Seine neue Aufgabe in Pristina hatte sich Gabriele Meucci ganz anders vorgestellt. Als Chef der grössten aussenpolitischen Mission aller Zeiten der Europäischen Union sollte der langjährige italienische Diplomat die Behörden des Kosovo beim Aufbau einer funktionsfähigen Verwaltung unterstützen. Sprich: Er sollte die lokalen Richter und Staatsanwälte für den Kampf gegen organisierte Kriminalität, Korruption und Machtmissbrauch motivieren und sie vor Drohungen schützen. Ausserdem sollte er den örtlichen Polizisten mit Rat und Tat zur Seite stehen.
Kaum gelandet und schon massiv in der Kritik
Doch kaum war Meucci im letzten Herbst auf dem Flughafen Pristina gelandet, hagelte es schwerwiegende Vorwürfe gegen Eulex, so das Kürzel der EU-Mission, die im Kosovo etwa 2000 internationale und lokale Mitarbeiter beschäftigt.
Zuerst berichteten einheimische Medien über Eulex-Angehörige, die in Korruptionsaffären, Intrigen und manipulierte Gerichtsurteile verwickelt seien. Später zogen internationale Medien nach. Meucci sagte kürzlich in einem Interview, er habe angesichts dieser Beschuldigungen zunächst seine Koffer gar nicht ganz ausgepackt. Angeblich spielte er mit dem Gedanken, der EU-Mission in Kosovo gleich wieder den Rücken zu kehren.
Inzwischen hat er es sich anders überlegt. Der Eulex-Chef will bleiben und meldet sich mit zunehmend aggressiven Kommentaren zu Wort. Die internationalen Richter hätten innerhalb von sechs Jahren fast 600 Urteile gesprochen und auch mehrere Politiker angeklagt, so Meucci. Man könne aber nicht erwarten, dass seine Mitarbeiter jeder Unterstellung der Presse nachgehen würden. Dieser Ton sorgte für Irritationen. Gar Proteste löste der Versuch von Eulex-Verantwortlichen aus, einen investigativen Reporter der unabhängigen Tageszeitung «Koha Ditore» mundtot zu machen – auch von Journalistenorganisationen wie «Reporter ohne Grenzen».
Ein unabhängiger Experte hat die Vorwürfe gegen Eulex unter die Lupe genommen. Der französische Rechtsprofessor Jean Paul Jacqué fand keine Beweise dafür, dass sich Eulex-Mitarbeiter von der einheimischen Politmafia bestechen liessen. Die EU-Zentrale in Brüssel und die Rechtsstaatsmission im Kosovo nahmen den Bericht von Jacqué mit Erleichterung auf.
Doch dafür gibt es keinen Anlass. Denn der Report hält auch klar fest, dass das Engagement der EU im Kosovo das Ziel verfehlt hat. Die Grundübel Korruption, Nepotismus und Missmanagement bestünden weiterhin, obwohl seit der Stationierung von Eulex im Jahr 2008 etwa 10 000 Experten im Einsatz waren, um dem jungen Staat auf die Beine zu helfen. Jacqué schreibt diplomatisch: «In seiner derzeitigen Verfassung ist das Justizwesen des Kosovo offenbar weiterhin nicht in der Lage, den Aufgaben gerecht zu werden, die sich durch Korruption und damit verknüpfte organisierte Kriminalität stellen.»
Die Eulex-Mission hat den EU-Steuerzahler bisher über eine Milliarde Euro gekostet. An der Mission ist auch die Schweiz beteiligt – vor allem mit Menschenrechts- und Dezentralisierungsexperten.
Enge Zusammenarbeit mit korrupten Politikern
In einem kürzlich erschienen Buch über das Scheitern der internationalen Gemeinschaft kommt der italienische Kosovo-Experte Andrea Capussela zu einem vernichtenden Urteil der Eulex-Mission: «Die schwache Leistung und die schwerwiegenden Fehler von Eulex führten dazu, dass die kriminellen Elemente der Kosovo-Elite fest im Sattel sitzen.» Eulex habe ihnen indirekt geholfen, die Kontrolle über das Land zu festigen.
