1. Doppelfunktion des Zürcher Statthalters
«Der Kanton Zürich wird in die Bezirke Zürich, Affoltern, Horgen, Meilen, Hinwil, Uster, Pfäffikon, Winterthur, Andelfingen, Bülach, Dielsdorf und Dietikon eingeteilt», so lautet § 1 Abs. 1 des Zürcher Bezirksverwaltungsgesetzes (BezVG) vom 10. März 1985. Gemäss § 2 BezVG sind Bezirksbehörden insbesondere die Bezirksräte und die Statthalterämter. Der Statthalter und die Mitglieder des Bezirksrats – die ordentlichen und die Ersatzmitglieder – werden an der Urne von den Stimmberechtigten des Bezirks nach mehr oder weniger stillschweigendem Parteiproporz gewählt.1 Die beiden zentralen Bezirksbehörden – die Statthalter und die Bezirksräte – haben Kontroll- und Aufsichtsaufgaben sowie gewisse Rechtsmittelfunktionen.2
Die Bezirksräte sehen als ihre wichtigste Aufgabe an, die Gemeinden und anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften zu beaufsichtigen. Daneben obliegen ihnen Aufgaben in der Stiftungsaufsicht sowie der Aufsicht über Fürsorgebehörden, Heime und Spitex. Gleichzeitig sind die Zürcher Bezirksräte erste Rechtsmittelinstanz, vor allem in Gemeindesachen, bei Stimmrechtsstreitigkeiten in den Gemeinden und Zweckverbänden, in gewissen sozialen Streitigkeiten (Rückerstattung von wirtschaftlicher Sozialhilfe, Bevorschussung von Alimenten, Beiträge für die Kleinkinderbetreuung) sowie seit einigen Jahren gegenüber der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb).3 Das Besondere ist, dass der Statthalter im Bezirk auch Präsident des Bezirksrates ist – selbst dann, wenn dieser als Beschwerdeinstanz amtet. Die Webseite der Zürcher Bezirksräte gibt zu dieser Doppelfunktion in jedem Bezirk an: «so können die oft eng beieinander liegenden Aufgaben unkompliziert koordiniert werden» (sic!).4
Statthalteramt und Bezirksrat sind beide, um das noch zu unterstreichen, dezentrale Bestandteile der kantonalen Verwaltung in dem flächen- und bevölkerungsmässig grossen Kanton. Es sei aber schon hier darauf hingewiesen, dass die Zürcher Kantonsverfassung in Art. 80 Abs. 1 lit. c – separat von der Statthalterin oder dem Statthalter sowie dem Bezirksrat, die in lit. a und b genannt werden – von den «gerichtlichen Instanzen des Bezirks» spricht, deren Mitglieder die Stimmberechtigten im Bezirk wählen. Dies würde in den Bezirken sowohl in der Staats- und Verwaltungsrechtspflege (Stimmrechtsbeschwerde, Gemeindebeschwerden, Sozialverwaltungsrecht) wie im zivilrechtlichen Kindes- und Erwachsenenschutz die Einrichtung von erstinstanzlichen Verwaltungsgerichten, die von der Kantonsverwaltung unabhängig wären, möglich machen.
2. Risiko der Befangenheit
Im Rahmen der am 19. Dezember 2008 beschlossenen Neuordnung des Erwachsenenschutzes, Personenrechts und Kindesrechts im ZGB wurde vorgesehen, dass Entscheide der neu eingerichteten Erwachsenen- und Kindesschutzbehörde (Kesb), welche eine qualifizierte Fachbehörde sein muss (Art. 440 ZGB), beim zuständigen Gericht angefochten werden können (Art. 450 ZGB). Abs. 1 von Art. 450 ZGB lautet unmissverständlich: «Gegen Entscheide der Erwachsenenschutzbehörde kann Beschwerde beim zuständigen Gericht erhoben werden.»
