Noch wird in der Schweiz angezweifelt, dass an den Universitäten Anwaltsethik, Anwaltsrecht und Standesrecht gelehrt werden muss. Doch diese Fächer sind heute unumgänglich. Auch anderswo wurde sie erst vor kurzem in den Lehrplan des Rechtsstudiums aufgenommen – und erst nach emotionalen Diskussionen.
Daran erinnert sich beispielsweise Marie-Claude Rigaud, Professorin an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Montreal (Kanada), in einem Aufsatz («De l’orphelin à l’enfant prodigue: l’enseignement de l’éthique et du professionnalisme dans les facultés de droit canadiennes», in Moore / Piche / Rigaud «L’avocat dans la cité: éthique et professionnalisme», Montréal 2012). Sie geht darin davon aus, dass dieser «historische Widerstand davon herrührt, dass mehrere Generationen von Anwälten sich entweder ethischer Probleme nicht bewusst waren oder aber sich weder für diese noch für ihre möglichen Lösungen interessierten». Rigaud führt dies auf eine Identitätskrise des Anwaltsstandes zurück, «die einige auf das Abbröckeln des Respekts gegenüber ethischen Standards zurückführen». In ihrem Aufsatz erwähnt sie auch «einen Abbau der Wahrnehmung der Juristen als Berufsstand mit ethischen Werten».
Der Europäische Anwaltsverband «Fédération des Barreaux d’Europe» hat 2008 im englischen Torquay eine «Resolution zur Anwaltsausbildung im Berufs- und Standesrecht» angenommen (nachzulesen auf www.fbe.org). Sie ruft die Mitglieder auf, «in ihren Staaten die grosse Bedeutung der Berufs- und Standesregeln» hervorzuheben. Dies insbesondere, indem sie dafür sorgen, dass «in den Rechtsfakultäten ihrer Staaten die Ausbildung in Berufs- und Standesregeln einen festen Platz während des ganzen Studiums einnimmt».
In der Schweiz ist diese Diskussion relativ neu. Der Anwaltsberuf – der wie viele andere freiberufliche Tätigkeiten stark der Selbstregulierung unterstellt ist – wurde bis vor kurzem grösstenteils durch die kantonalen Anwaltsverbände geregelt. Es gab lange nicht sehr viele Anwälte und der Beruf war ziemlich einheitlich. Doch in den letzten Jahren hat sich dies drastisch geändert. So ist das Bundesgesetz vom 23. Juni 2000 über die Freizügigkeit der Anwälte (BGFA) in Kraft getreten. 2005 sind die Standesregeln angenommen worden und gelten für alle Mitglieder des Schweizerischen Anwaltsverbandes (SAV). Und die Zahl der Anwälte ist explodiert: Laut SAV von 7056 im Jahre 2004 auf 9319 im Jahr 2014. Zudem hat sich der Beruf stark verändert, da er stark diversifiziert wurde.
In Anbetracht dieser neuen Berufslandschaft haben die Universitäten reagiert und mancherorts Vorlesungen in Standesrecht und Anwaltsethik eingeführt. So wurde beispielsweise an der Universität Genf 2011 die Anwaltsschule eröffnet, an der Universität Lausanne gibt es seit 2012 einen Kurs in Anwaltsethik und Standesrecht und auch in Neuenburg wird ein Kurs im Anwaltsrecht angeboten.
Es gibt einen einfachen und offensichtlichen Grund, weshalb das Anwaltsrecht an unseren Rechtsfakultäten gelehrt werden sollte: Es handelt sich um ein Rechtsgebiet. Das BGFA, das aufgrund von Bestrebungen des SAV (siehe plädoyer 1/13, 3/13) und einer parlamentarischen Motion allenfalls bald durch ein neues Gesetz über den Anwaltsberuf ersetzt werden soll, ist keineswegs die einzige Rechtsquelle zu diesem Thema. Verschiedene internationale Gesetze wie die europäische Menschenrechtskonvention oder das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU, aber auch die Bundesverfassung, das Binnenmarktgesetz, das Bundesgerichtsgesetz, das Strafgesetz, die Strafprozessordnung, das Obligationenrecht, die Zivilprozessordnung oder das Geldwäschereigesetz finden zusätzlich zum BGFA Anwendung. Hinzu kommen noch kantonale Gesetze.
Die verschiedenen Rechtsquellen haben eine üppige Rechtsprechung verursacht. So hat allein das Bundesgericht mehrere Hundert Entscheide in diesem Bereich gefällt. Auf Französisch haben die beiden Rechtsprofessoren François Bohnet und Vincent Martenet im Jahr 2009 eine Zusammenstellung von 1622 Seiten über das Recht des Anwaltsberufs herausgegeben. Für die Deutschschweiz kann dazu Walter Fellmanns Werk «Anwaltsrecht» (2010) genannt werden. Weitere Literatur erscheint regelmässig.