An Beispielen für eine fatale Kooperation der Eulex mit vermutlich korrupten oder unfähigen einheimischen Politikern fehlt es nicht. Man arbeitete zum Beispiel eng mit Justizminister Hajredin Kuçi zusammen, obwohl dieser nachweislich Ermittlungen gegen korrupte Politiker behinderte. Ende 2010 anerkannte die EU die Parlamentswahlen im Kosovo trotz Manipulationen «im industriellen Ausmass», wie es ein westlicher Diplomat damals formulierte.
Die Wahlfälscher waren bekannt: führende Politiker der Demokratischen Partei (PDK) des damaligen Ministerpräsidenten und heutigen Aussenministers Hashim Thaçi. Doch der frühere Politkommissar der kosovarischen Befreiungsarmee UÇK hatte so viel Macht angehäuft, dass er als Garant für die Stabilität angesehen wurde. Brüssel, Washington und Berlin hofierten ihn.
Fortgesetzt wurde die Zusammenarbeit auch mit dem Innenminister, einem PDK-Kader, obwohl mehrere seiner Untergebenen von einem österreichischen Unternehmen über eine Million Euro kassierten, damit dieses den Auftrag bekam, die biometrischen Pässe für kosovarische Bürger zu produzieren. Dieser Skandal führte dazu, dass mehrere Schengen-Staaten sich bis heute weigern, den Visumszwang für Kosovaren aufzuheben.
Die EU-Mission hatte nach der Stationierung im Jahr 2008 grossspurig eine gnadenlose Kampagne gegen kriminelle Politiker angekündigt. Man werde «die grossen Fische» dingfest machen, versprach ein Eulex-Staatsanwalt. Daraus wurde nichts. Es gelang den westlichen Protektoren nicht einmal, Zeugen von Kriegsverbrechen zu schützen. Diese wurden bedroht und öffentlich als Verräter an den Pranger gestellt. Ein geschützter Zeuge beging in Deutschland Selbstmord. Laut einem Bericht des Europarats werden Zeugen mutmasslicher Kriegsverbrechen im Kosovo häufig eingeschüchtert.
Enge Beziehungen zu Frankreichs Geheimdienst
Von 2008 bis 2012 wurde Eulex von ehemaligen französischen Generälen geleitet, die laut Diplomaten praktisch keine Erfahrung mit zivilen Aufgaben hatten. Dafür verfügten sie über Erfahrungen mit Putschversuchen in Afrika und mit Geheimdienstaktionen ausserhalb Frankreichs. In Pristina ist es ein offenes Geheiminis, dass Thaçi und seine Vertrauten schon während des Unabhängigkeitskrieges enge Beziehungen zum französischen Geheimdienst pflegten. Dass Eulex unter der Leitung von französischen Generälen überhaupt kein Interesse hatte, die Hauptschuldigen für die Missstände im Kosovo zur Verantwortung zu ziehen, überrascht deshalb nicht.
Vernichtendes Fazit von Politologe Shkelzen Gashi
Die Folgen dieser Politik sind laut politischen Beobachtern in Pristina verheerend. Dutzende Morde sind bisher nicht aufgeklärt, die nach dem Krieg vermutlich von der UÇK an politischen Rivalen verübt worden waren. Die Befehlshaber sitzen möglicherweise im Parlament und kommen aus den Reihen von Thaçis Partei.
Der Politologe Shkelzen Gashi sagt: «Seit dem Kriegsende vor 15 Jahren ist der Westen voll im Bild über die Machenschaften der UÇK-Führer. Viele von ihnen sind in Kriegsverbrechen verwickelt. Andere haben sich mit verbrecherischen Methoden die wenigen Wirtschaftszweige unter den Nagel gerissen. Die ungehobelten Habenichtse von einst sind heute die neuen Millionäre des Kosovo. Die internationale Gemeinschaft hat sie gewähren lassen, weil sie nur an politischer Stabilität interessiert war. So hat der Westen aus pragmatischen und zynischen Erwägungen einen Pakt mit kriminellen und einflussreichen Politikern geschlossen.»
