Schuldner können die Konkurseröffnung beantragen, indem sie sich beim Gericht als zahlungsunfähig erklären. Artikel 191 des Schuldbetreibungs- und Konkursgesetzes bestimmt: «Der Richter eröffnet den Konkurs, wenn keine Aussicht auf eine Schuldenbereinigung nach den Artikeln 333 ff. besteht.» Das heisst: Schuldner müssen nur den Nachweis erbringen, dass bei ihnen eine Schuldensanierung nicht möglich ist. Mehr ist nicht nötig.
Doch das Bundesgericht begann vor sieben Jahren, eine weitere Voraussetzung ins Gesetz hineinzulesen. Am 14. Januar 2015 entschied es, eine Insolvenzerklärung eines privaten Schuldners sei rechtsmissbräuchlich, wenn er über keine verwertbaren Aktiven verfügt, die er an seine Gläubiger verteilen könne (Urteil 5A_915/2014).
Das Bundesgericht bestätigte diese Ansicht ein Jahr später am 14. März 2016, indem es einem Mann mit fast 350 000 Franken Schulden, aber ohne Vermögen, den Privatkonkurs verweigerte (Urteil 5A_78/2016).
Entscheid gehörte zu den Fehlurteilen des Jahres
Die beiden Urteile stiessen in Fachkreisen auf Unverständnis. «Die Entscheide sind schlicht und einfach gesetzeswidrig», kritisierte etwa der Berner Anwalt Dominik Gasser gegenüber der Zeitschrift «Beobachter». Gasser betreute während zwanzig Jahren den Fachbereich SchKG im Bundesamt für Justiz. Das Bundesgerichtsurteil aus dem Jahr 2016 schaffte es in die plädoyer-Rubrik «Fehlurteile 2016» und erreichte dort den zweiten Rang (plädoyer 1/2017). Als «gesetzes- und zweckwidrig», «nicht praktikabel» sowie «realitätsfremd» bezeichnete die dreiköpfige plädoyer-Jury das Urteil. Sie bestand aus den Professoren Roland Fankhauser (Universität Basel), Christof Riedo (Universität Freiburg) und Bernhard Rütsche (Universität Luzern).
Bei strenger Auslegung keine Privatkonkurse mehr
Trotz der Kritik aus Fachkreisen bestätigte das Bundesgericht ein gutes Jahr später, am 26. September 2019, seine «ständige Rechtsprechung» (Urteil 5A_433/2019). Es sagte aber nicht, wie viele Aktiven vorhanden sein müssten, damit ein Schuldner den Privatkonkurs verlangen kann.
In den meisten Fällen besitzen überschuldete Leute keine Vermögenswerte mehr, die man an die Gläubiger verteilen kann. Bei einer strengen Anwendung der bundesgerichtlichen Kriterien würde es in der Folge keine Privatkonkurse mehr geben. Doch die Zahlen des Bundesamtes für Statistik belegen das Gegenteil. Zwar kam es nach dem ersten Bundesgerichtsurteil im Jahr 2015 zu einem Rückgang der Privatkonkurse von 1296 auf 1169 Fälle. Doch in den letzten beiden Jahren waren es wieder 1393 (2020) und 1341 (2021) – der zweit- und vierthöchste Wert seit Erhebung der Daten.
Das bedeutet, dass viele kantonale Gerichte dem Bundesgericht nicht folgen. plädoyer befragte im April erstinstanzliche Gerichte in allen Deutschschweizer Kantonen (siehe Tabelle im PDF).
Unterschiedliche Kriterien in den Kantonen
Die Gerichte sollten sagen, ob sie der Bundesgerichtspraxis folgen und – wenn ja – wie viel Vermögen der Schuldner haben muss, damit er seinen Gläubigern eine minimale Konkursdividende anbieten kann, ohne dass die Insolvenzerklärung als rechtsmissbräuchlich bewertet wird. Alle 21 angefragten Gerichte gaben Auskunft. Elf davon folgen dem Bundesgericht nicht. «Die unsägliche bundesgerichtliche Praxis wird nicht angewendet und ist meiner Meinung nach ein Missverständnis», sagt Philipp Annen, Richter am Regionalgericht Plessur GR. Vier Gerichte folgen dem Bundesgericht, etwa die Richter am Kreisgericht Sargans SG: Sie verweigern vermögenslosen Schuldnern den Privatkonkurs. Dies im Gegensatz zu ihren Kollegen in der Stadt St. Gallen.
Speziell ist auch die Situation am Zivilkreisgericht Basel-Landschaft West. Bis Mitte 2020 ignorierte das Gericht die Ansicht des Bundesgerichts. Dann wurde ein neuer Gerichtspräsident gewählt. Mit ihm kam es zur Praxisänderung zuungunsten der Schuldner.
Nur zwei Gerichte mit fixen Mindestvorgaben
Drei Gerichte wie zum Beispiel das Bezirksgericht Luzern entscheiden «im Einzelfall», ob sie den Konkurs gewähren oder verweigern. Das Zivilkreisgericht Basel-Landschaft Ost und das Bezirksgericht Frauenfeld haben noch keine Praxis, weil sich die aufgeworfene Frage bis jetzt noch nie gestellt habe.
Konkrete Angaben, wie viel Vermögen der Schuldner haben muss, damit die Insolvenzerklärung nicht als rechtsmissbräuchlich bewertet wird, konnten nur zwei Gerichte machen: Das Kantonsgericht Appenzell Ausserrhoden fordert eine Konkursdividende von mindestens 1 bis 5 Prozent, das Kreisgericht Sargans verlangt mindestens 3 bis 5 Prozent. Andere Gerichte nannten keinen fixen Betrag (Bezirksgerichte Aarau und Schwyz) oder sie haben noch keine Praxis (Zivilkreisgericht Basel-Landschaft West).
Restschuldbefreiung für hoffnungslos Verschuldete
Im März 2018 publizierte der Bundesrat einen Bericht mit Vorschlägen für ein Sanierungsverfahren für Privatpersonen. Darauf verlangte der jurassische SP-Ständerat Claude Hêche mit einer Motion, dass der Bundesrat die Einführung einer Restschuldbefreiung prüft. Der Aargauer Grünliberale Beat Flach forderte im Nationalrat, dass der Bundesrat verschiedene Varianten des Sanierungsverfahrens für Privatpersonen untersucht und dann dem Parlament einen konkreten Vorschlag unterbreitet (plädoyer 5/2018). Beide Motionen wurden 2019 angenommen. Der Bundesrat setzte eine Expertengruppe zur Ausarbeitung einer Vorlage ein. Die Arbeiten sind inzwischen abgeschlossen. «Wir gehen davon aus, dass die Vernehmlassung zum Vorentwurf noch im zweiten Quartal eröffnet werden kann», kündigt Sonja Maire vom Bundesamt für Justiz gegenüber plädoyer an.