Deshalb ist es schwer verständlich, weshalb dieser Rechtsbereich von den Universitäten nicht beachtet wird. Es wäre zu einfach, sich auf den Standpunkt zu stellen, dass es Aufgabe der Berufsverbände ist, diesen zu vermitteln. So verlangt man von einem zukünftigen Anwalt, dass er das Recht derjenigen kennt, die er später beraten soll – so beispielsweise das Recht eines Kunden gegenüber seinem Architekten oder Handwerker. Doch das Recht seiner eigenen Branche muss er nicht kennen. Weshalb haben bäuerliches Bodenrecht, Mediation oder Luftverkehrsrecht mehr Berechtigung auf einen Platz an unseren Rechtsfakultäten als das Anwaltsrecht? Indem man dieses Rechtsgebiet weglässt, bildet man wissentlich und willentlich künftige Berufsleute aus, welche die Grundlagen ihrer Arbeit nicht kennen.
Der Anwaltsberuf wurde in den letzten Jahren sehr diversifiziert. Viele Anwälte sind kaum noch vor Gericht aktiv. Dies hat dazu verleitet, die anwaltliche Tätigkeit wie irgendeine andere Wirtschaftsaktivität zu betrachten. Dies führt dazu, dass die Rolle des Anwalts für das Funktionieren von Justiz und demokratischer Gesellschaft vernachlässigt wird. Die Rolle des Anwalts als «Diener des Rechts» und «Mitarbeiter der Rechtspflege», wie sie das Bundesgericht in BGE 106 Ia 100 definiert und seither verschiedentlich bestätigt hat, wird damit zu einem Beiwerk.
Doch auch heute noch ist es nicht das Gleiche, ob man Anwalt ist oder ob man Telefone verkauft, Kosmetikbehandlungen oder andere Dienstleistungen anbietet. Der Anwalt bleibt eine Säule der Demokratie, ein Garant des Rechtsstaates, ein Gegengewicht zu den Behörden.
Wenn eine Nichtregierungsorganisation oder der Europarat in einem Land den Zustand der Demokratie untersucht, interessieren sie sich zuerst für den Stand der Pressefreiheit und den Zustand der Anwaltschaft. Dies berichtet der französische Jurist und Journalist Basile Ader in «Avocats. Le Verbe et la Robe». Deshalb ist es im Interesse aller, diesen Auftrag der Anwaltschaft zu erhalten. In diesem Zusammenhang bleibt die Feststellung des Bundesgerichts aus einem Urteil vom 18. Oktober 1986 (publiziert in RDAF 1986, Seite 157, Erwägung 2b) aktuell, gemäss welcher «der Beruf des Anwalts mit keiner anderen Wirtschaftsbranche vergleichbar» ist und «die Institution des Anwaltsberufs einer Notwendigkeit entspricht und im allgemeinen Interesse existiert».
Aus diesem Grund richten sich viele Rechtsgrundsätze, die im öffentlichen Interesse stehen, an die Anwälte. Insbesondere solche aus dem Strafgesetzbuch (so Artikel 84 oder 321), dem Strafprozessrecht (so Artikel 127 ff, 147, 159, 171, 264) oder Zivilprozessrecht (so Artikel 68, 160, 166). Dasselbe gilt für Grundrechte aus dem Bereich der EMRK oder der Verfassung. Weshalb sollten Rechtsstudenten diese spezielle Rolle der Anwälte nicht kennen? Weshalb sollten sie so wichtige Begriffe einer demokratischen Gesellschaft wie den Schutz der Berufssphäre, die Ausweitung der Meinungsäusserungsfreiheit, seine Vorrechte (Bundesgerichtsurteil 1B_445/2012 vom 8. November 2012, in «Anwaltsrevue» 2013, Seite 87 ff.) oder die Reichweite seines Berufsgeheimnisses (siehe BGE 136 III 296, BGE 135 III 597) oder seiner Sorgfaltspflicht (BGE 140 III 6) nicht lernen?
Zu einer umfassenden Ausbildung gehört aber nicht nur das Anwaltsrecht. Auch das Standesrecht sollte dazugehören. Nur schon um dessen historische Entwicklung zu verstehen oder seinen heutigen Stellenwert. Dies ist heute insofern wichtiger als früher, weil ein anwaltlicher Lehrmeister oft nicht mehr die gleich enge Beziehung mit seinem Anwaltspraktikanten hat wie früher und ihm diese Regeln oft nicht mehr vermittelt – sei es aus Zeitmangel, weil er nicht will oder nicht kann. Die Anwaltskanzleien sind grösser, es gibt mehr Praktikanten, die Rechtsnormen haben sich vervielfacht und sind komplexer geworden und die Arbeitsmittel haben sich verändert. Zudem hat sich auch die Konkurrenz innerhalb des Anwaltsberufes verstärkt.
Doch auch die Ethik des Anwaltsberufes sollte vermittelt werden. Denn diese hilft zu einem besseren Verständnis der Hintergründe und der Inhalte der Rechtsregeln und des Standesrechts. Ein künftiger Rechtspraktiker, der sich mit Ethik schon auseinandergesetzt hat, wird sich eher die richtigen Fragen stellen, bevor er seine oft folgenschweren Entscheidungen fällt. Solche Fragen helfen dem Studenten, Werte miteinander in Einklang zu bringen, die auf den ersten Blick unvereinbar wirken, und die Auswirkungen seines Verhaltens zu realisieren.