Anders gesagt: Reformwillige Kräfte in der Zivilgesellschaft wurden von den EU-Bürokraten zwar gelobt, aber nicht wirklich unterstützt.
Kapitulation der Eulex im Norden des Kosovo
Gescheitert ist die EU-Mission auch im Norden des Kosovo, wo etwa 50 000 Angehörige der serbischen Minderheit leben. Jahrelang lieferten sich dort militante Gegner der Unabhängigkeit ein Katz-und-Maus-Spiel mit Nato-Soldaten und Eulex-Mitarbeitern, kontrollierten den Schwarzmarkt und arbeiteten auch mit albanischen Unterweltkönigen zusammen. Im Sommer 2013 wurde im Hinterland der zwischen Serben und Albanern geteilten Stadt Mitrovica ein Eulex-Zöllner erschossen. Die Mörder sind bisher nicht gefasst.
Zwei Jahre zuvor erschossen vermutlich serbische Terroristen einen kosovarischen Polizisten. Dass die grösste EU-Mission vor diesen Provokateuren kapitulierte, machte sie bei den Angehörigen der albanischen Bevölkerungsmehrheit nicht gerade beliebt.
Als Erfolg kann die EU-Justiz dagegen das Vorgehen gegen eine Bande von Ärzten verbuchen, die in einer Klinik unweit von Pristina illegale Organtransplantationen vornahmen: Die Mediziner wurden zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt.
Das Thema wird bald auch die Staatsanwälte und Richter eines internationalen Sondergerichts beschäftigen. Dass es dazu kommt, ist ein Verdienst eines Schweizer Politikers: Der frühere FDP-Ständerat Dick Marty hatte im Auftrag des Europarats einen Bericht verfasst über den mutmasslichen Organhandel durch hochrangige UÇK-Kommandanten. Er kam zum Schluss, dass Thaçi und Konsorten sich grausamer Kriegsverbrechen an Zivilisten ethnischer Minderheiten – vor allem Serben und Roma – schuldig gemacht hätten.
Thaçi hatte Martys Bericht damals als Erfindung aus dem Reich der Fantasie bezeichnet und den FDP-Mann mit dem Nazi-Propagandaminister Joseph Goebbels verglichen.
Eulex will nur noch das Gesicht wahren
Nun gibt sich der frühere UÇK-Führer betont staatsmännisch, er spricht auch nicht mehr davon, Marty juristisch zu verfolgen, wie er einst grossspurig angekündigt hatte. Inzwischen ist ein US-Ankläger im Auftrag der EU den Vorwürfen im Marty-Bericht nachgegangen. John Clint Williamson ist überzeugt, dass es genügend Beweise gibt, um mehrere ehemalige hochrangige UÇK-Kommandanten anzuklagen. Die Prozesse sollen in Den Haag stattfinden.
Korrupte Politiker und mutmassliche Kriegsverbrecher an den Schaltstellen der Macht, die sich bereichern, wichtige Wirtschaftszweige kontrollieren und Staatsunternehmen für ihre Interessen verhökern – das ist die düstere Realität im Kosovo. Und mitten in diesem Nebel tappt eine hilflose EU-Mission, die nur noch den gesichtswahrenden Abzug aus dem Balkanstaat will. Man werde keine grösseren Fälle mehr juristisch verfolgen, sagte Meucci kürzlich.
Im Verhältnis zur Einwohnerzahl ist Kosovo der grösste Empfänger von EU-Hilfen. Doch die Gelder versickern. Die Folgen sind fatal: In den vergangenen Monaten flüchteten über 50 000 Kosovaren nach Westeuropa. Sieben Jahre nach der Unabhängigkeit macht sich ein Gefühl von Ernüchterung breit: Ein eigener Staat ist kein Allheilmittel gegen Armut, marode Infrastruktur, Umweltverschmutzung, Stromausfälle und Korruption.
Noch immer stehen die Kosovaren vor der gewaltigen Aufgabe, einen funktionsfähigen Staat aufzubauen. Die EU kann dabei helfen, beraten, unterstützen. Die Hauptlast müssen aber die Bürger Kosovos tragen. Es ist ihr Staat.