Dazu hat der Bundesrat in der Botschaft vom 28. Juni 2006 zur entsprechenden Revision des ZGB festgehalten, dass mit «Gericht» nicht zwingend ein formelles Gericht gemeint sei. Die Beschwerdeinstanz müsse aber den Anforderungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 29a und 30 BV genügen.5 Damit könnten auch gewisse Verwaltungsbehörden Beschwerdeinstanzen sein, sofern sie die Anforderungen an ein «Gericht im materiellen Sinne» erfüllen.6 Anders als vom Zürcher Regierungsrat anfänglich konzipiert, wurde – nicht zuletzt auf Betreiben der Bezirksräte und Statthalter, welche ihre bisherigen Aufsichtsaufgaben beibehalten wollten – der Rechtsmittelweg gegen Entscheide der Kesb im Kanton Zürich an den Bezirksrat eingerichtet.7 Von diesem gibt es einen Instanzenzug ans Obergericht.8
Von Regierungsseite war bei Professor Georg Müller ein Gutachten angefordert worden. Dieser kam zum klaren Befund, dass der Bezirksrat in der heutigen Form «nicht als gerichtliche Beschwerdeinstanz im Sinne von Art. 450 Abs. 1 nZGB eingesetzt werden» könne.9 Dieser sei zwar von Gesetzes wegen in der Rechtspflege unabhängig. Es bestünden jedoch erhebliche Risiken der Befangenheit aufgrund verschiedener anderer administrativer Aufgaben – namentlich in seiner Funktion als Aufsichtsinstanz, zum Beispiel der Gemeindeaufsicht oder der Aufsicht über die Zweckverbände, welche Träger der Kesb sein werden, oder über die Fürsorgebehörden und die Heime. Damit seien Interessenkonflikte unvermeidlich. «Eine Behörde mit einer solchen Kombination von Verwaltungs- und Rechtsprechungsaufgaben erweckt eher den Anschein einer Verwaltungsbehörde als einer gerichtlichen Instanz.» Nur nach einem grundlegenden Umbau durch die Abtrennung aller einschlägigen exekutiven Aufgaben könnten die Bezirksräte, die ihrerseits ja der Direktion der Justiz und der Gemeinden unterstünden, die Funktion eines Gerichts nach Art. 450 Abs. 1 ZGB übernehmen.10
Wichtig ist zu wissen, dass das Zürcher Verwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung der Auffassung ist, dass die Bezirksräte des Kantons Zürich keine «Gerichte» im verfassungs- und menschenrechtlichen Sinne sind und insbesondere die Rechtsweggarantie nicht gewährleisten, weil sie, jedenfalls im Anwendungsbereich des Zürcher Verwaltungsrechtspflegegesetzes (VRG),11 die Anforderungen an ein Gericht nicht erfüllen.12 In der zweiten Auflage des Kommentars zum Zürcher Gesetz über den Rechtsschutz in Verwaltungssachen (Verwaltungsrechtspflegegesetz) wurde festgehalten, dass die Bezirksbehörden, namentlich die Bezirksräte und Statthalter, von vorneherein nicht zu den verwaltungsunabhängigen Justizbehörden zählen. Dies wird damit begründet, dass die Bezirksbehörden vor allem in Gemeindesachen und im Kindes- und Erwachsenenschutzrecht in derselben Sache sowohl als Rechtsmittelinstanz als auch als Aufsichtsinstanz gegenüber dem Regierungsrat und seinen Direktionen weisungsgebunden sein können.13
Im berühmt gewordenen Entscheid BGE 137 III 9814 befand allerdings das Bundesgericht, nachdem die Zürcher Rechtsmittelordnung zu Art. 450 ZGB angefochten worden war, dass bei genügender Beachtung der Anforderungen an eine unabhängige Beschwerdeinstanz die Bezirksräte sehr wohl die Aufgaben eines Gerichts nach ZGB wahrnehmen könnten.
