Sphärische, emotionale Musik erklingt. Ein Sprecher sagt: «Ich bin beeindruckt, wie gewissenhaft und akribisch die Staatsanwälte tagein, tagaus ihrer Arbeit nachgehen, wie transparent alles ist, wie sie Opfer, aber auch Beschuldigte fair und respektvoll behandeln.»
Ein Werbespot der Strafbehörden? Nein, das ist das Fazit des Reporters in der Nachrichtensendung «10 vor 10». Der Redaktor Stephan Rathgeb des Schweizer Fernsehens begleitete ein halbes Jahr lang vier Staatsanwälte der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich für schwere Gewaltverbrechen. Als eingebetteter Journalist. Er erklärt: «Ich durfte überall dabei sein und Akten einsehen, um mir ein möglichst vollständiges Bild davon zu machen, wie die Staatsanwälte arbeiten.»
Die Serie «Die Staatsanwälte» besteht aus vier Teilen. In der ersten Episode porträtiert der Reporter Staatsanwalt Adrian Kaegi. Der Reporter ist am Tatort bei der Hausdurchsuchung mit der Kamera dabei. Eine Frau soll ihrem Freund ein Messer in die Brust gestochen haben. Im Haus wimmelt es von Polizisten. Der Staatsanwalt stellt ihnen einige Fragen. Später kann der Zuschauer die erste Einvernahme der Beschuldigten mitverfolgen. Staatsanwalt Kaegi fragt: «Kann man daran sterben, wenn man mit einem Messer ins Herz sticht?» Die Beschuldigte antwortet: «Ins Herz, ja schon.» Ein paar Fragen später sagt die Frau: «Ich bin kein Mörder und schon gar nicht verwende ich eine Tatwaffe.» Der Reporter ergänzt: «Auch bei späteren Befragungen wird sie kein volles Geständnis abliefern». Staatsanwalt Kaegi werde sie voraussichtlich wegen versuchter vorsätzlicher Tötung vor Gericht bringen.
Immer wieder geht es um Sexualdelikte
Die zweite Sendung der Serie zeigt Staatsanwalt Hanno Wieser. Er befragt eine 82-jährige Frau als Opfer. Sie sei zu Hause ausgeraubt und vergewaltigt worden. Die Moderatorin sagt zu Beginn: «Während scheussliche Verbrechen und die Urteile in den Medien meist Niederschlag finden, bleibt die Suche nach der Wahrheit in der Justiz unsichtbar. Darum dokumentieren wir sie.» Später sagt der Reporter: «Der Mann hat gestanden, dass er Frau W. an jenem Tag gefesselt und sich dabei befriedigt hat. Es wurden DNA-Spuren gefunden. Doch der Staatsanwalt muss rausfinden, ob sich das von ihm Beschriebene mit dem Erleben des Opfers deckt.» Daher hören die TV-Zuschauer auch Antworten im Originalton auf Fragen wie: «Händ Sii sin Penis emäl gseh?» oder «Hät er kralled, kratzed?». Der Reporter beschreibt: «Das Erlebte noch mal hervorzuholen ist belastend für alle im Raum.» Später weint die Frau. Die Befragung wird unterbrochen.
In der dritten Folge kommt Staatsanwältin Katrin Baumgartner zum Zug. Sie ermittelt gegen einen Familienvater. Dieser chattet mit einer Minderjährigen. Er sucht eindeutig sexuellen Kontakt. Kurz bevor er die Frau trifft, wird er verhaftet. Die vermeintlich minderjährige Chatpartnerin war eine verdeckte Ermittlerin der Polizei. Der Mann ist geständig. Die Moderatorin meint einleitend: «Es geht uns hier nicht darum, in die Abgründe der Menschen zu schauen, die Tat oder den Täter voyeuristisch ins Zentrum zu rücken.» Es gehe darum zu zeigen, wie die Staatsanwaltschaft präventiv Delikte verhindere. Doch intime Details kommen im Beitrag nicht zu kurz. Auf die Frage der Staatsanwältin, worum es beim Chat ging, sagt der Beschuldigte: «Um mich glaub sexuell z’errege.» Der Sprecher zitiert danach explizite Chatprotokolle.
