosten für die Mitglieder des Verbands im Moment nicht abschätzbar seien. Zudem würde der Verband eine grundsätzliche Wahlfreiheit für jeden praktizierenden Anwalt begrüssen.» Man habe im Vorstand beschlossen, die Verbandsmitglieder in den Meinungsprozess zum Projekt Justitia 4.0 einzubinden.
Zur Frage des Obligatoriums sagt der Zürcher Rechtsanwalt Martin Steiger: «Jede Bürgerin und jeder Bürger soll nebst dem elektronischen Weg auch noch andere Möglichkeiten für den Verkehr mit der Justiz haben. Sei dies auf dem Papierweg oder dass man, wie dies auch heute möglich ist, beim Gericht vorbeigehen und eine Eingabe machen kann.»
Millionengräber des Bundes
Informatikprojekte des Bundes sorgen laufend für negative Schlagzeilen. Ein kleiner Überblick.
2010: IT-Projekt «Vista» der Ausgleichskassen
Die «Sonntags-Zeitung» berichtet am 17.10.2010 über das Informatikprojekt «Vista» der kantonalen Ausgleichskassen. Seit zehn Jahren laufe das Projekt, herausgekommen sei «ein IT-Debakel der Sonderklasse». Die neue Informatiksoftware sollte ursprünglich die gesamte Palette der 1. Säule abdecken. Obwohl das Projekt abgespeckt wurde, wird es gemäss «Sonntags-Zeitung» statt der vorgesehenen 80 Millionen rund 250 Millionen Franken kosten.
2011: Kommandodatenbank der Armee
Ein Bericht der Rüstungskommission vom 29. März 2011 bestätigt Ungereimtheiten bei der Beschaffung des Führungsinformationssystems Heer (FIS Heer).
Die Kommandodatenbank, für die 2006/2007 vom Parlament 700 Millionen bewilligt wurden, funktioniert nur eingeschränkt. Probleme bereitet unter anderem die limitierte Datenübertragungskapazität der Funkgeräte. Am 31. Juli 2012 muss das VBS in einem Bericht zugeben: «Die Beschaffung von FIS Heer erfolgte alles andere als optimal.»
2012: Projekt «Insieme» der Steuerverwaltung
Eine Administrativuntersuchung zum Informatikprojekt «Insieme» der eidgenössischen Steuerverwaltung bringt am 19. Juni 2012 schwere Verstösse gegen das Beschaffungsrecht ans Licht. Direktor Urs Urspung muss gehen. Wegen zu vieler Risiken wird das Projekt beerdigt. Sprecher Joel Weibel bestätigt auf Anfrage, dass das Ganze einen Verlust in der Höhe von 116 Millionen Franken verursachte.
2013: Projekt «Mistra» des Bundesamts für Strassen
Die Eidgenössische Finanzkontrolle rüffelt in einem Prüfbericht am 3. April 2013 das Bundesamt für Strassen: Das IT-Projekt zur zentralen Verwaltung aller Strassendaten («Mistra») wird mit 100 Millionen Franken mehr als doppelt so teuer als geplant. In ihrem Prüfbericht schreibt die Finanzkontrolle, «dass die Vorschriften des Finanzhaushaltsgesetzes verletzt worden sind».
2013: Projekt ISS der Strafverfolgungsbehörden
Die Strafverfolgungsbehörden von Bund und Kantonen müssen bei der Beschaffung des neuen Interception System Schweiz (ISS) am 23. September 2013 die Notbremse ziehen. Das ISS soll ein veraltetes Telefon- und Internetüberwachungssystem im Rahmen von Strafverfahren ablösen. Der Herstellerwechsel kostet den Bund 18 Millionen.
2018: Projekt «Fiscal-IT» der Steuerverwaltung
«Fiscal-IT» ersetzte 2012 das abgebrochene Projekt «Insieme». Bald traten aber auch hier Probleme auf. Das Parlament musste mehrere Nachtragskredite sprechen. Im November 2018 rechnete das Finanzdepartement mit Gesamtkosten von rund 118 Millionen Franken. In ihrem jüngsten Bericht hält die Finanzdelegation der eidgenössischen Räte zum Projekt fest: «Die ursprünglich prognostizierten Einsparungen bei den Betriebskosten konnten nach Abschluss des Programms (noch) nicht realisiert werden.»