Zwar sei es strittig, ob dem Zürcher Bezirksrat nicht dem äusseren Anschein nach die Unabhängigkeit als gerichtliche Beschwerdeinstanz fehle, doch «in der Rechtsprechung für den zivilrechtlichen Bereich» treffe das jedenfalls nicht zu, weil der Bezirksrat hier keine umfassenden Aufsichtsbefugnisse habe. Schliesslich sei auch zu berücksichtigen, dass das Obergericht kompetent sei, «alle Fragen tatbeständlicher und rechtlicher Natur zu untersuchen, die sich in Bezug auf den Einzelfall ergeben, und auch die Befugnis hat, die angefochtene Entscheidung aufzuheben».15 Dieses Urteil war ein Entscheid für den Status quo in den Zürcher Bezirken und wurde in der Literatur vorwiegend kritisch aufgenommen.16
3. Juristen in der Minderheit
Im Rahmen einer Stimmrechtsbeschwerde und einer sog. Gemeindebeschwerde (mit der die Verletzung von übergeordnetem Recht angefochten werden kann) im Bezirk Horgen, beide eingereicht im Herbst 2016, gaben mehrfache öffentliche Äusserungen des Präsidenten des Bezirksrates resp. Statthalters von Horgen zu den laufenden Verfahren Anlass, Überlegungen über die Befangenheit beziehungsweise die Unabhängigkeit des Vorsitzenden, der Mitglieder und des Gerichtsschreibers dieser Beschwerdeinstanz anzustellen.
Dabei zeigte sich, dass (jedenfalls gegenwärtig im April 2017) weder der Statthalter und Präsident des Bezirksrates Horgen noch die ordentlichen und Ersatzmitglieder eine juristische Ausbildung haben. Einzig der Gerichtsschreiber ist Jurist; er ist aber zudem noch Stellvertreter des Statthalters und wirkt mit in den Verfahren der Gemeindeaufsicht. Somit hat nicht nur der Statthalter-Präsident ex lege, sondern auch der Gerichtsschreiber (jedenfalls dieses Bezirks) eine Doppelfunktion.17 Darüber hinaus ist der Präsident des Bezirksrates und Statthalter von Horgen sogar noch Mitglied des Kantonsrates und dort Mitglied der Kommission «Staat und Gemeinden (STGK)», womit er sich auch politisch mit Fragen der Gemeindeaufsicht abgibt. Eine solche Ämterkumulation eines kantonalen Chefbeamten hat es wohl nicht einmal bei den Landvögten im Ancien Régime gegeben.18
Eine Durchsicht der Behörden der zwölf Bezirke des Kantons Zürich im Frühjahr 2017 ergibt folgende Feststellungen (siehe Tabelle): Nur in den Bezirken Zürich, Meilen und Winterthur sind die Mehrheit der Mitglieder der «gerichtlichen Beschwerdeinstanz» (in der Terminologie von Art. 450 ff. ZGB) Juristen.
Die Hälfte der Bezirke haben keine Juristin bzw. keinen Juristen als Vorsitzenden, die respektive der eigentlich die oberste juristische Fachperson im Bezirk sein müsste. In vier von diesen sechs Bezirken haben immerhin eine oder zwei Personen im Vizepräsidium eine juristische Ausbildung. In den Bezirksräten von Horgen und von Pfäffikon hat kein Mitglied juristische Fachkenntnisse! Frauen werden vor allem als Ersatzmitglieder gewählt. Nur einer der zwölf Zürcher Bezirksräte hat eine Frau als Vorsitzende, die übrigens fachlich gut qualifiziert ist. Dass ein wichtiges Rechtsprechungsorgan mit komplexen Aufgaben im Staats-, Verwaltungs- und Zivilrecht gar keine oder nur vereinzelt juristisch ausgebildete Mitglieder hat, wirft einige grundsätzliche Verfassungsfragen auf.