Der Zuschauer erfährt, dass der Beschuldigte seinen gut bezahlten Job verlor. Es gab eine Hausdurchsuchung, die jedoch kein weiteres belastendes Material offenbarte. Die minderjährigen Mädchen, mit denen der Beschuldigte schlüpfrig gechattet habe, seien übrigens allesamt ältere Männer gewesen, die sich als junge Mädchen ausgaben. Der älteste ein 77-jähriger alleinstehender Mann. Der Beschuldigte werde einen Strafbefehl erhalten.
Die Verteidigung kommt im Beitrag nicht vor
Im vierten Beitrag steht Staatsanwalt Martin Wyss im Fokus. Er vernimmt einen Mann, der eine Frau getötet und dann geschändet haben soll. Der Beschuldigte anerkennt, die Frau getötet zu haben. Der Beschuldigte demonstriert an einem Polizisten, wie er die Frau erwürgt hatte. Er sagt: «Ich habe sie in ihren Tod begleitet.» Der Reporter kommentiert: «Mich schaudert, wie er das sagt.» Eine Original-Tonaufnahme zeigt, wie heftig die beiden zuerst stritten. Der Staatsanwalt will wissen, was in ihm vorgegangen sei bei der Tat. Der Beschuldigte antwortet: «Es war wie ein Blitz, der einschlug und mich in einen völlig anderen Zustand versetzt hat. Ich hatte den Eindruck, eine externe Macht hätte die Kontrolle übernommen und alles orchestriert.» Nach dem Tod habe er sich sexuell an ihr vergangen. Der Beschuldigte sagte dazu: «Der verletzte Teil in mir hat gesagt, schau, kleine Nutte, was passiert, wenn du jemanden als Schwulen beschimpfst und ihm sagst, dass er einen kleinen Schwanz hat. Jetzt wirst du gefickt.» Ein psychiatrisches Gutachten beurteile den Beschuldigten als schuldunfähig. Der Staatsanwalt werde den Mann voraussichtlich wegen vorsätzlicher Tötung und Störung des Totenfriedens vor Gericht bringen und höchstwahrscheinlich eine stationäre Massnahme nach Artikel 59 beantragen. Der Beitrag endet mit den trauernden Angehörigen im Bild.
Rechtsanwalt Alain Joset aus Basel führt seit langem Strafverteidigungen. Er kritisiert: «Die Serie vermittelt ein falsches Bild der strafprozessualen ‹Wahrheitssuche›. Die Beiträge suggerieren, dass Staatsanwälte die Wahrheit finden könnten, würde man sie in Ruhe untersuchen lassen. Diese Position hat nichts gemein mit dem Grundsatz eines modernen dualistischen Strafrechtssystems.» Die Wirklichkeit sehe anders aus. Joset ergänzt: «Die Beiträge unterschlagen, dass oft viele Akteure am Verfahren beteiligt sind: Verteidiger, Opferanwälte, Zeugen oder mehrere Beschuldigte.» Der Strafverteidiger sei der wichtigste Gegenspieler des Staatsanwalts. Doch im Beitrag komme die Verteidigung schlicht nicht vor. Joset meint: «Einwände der Beteiligten, Streitigkeiten um Beweisverwertungsverbote, Siegelung oder U-Haft gehören zum Alltag der Staatsanwälte und werden ausgeblendet.»
Niklaus Ruckstuhl ist Titularprofessor für Strafprozessrecht an der Uni Basel und Strafverteidiger. Er kritisiert die «10 vor 10»-Beiträge: «Diese Lobhudelei hat mich irritiert.» Die Sendungen seien einseitig. Strafverteidiger, Richter und Opfervertreter würden nicht zu Wort kommen. Der Professor meint: «Die materielle Wahrheit kann man nicht einfach finden, so wie man etwas Verlorenes durch Suchen findet, man kann sich ihr nur möglichst optimal annähern. Diese Art von Wahrheit entsteht nur im Diskurs mit allen Beteiligten, also namentlich unter Einbezug auch von Beschuldigten und Verteidigern.»
Konrad Jeker, Strafverteidiger aus Solothurn, sagt: «Die Serie kam mir vor wie ein von der Staatsanwaltschaft bestelltes Propagandamaterial, das zur besten Sendezeit ausgestrahlt wird. Mehr als peinlich war im konkreten Fall, dass kein einziger kritischer Gedanke einfloss.» Ein solcher Beitrag könne natürlich nicht den Alltag zeigen. Wer gefilmt werde, zeige sich nur im besten Licht. Jeker ergänzt: «Die unzähligen Beschwerden belegen, dass sich Staatsanwälte nicht immer an die Regeln halten. Manche halten sich sogar nur dann daran, wenn sie ihnen gerade ins Konzept passen.»