Es könne nicht die Aufgabe der Universitäten sein, zukünftige Anwälte in der Praxis ihres Berufes auszubilden, stellen die Genfer Anwälte Lionel Halperin und Sébastian Desfayes in einem Aufsatz fest («De la théorie du droit au métier d’avocat. Réflexions sur la formation», in Vincent Jeanneret / Olivier Hari, «Défis de l’avocat au XXIè siècle», Genf 2008, Seite 25 ff.). Doch wer die spezielle Rolle des Anwalts und die grosse Zahl der Rechtsquellen im Schweizer Recht berücksichtigt, die den Anwaltsberuf regeln, wird sich dieser Aussage nicht anschliessen können.
Dass nicht alle Studenten Anwälte werden, ist kein Grund, um dieses Thema nicht an der Alma Mater zu lehren. Denn ist es nicht auch unerlässlich für ein gutes Funktionieren der Justiz, dass zukünftige Richter auch die Rolle, die Rechte und Pflichten der Anwälte kennen, die vor ihnen plädieren werden? Dies gilt auch für Studenten, die zukünftig in der Verwaltung, der Privatwirtschaft, bei Banken oder anderen Firmen juristisch tätig sein werden. Anwälte werden oft ihre Ansprechpartner sein. Und auch zukünftige Anwälte, die nicht typische Anwaltstätigkeiten verrichten werden, sollten ein Basiswissen über die Regeln ihres Berufes und ihrer künftigen Aktivität haben und zum Beispiel die Anforderungen an das Berufsgeheimnis kennen oder jene, die sich aus dem Geldwäschereigesetz ergeben.
Wenn an der Rechtsfakultät Anwaltsethik gelehrt wird, darf dies aber nicht so stattfinden, wie man dies an einer Berufsschule tun würde. Universitäre Lehre muss zwar Theorie vermitteln, sie soll aber auch Akademiker ausbilden, die argumentieren und kritisch hinterfragen können. Wenn wir den Anspruch haben, dass Studenten die Welt im Allgemeinen und das vermittelte Fach im Besonderen auf einer bestimmten Höhe analysieren, dann ist die Universität der richtige Ort dafür.
Für die übrigen Inhalte der Anwaltsausbildung – zum Beispiel praktische Ausbildung für die Führung und Verwaltung einer Kanzlei oder Rhetorik – eignen sich andere Strukturen besser, insbesondere die Ausbildungen der kantonalen Anwaltsverbände. Deren Aufgabe ist es, für die Anwaltspraktikanten die universitäre Ausbildung zu ergänzen und ihren Mitgliedern Weiterbildungen anzubieten oder gar vorzuschreiben.
Oft heisst es, Anwaltsethik und Standesrecht eignten sich nicht für die universitäre Lehre. Weil dieses Fach am besten in kleinen Gruppen unterrichtet werde, die von Praktikern betreut werden. Doch das gilt genauso für andere Rechtsgebiete, die an Rechtsfakultäten gelehrt werden. Es stimmt, dass Ethik schwierig zu unterrichten ist, wenn nicht Kleingruppen gebildet werden können, die einen intensiveren Austausch ermöglichen. Das kann man in der Tat in Vorlesungssälen, die teilweise mehr als 150 Studenten fassen, nicht anbieten. Doch diese Problematik stellt sich auch für andere Fächer. Wenn die Universitäten nicht in der Lage sind, so wichtige Themen adäquat zu lehren, dann kann dies nichts anderes bedeuten, als dass sich die Rechtsfakultäten anpassen müssen.
Wenn Anwaltsrecht, Anwaltsethik und Standesrecht gelehrt werden, hat dies positive Auswirkungen. In erster Linie für die Gesellschaft, die sonst die Konsequenzen der Versäumnisse der Anwälte tragen müsste, und auf die demokratische Struktur, wenn die Rolle der Anwälte geschwächt wird. Die Gerichtsbarkeit wiederum wird von Praktikern profitieren, die seit ihrem Universitätsstudium dafür sensibilisiert sind, wie sich ein Jurist ethisch zu verhalten hat. Und schliesslich profitiert auch die Anwaltschaft, für die «die starke Bejahung der Ethik die beste Antwort auf das Risiko des Markts zu sein scheint» (Loïc Cadiet, «Le rôle social de l’avocat dans un contexte global», in Moore / Piche / Rigaud «L’avocat dans la cité», Montréal 2012, Seite 245).
Die Anwälte selbst werden besser ausgebildet sein, sie werden ihren Auftrag besser erfüllen und das Vertrauen der Öffentlichkeit besser bewahren können. Und schliesslich wird auch die akademische Welt profitieren von der Bereicherung durch ein weiteres Gebiet, in dem geforscht werden kann.