4. Blosse Laienjustiz unzulässig
Der Ausgangspunkt aller Überlegungen zu diesen Strukturen der erstinstanzlichen Rechtsprechung im Kanton Zürich ist klar: Das Bundesgericht hat am 15. November 2007 in einem Beschwerdefall betreffend eine sachenrechtliche Streitigkeit vor dem Thurgauer Bezirksgericht Münchwilen, an dem kein ausgebildeter Jurist mitgewirkt hat, entschieden: «Es besteht kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf einen juristisch gebildeten Richter» (BGE 134 I 15). Begründungsweise hielt das Bundesgericht vor allem fest, dass das Laienrichtertum auf der Ebene der erstinstanzlichen Gerichte in der Schweiz noch recht verbreitet sei und dass sich der vorsitzende Richter ja in der Verfahrensleitung bei verfahrensrechtlichen Schwierigkeiten auf den juristisch ausgebildeten Gerichtsschreiber abstützen könne.19
In der Tat verlangt nur etwa die Hälfte der Kantone eine juristische Ausbildung, und das Laienrichtertum wird vielerorts als Ausdruck einer notwendigen Verhaftung der stark mit der Klärung der Sachverhalte beschäftigten erstinstanzlichen Gerichte im Volk und auch als an sich fragwürdige Möglichkeit politischer Kontrolle der Richter angesehen.20
Doch ist Rechtspflege ohne Juristen und ist Verfahrensleitung ohne juristisch qualifizierte Vorsitzende qualitativ hinreichend möglich und so auch zulässig? Besteht denn nicht die Gefahr, dass solchen Instanzen gravierende Verfahrensfehler (zum Beispiel in Fragen des Ausstandes und weiterer prozessleitender Massnahmen) unterlaufen und dass sie manche Sachverhaltsfragen mangels genauer Rechtskenntnisse gar nicht genügend erfassen, geschweige denn rechtlich würdigen können? Muss nicht, mindestens bei einem nicht juristisch ausgebildeten Präsidenten, von einem «iudex inhabilis» gesprochen werden?21
Ist eine solche gerichtliche Instanz überhaupt ein «gesetzliches» Gericht mit der gesetzlich notwendigen Zusammensetzung? Besteht zudem nicht die Gefahr, wenn viele oder alle Mitglieder einer Beschwerdeinstanz Laien sind, dass diese Instanz unter Umständen nicht ausreichend unabhängig in der Sache ist und dass sie vor allem den grund- und menschenrechtlichen Ansprüchen des rechtlichen Gehörs nicht genügt? Und was für Kosten und was für ein Zeitverlust entstehen den Parteien, wenn das erstinstanzliche Beschwerdeverfahren wegen mangelnder Fachkompetenz im Spruchkörper «für die Katz» ist? Genügt es denn, wie das Bundesgericht antönt,22 dass nach dem Bezirksrat noch in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten das Verwaltungsgericht und in zivilrechtlichen das Obergericht angerufen werden können, welche beide mit voller Kognition urteilen?
Es geht bei diesen Fragen sicherlich zuerst einmal darum, welche Qualifikationen für die Wählbarkeit von Personen in ein Gericht beziehungsweise eine gerichtliche Beschwerdeinstanz aufgestellt werden. Dass in der Schweiz in vielen Kantonen der Zugang auch von Laien zu den Gerichtsfunktionen begrüsst wird und dass das Bundesgericht aus dem bundesverfassungsrechtlichen Begriff des Gerichts (Art. 30 BV) resp. der richterlichen Behörden (Art. 191c) nicht die Anforderung des Nachweises einer juristischen Ausbildung ableitet, wird auch unter Juristen nicht in Frage gestellt. Nicht zuletzt, weil andernfalls verschiedene Spezialgerichte, etwa Handelsgerichte, ihre spezifischen Konstitutionsbedingungen aufgeben müssten.23 Doch niemand behauptet, dass auch Personen ohne juristische Qualifikation die Aufgaben eines Handelsgerichts, eines Patentgerichts, einer Mietschlichtungsstelle oder ähnlicher Spezialgerichte ohne weiteres vorwiegend oder ganz erfüllen können.
In der Doktrin wird die Frage der fachlichen Qualifikation wenig behandelt.24 Das Bundesgericht selber hat aber zwei, drei Entscheide gefällt, die gewisse Vorgaben machen. So hat es Anforderungen an den Haftprüfungsrichter aufgestellt, der in Art. 5 Abs. 3 EMRK als «gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen ermächtigter Beamter» bezeichnet wird. Aus dieser Bestimmung ergeben sich, so sagt das Bundesgericht (in BGE 102 Ia 379, E. 4) «… zwingende Forderungen. Es ist danach unerlässlich, dass die Anhörung nicht durch die Polizei erfolgt; ebenso zwingend ist, dass die für die Anhörung zuständige Behörde rechtlich und faktisch von der Regierung weisungsunabhängig ist und dass sie in Bezug auf das durchzuführende Strafverfahren die nötige Fachkunde und Sachkompetenz besitzt.»