SRF-Sprecher Stefan Wyss sagt zum Vorwurf der Propaganda: «Unser Reporter wählte eine konsequente Reportage-Perspektive. Er schaute den Staatsanwälten bei ihrer Arbeit über die Schultern und hinterfragte sie auch immer wieder kritisch.» Das Ziel der Serie sei zu zeigen, wie die spezialisierten Staatsanwälte arbeiten. Wyss ergänzt: «Das am Schluss vom Reporter gezogene Fazit ist sein ganz persönlicher Eindruck.»
Heikel ist auch: Während der Einvernahmen wurde gefilmt. Immerhin: Die Beschuldigten und Opfer wurden in den Beiträgen anonymisiert. Laut einer Texteinblendung in den Beiträgen hat ein SRF-Mitarbeiter die Aussagen der Beschuldigten nachgesprochen. Die Opfer hört man im Originalton, weil sie – respektive ihre Angehörigen – damit einverstanden gewesen seien. Zur Frage, ob die Beteiligten vorgängig freiwillig ihre Zustimmung zu den Filmaufnahmen während den Einvernahmen gaben, sagt die Sprecherin der Staatsanwaltschaften des Kantons Zürich, Corinne Bouvard: «Wenn die Parteien gegen die Filmaufnahmen opponierten, wurde nicht gefilmt.»
«Es war unnötig, in laufenden Fällen zu filmen»
Auch das Amtsgeheimnis war kein Hindernis, dem Journalisten die Akten offenzulegen. Nach eigener Darstellung konnte der SRF-Reporter monatelang Strafakten lesen, um interessante Fälle zu finden. Laut Sprecherin Bouvard hat die Staatsanwaltschaft die Beschuldigten und Opfer nicht gefragt, ob sie damit einverstanden sind. Bouvard sagt: «Der Journalist hatte in der Amtsstelle, also vor Ort, Einblick in die Akten, wie dies die Mitarbeitenden der Staatsanwaltschaft haben.» Dazu brauche es keine Einwilligung, vielmehr würden alle Personen dem Amtsgeheimnis unterstehen. Bouvard ergänzt: «Wird Journalisten oder anderen Dritten wie Praktikanten begründet Zutritt oder ein Einblick in die Arbeit der Staatsanwaltschaft ermöglicht, so sind sie selbstverständlich dem Amtsgeheimnis verpflichtet und dürfen ohne Zustimmung der Oberstaatsanwaltschaft nichts weitergeben oder ausstrahlen.» Dazu hätten sich das Fernsehen und der Journalist in einem schriftlichen Vertrag verpflichtet und eine entsprechende Geheimhaltungserklärung unterzeichnet.
Strafrechtsexperten können angesichts eines solchen Rechtsverständnisses nur staunen. Niklaus Ruckstuhl: «Ein Journalist kann nicht durch Vereinbarung mit der Staatsanwaltschaft quasi aufgrund bilateraler Absprache unter das Amtsgeheimnis gestellt werden.» Grund: «Die Verletzung des Amtsgeheimnisses ist ein Sonderdelikt.» Demnach könnten nur bestimmte Personen das Amtsgeheimnis verletzen – eben Staatsanwälte und ihre Mitarbeiter.
Strafverteidiger Konrad Jeker sagt: «Ohne Einwilligung der Beteiligten sind Persönlichkeitsrechte und das Amtsgeheimnis tangiert.» Er kritisiert: «Die gefilmten Szenen hätten auch mit Schauspielern nachgestellt werden können. Es war unnötig, in laufenden Fällen zu filmen. Ich kann mir keinen Fall vorstellen, in dem ich als Verteidiger eines Beschuldigten das akzeptieren würde.»
Auch laut Alain Joset braucht es die Einwilligung aller Beteiligten – sowohl für das Filmen wie auch für die Aktenherausgabe an den Journalisten. Der Anwalt sagt: «Ich würde an einem derart einseitigen Projekt nicht mitmachen, schon gar nicht, wenn ich überrascht würde.»