Ein Schweizer Richter oder ein Staatsanwalt macht sich im Strafverfahren primär anhand der Akten ein Bild des Geschehens. Die Neuenburger Strafrechtsprofessorin Nadja Capus sagt: «Es ist wichtig, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es eine Aktenwirklichkeit gibt» (plädoyer 2/2016). Die Professorin analysierte bereits 2011 in den Archiven der Gerichte und Staatsanwaltschaften mehr als tausend Protokolle. Das Resultat: «Die Akten haben eine enorme Gestaltungskraft. Das gilt erst recht für die Einvernahmeprotokolle. Überspitzt ausgedrückt: Man macht mit ihnen den Fall», so Capus.
Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt
In Verwaltungsverfahren spielen Akten eine ebenso zentrale Rolle. Das gilt auch für das Sozialversicherungsrecht. Die mit der Durchführung betrauten Organe und Stellen klären die Sachverhalte, die einen Anspruch begründen, vermindern oder aufheben, von Amtes wegen ab. Unter anderem mittels Urkunden, Auskünften der versicherten Person und Gutachten. Die Abklärungen und Feststellungen sind aktenkundig zu machen.
In der Realität ist das laut Rechtsanwälten längst nicht immer so. Beispiel: Der Luzerner Rechtsanwalt Reto von Glutz wehrte sich vor dem Obwaldner Verwaltungsgericht gegen den Rentenbescheid der IV-Stelle. Er beanstandete, das Amt habe die Audioprotokolle aus den Begutachtungen zu seiner Mandantin nicht zu den Akten genommen. Deshalb seien die gesetzliche Abklärungspflicht und der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Ohne Erfolg. Auch das Bundesgericht wies die Beschwerde ab (Urteil 9C_376/2019 vom 10. September 2019). Die Tonaufnahmen seien praxisgemäss als interne Dokumente der Gutachtensstelle zu werten. Es liege kein Grund vor, die Aufnahmen beizuziehen. Die IV-Stelle habe den Anspruch auf rechtliches Gehör nicht verletzt. Anwalt von Glutz kritisiert: «Diese Praxis lässt den Eindruck entstehen, dass Durchführungsorgane der Invalidenversicherung Akten zusätzlich rein intern führen.» Abklärungen und Feststellungen einer Verwaltungsbehörde wie der IV-Stelle müssten aber offengelegt werden.
Was entscheidrelevant sein kann, gehört in die Akten
Der Zürcher Rechtsanwalt Roger Peter ortet das Problem beim Aktenbegriff selbst. In der Internetpublikation «Jusletter» forderte er eine Definition, was unter Akten zu verstehen ist. Das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) und das Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVG) würden den Begriff verwenden, ohne ihn zu definieren oder zu umschreiben.
Für Professor Felix Uhlmann von der Universität Zürich liegt die Aktenführung nicht im freien Ermessen der Behörden: «Sonst würde ja das Akteneinsichtsrecht als Teilgehalt des rechtlichen Gehörs ins Leere laufen.» Das Bundesgericht habe dies sehr schön für die Pflicht zur Protokollierung eines Augenscheins hergeleitet (BGE 142 I 86). Die gleiche Logik müsste laut Uhlmann auch auf die Pflicht zur Führung anderer Akten über wesentliche Entscheidgrundlagen gelten.
Das ATSG regelt die Aktenführung in Artikel 46: «Für jedes Sozialversicherungsverfahren sind alle Unterlagen, die massgeblich sein können, vom Versicherungsträger systematisch zu erfassen.» Das Bundesgericht konkretisierte, was die Verwaltung alles in der Akte festhalten muss: «Die Behörden haben alles in den Akten festzuhalten, was zur Sache gehört und entscheidwesentlich sein kann» (BGE 124 V 372). Dieser ursprünglich für das Strafverfahren entwickelte Grundsatz müsse als Gehalt von Artikel 29 Absatz 2 der Bundesverfassung (rechtliches Gehör) für alle Verfahrensarten gelten. «Auch auf Tonträger registrierte Einvernahmen und Auskünfte sind oder können Beweismittel sein und gehören als solche in die Akten», heisst es in BGE 130 II 473 ausdrücklich. Der Fall betraf die Personensicherheitsprüfung eines Stellenbewerbers.