Dass das jedenfalls für die gerichtliche Beurteilung einer fürsorgerischen Unterbringung genauso gilt, ist unbestritten.25 Der Gedanke sollte aber auch in anderen Rechtsbereichen Eingang finden. Mittelbar aufschlussreich ist sodann das Urteil BGE 139 I 161, in dem das Bundesgericht die lohnmässige Schlechterstellung von Kreisrichterinnen und Kreisrichtern ohne eine juristische Ausbildung gegenüber den Juristinnen und Juristen im St. Galler Kreisgericht nicht als einen Verstoss gegen die Rechtsgleichheit, geschweige denn als eine Diskriminierung angesehen hat (wobei man sich zu diesem Fall durchaus gewisse rechtssoziologische Gedanken über die Beschäftigung und Entlohnung von Teilzeitmitgliedern von Gerichten, besonders von Frauen, machen könnte).
Schliesslich hat das Bundesgericht in BGE 116 Ia 14, E. 7b festgehalten, dass «Laienrichter in erhöhtem Masse der Gefahr einer Beeinflussung der Medien durch eine negative Berichterstattung über einen Beschuldigten beziehungsweise Angeklagten ausgesetzt» seien,26 was so pauschal wohl kaum gesagt werden kann. Wie Regina Kiener überzeugend darlegt, können vor allem nicht voll- oder hauptamtlich tätige, nicht richtig ins Gericht eingebundene Personen stärker beeinflussbar sein, weniger aber hauptamtlich tätige Gerichtsmitglieder.27
Weit mehr als das Bundesgericht hat sich aber der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit den Anforderungen an ein Gericht und an die Gerichtsmitglieder befasst. Diese Rechtsprechung ist sehr wohl in den Aufgabenbereichen der Bezirksräte relevant und massgeblich, denn Streitsachen im Kindes- und Erwachsenenschutz und über Sozialleistungen sind «civil rights», «zivilrechtliche Ansprüche» im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK; aber auch in öffentlich-rechtlichen Verfahren sind etwa dienstrechtliche Streitigkeiten und besonders auch Grundrechtsverletzungen «zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen»,28 ja meines Erachtens selbst Streitigkeiten über den grundrechtlichen Schutz politischer Rechte nach Art. 34 BV (auch wenn die Schweiz das 1. Zusatzprotokoll zur EMRK mit der Garantie der Wahlrechte in Art. 3 nicht ratifiziert hat, aber jedenfalls zu Art. 25 lit. b des UN-Pakts II nur einen beschränkten Vorbehalt wegen der an demokratischen Versammlungen wie Landsgemeinden und Gemeindeversammlungen nicht geheimen Wahlen angebracht hat ).29
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg hält fest, dass die Wahl von Laienrichtern dann zulässig sei, wenn diese etwa aufgrund besonderer Sachkenntnisse ausgewählt werden.30 Und er betont, dass sich die für die Konstitution und die Funktionen respektive Zuständigkeiten des Gerichts entscheidende gesetzliche Grundlage auf dessen konkrete Zusammensetzung im Einzelfall beziehen muss.31 Und vor allem gilt Folgendes: «Ein Gericht, das sich aus Berufs- und Laienrichter zusammensetzt, hat keine hinreichende gesetzliche Grundlage, wenn keine Regelung bezüglich der Auswahl und Bestellung von Laienrichtern und deren Rechte und Pflichten besteht».32 Gerade diese Regelung fehlt für die Zürcher Bezirksräte.
Schliesslich widerspricht die Praxis des EGMR der zum Teil unklaren Haltung des Bundesgerichts, wonach solche konstitutiven Fehler einer ersten Instanz in der zweiten Beschwerdeinstanz auch geheilt werden könnten: Nach dem EGMR können organisatorische Mängel der Erstinstanz nicht durch ein Beschwerderecht an eine Zweitinstanz und deren Entscheid geheilt werden.33 Besondere Einzelfälle mögen vorbehalten bleiben.34
5. Mängel sind zu beseitigen
Es kann kaum einen Zweifel geben, dass das Bezirksverwaltungsgesetz des Kantons Zürich sowie das Einführungsgesetz zum Kindes- und Erwachsenenschutzrecht den Anforderungen des Bundesgerichts und vor allem des EGMR an unabhängige, gesetzlich konstituierte gerichtliche Beschwerdeinstanzen nicht ausreichend genügen.
Zur Klarstellung möchte der Verfasser sagen, dass seines Erachtens eine erstinstanzliche, verwaltungsinterne Beschwerdeinstanz sehr wohl wegen ihrer besonderen Fachkenntnisse sinnvoll und für eine vorzügliche Rechtsprechung bestens qualifiziert sein kann. Doch gilt auch für die Beschwerdeinstanzen der Verwaltung, dass sie einen besonderen juristischen Sachverstand gewährleisten müssen, vor allem weil sonst ihre Kognition bezüglich der Sachverhalts- und der Rechtsfragen zu verengen droht. Wo aber von Gesetzes wegen volle richterliche Unabhängigkeit gefordert wird und wo gar aufgrund von Art. 6 Abs.1 EMRK eine Gerichtsinstitution bestehen muss, genügen Abteilungen der Verwaltung wie der Bezirksrat im Kanton Zürich nicht; hier müssen schon die gesetzlichen Garantien der Konstitution der Instanz und die Anforderungen an die Qualifikation der Mitglieder etwas genauer und strenger sein.
Beim Bezirksrat muss meines Erachtens vor allem die problematische Doppelfunktion des Statthalters und Vorsitzenden des Bezirksrates aufgehoben werden,35 weil nur so die unerlässliche juristische Qualifikation und die völlige Unabhängigkeit der oder des Vorsitzenden der Beschwerdeinstanz eingefordert werden kann. Zudem sollten die gerichtlichen Funktionen des Bezirksrates von dessen administrativen Kontroll- und Aufsichtsaufgaben getrennt werden, denn es kommt ohne diese Trennung der Funktionen unvermeidlich immer wieder, vor allem in komplexeren Fällen, zu einer Vorbefasstheit oder gar Voreingenommenheit von Mitgliedern des Spruchkörpers aus einzelnen Aufsichtsfällen.36 Schliesslich ist auch zu prüfen, wie bei den durch die politischen Parteien in den Bezirken bestimmten Wahlen eine bessere Vertretung der juristisch ausgebildeten Frauen erreicht werden kann.37 Es ist zu hoffen, dass alle verantwortlichen Instanzen bedenken werden, dass die institutionellen und fachlichen Mängel der heutigen gerichtlichen Beschwerdeinstanz Bezirksrat – ausser wohl in den grossen Gremien von Winterthur und Zürich, wo unterschiedliche Kammern gebildet werden – letztlich immer zulasten der Bewohnerinnen und Bewohner des Bezirks gehen.
§ 39 lit. b Gesetz über die politischen Rechte vom 1.9.2003;
für Entlassungen ist der Regierungsrat zuständig (Entscheid VB.2016.00803 Verwaltungsgericht ZH vom 22.3.2017, E. 3.1).
Vgl. § 9–12 Bezirksverwaltungsgesetz vom 10.3.1985 und Art. 141–147 Gemeindegesetz vom 6.6.1926; Näheres bei Tobias Jaag /Markus Rüssli, Staats- und Verwaltungsrecht des Kantons Zürich, 4. Aufl., Zürich 2012, N. 1605 ff.; zu Rechtsmittelfunktionen von Bezirksrat und Statthalteramt siehe: Jürg Bossart / Martin Bertschi, § 19b N. 27 und 28, in: Alain Griffel (Hrsg.), Kommentar zum Verwaltungrechtspflegegesetz des Kantons Zürich (VRG), 3. Aufl., Zürich 2014.
Siehe Daniel Steck, Art. 450 N. 19, in: Ruth Reusser / Thomas Geiser (Hrsg.), Basler Kommentar Zivilgesetzbuch I, Erwachsenenschutzrecht, 5. Aufl., Basel 2014.
Vgl. z. B.: bezirke.zh.ch/internet/justiz_inneres/stha/de/bezirke/bezirk_affoltern/bezirksratspraesident_statthalter.html.
BBl 2006, S. 7001 und 7074.