Ueli Kieser, Professor für Sozialversicherungsrecht in St. Gallen, hält in seinem ATSG-Kommentar fest, dass sich die Aktenführungspflicht auch auf verwaltungsintern erstellte Berichte und Gutachten erstreckt. Dazu würden Stellungnahmen von ärztlichen Diensten, Vertrauensärzten oder sonstigen internen Spezialisten gehören (BGE 115 V 303). Eine Festhaltepflicht sehe etwa Artikel 49 Absatz 2 Satz IVV für die regionalen ärztlichen Dienste der IV-Stellen vor.
Neue Bestimmungen sind ungenügend
Als weitere Aktenführungspflicht nennt Kieser unter anderem auch die Ergebnisse einer Abklärung wie etwa beigezogene Akten, angeforderte Berichte und Gutachten, Telefonnotizen oder Protokolle. Kieser beurteilt die «Massgeblichkeit» im Sinn von Artikel 46 ATSG somit nicht nach Ermessen des Sozialversicherungsträgers, sondern nach der objektiven Bedeutung eines Aktenstücks. Die Massgeblichkeit müsse nicht bereits in demjenigen Zeitpunkt feststehen, in welchem sich die Frage nach der aktenmässigen Erfassung der Tatsache als Akte stellt. Vielmehr sei relevant, dass sich die Massgeblichkeit ergeben könne. Daher sei grundsätzlich jede Unterlage (auch sogenannte interne Unterlagen) in die Akten aufzunehmen. Es sei denn, die Unterlage diene ausschliesslich der internen Meinungsbildung.
Bis vor kurzem enthielt die Verordnung über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSV) keine Bestimmungen, wie die in Artikel 46 ATSG auf Gesetzesstufe verankerten Aktenbildung, Aktenordnung sowie Aktenaufbewahrung ausgeführt werden müssen. Das hätte sich mit der seit Oktober in Kraft getretenen Revision der ATSV eigentlich ändern sollen. Und zwar mit neuen Bestimmungen zur Aktenführung (Artikel 8 ATSV), Aktenaufbewahrung (Artikel 8a) und Aktenvernichtung (Artikel 9a).
Doch Peters «Jusletter»-Beitrag zur Aktenführungspflicht im Sozialversicherungsrecht macht klar, dass diese neuen Bestimmungen für die Praxis nicht viel bringen. Peter: «Die Bestimmungen sind mangelhaft, weil sie die Aktenbildung, -ordnung, -aufbewahrung und -vernichtung nicht, nicht ausreichend klar oder gar verfassungswidrig regeln.»
Gemäss Kieser müssen die Akten nach Artikel 46 ATSG systematisch erfasst werden. Dies setzt voraus, dass die Aktenführung nach festgelegten, allgemeinen, sachgerechten und zweckmässigen Kriterien erfolgen muss, sodass nachvollzogen werden kann, wie die Sachverhaltsabklärung erfolgte und die Entscheidfindung verlief. Roger Peter: «Gemäss Rechtsprechung sind die eingebrachten und erstellten Akten vollständig und systematisch zu führen.» Der neue Artikel 8 Absatz 1 ATSV verlange aber lediglich, dass die Akten systematisch und chronologisch geordnet zu führen seien. Das sei ungenügend und verletze die Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns und der daraus fliessenden rechtsstaatlichen Aktenführungsprinzipien. Die Verordnung versäume es, Minimalstandards festzuhalten.
Minimalstandards in der Verordnung nötig
Das Bundesgericht verlangt grundsätzlich, dass ein Aktenverzeichnis erstellt wird, das eine chronologische Auflistung sämtlicher in einem Verfahren gemachten Eingaben enthält: «Das Aktenverzeichnis hat aus einer Laufnummer, der Anzahl Seiten jedes erfassten Dokumentes, dem Eingangsdatum des Dokumentes, einer Dokumenten-ID sowie einer kurzen Beschreibung der Art oder des Inhalts eines Dokumentes zu bestehen.»
Roger Peter fordert: «Diese bundesgerichtlichen Anforderungen an ein Aktenverzeichnis gehören als Minimalstandard in die Ausführungsverordnung.»
Wie können die aktuellen Defizite behoben werden? Peter schlägt vor, sämtliche relevanten Aspekte der Aktenführung (Begriffsdefinitionen, Aktenbildung, -ordnung, -aufbewahrung und -vernichtung) für sämtliche Durchführungsorgane in einer bundesrätlichen Vollziehungsverordnung rechtsstaatlich korrekt zu regeln. Geboten sei dabei aus Gründen der Verpflichtung der Verwaltung zur Neutralität, sämtliche relevanten Interessensgruppen in den Prozess einzubeziehen. Also neben einem Vertreter der Versicherungslobby auch einen Vertreter der Geschädigtenvertreter.