Vgl BGE 142 III 732, E. 4.2; Zur Ausgestaltung des Rechtsschutzes siehe bes. Konferenz der kantonalen Vormundschaftsbehörden (VBK), Empfehlungen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde als Fachbehörde (Analyse und Modellvorschläge), in: ZVW 2/2008, S. 93 f.; Daniel Steck, Bericht zur Grundsatzfrage der staatsrechtlichen Eingliederung der künftigen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde im Kanton Zürich gemäss neuem Erwachsenenschutzrecht vom 30.11.2008, S. 7, 28 f. Zum Begriff des Gerichts im materiellen Sinn: z.B. Johannes Reich, Art. 191c N. 13, in: Bernhard Waldmann /
Eva Maria Belser / Astrid Epiney (Hrsg.), Basler Kommentar Bundesverfassung, Basel 2015.
§ 63 Einführungsgesetz zum
Kindes- und Erwachsenenschutzrecht (EG KESR) vom 25.6.2012.
§ 64 EG KESR. Einen generell zweistufigen kantonalen Rechtsmittelweg im Kindes- und Erwachsenenschutz kennt neben ZH nur SG. Vorbehalten sind in einigen Kantonen Sonderregelungen für fürsorgerische Unterbringungen; vgl. Steck, Art. 450 N. 15 f., a.a.O.
Georg Müller, «Gerichtliche Beschwerdeinstanzen gem. Art. 450 nZGB im Kanton Zürich», Rechtsgutachten (vervielfältigt), 26.8.2010, bes. S. 15; ders., «Gerichtliche Beschwerdeinstanz gem. Art. 450 ZGB im Kanton Zürich», in: ZBl 114/2013, S. 59 ff. und 66 ff.
Müller, a.a.O., S. 14 f.
Gesetz über den Rechtsschutz in Verwaltungssachen vom 24.5.1959.
Entscheid VB.2013.00792 des Verwaltungsgerichts vom 5.3.2014, E. 3.3.2 und 3.3.3 (personalrechtliche Streitsache, die zur teilweisen Nichtanwendung von § 63 Abs. 3 VRG führte); siehe auch Entscheid PB.2000.00007 vom 30.8.2000, E. 2; Entscheid VB.2007.00051 vom 5.4.2007, E. 1.2. Das Verwaltungsgericht sagt: «Ausserhalb seiner Rechtsprechungstätigkeit steht der Bezirksrat unter Aufsicht von Regierungsrat sowie Direktion der Justiz und des Innern (vgl. § 45 Gesetz über die Organisation des Regierungsrats und der kantonalen Verwaltung vom 6.6.2005 sowie § 147 ff. GG). Er hat damit die gleiche Stellung wie untergeordnete Stellen der Zentralverwaltung; namentlich ist er an Weisungen von Regierungsrat bzw. Direktion gebunden. Die Einbindung in die Verwaltung spricht gegen die Qualifikation des Bezirksrats als richterliche Behörde.» (Entscheid VB.2013.00792 vom. 5.3.2014, E. 3.3.2).
Alfred Kölz / Jürg Bosshart /
Martin Röhl (Hrsg.), Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons ZH (VRG), 2. Aufl., Zürich 1999, § 4 N. 26; siehe auch: Evi Schwarzenbach, Art. 80 N. 9, in: Isabelle Häner / Markus Rüssli /
Evi Schwarzenbach (Hrsg.), Kommentar zur Zürcher Kantonsverfassung, Zürich 2007.
BGer 5C_2/2012 vom 17.12.2012.
BGE 139 III 98, E. 4.4.4 und 4.4.5.
Regina Kiener, «Anmerkungen zum Bundesgericht, II. zivilrechtliche Abteilung, 17.12.2012», in: ZBl 114/2013, S. 265 ff.; Judith Wyttenbach, «Die staatsrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts in den Jahren 2012 und 2013», in: ZBJV 149/2013, S. 849 ff.; Christoph Häfeli, «Der Bezirksrat ist auch ein Gericht», in: dRSK, publ. am 29.4.2013; Stephan Wolf /
Daniel Thut, «Die privatrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahr 2013», ZBJV 150/2014, S. 654 ff. Unbefriedigend am Leitentscheid der (II.) zivilrechtlichen Abteilung war auch, dass sich diese praktisch nicht mit
der neueren Rechtsprechung des EGMR und der neueren Literatur zur EMRK auseinandergesetzt hatte.
Bezüglich dieser problematischen Doppelfunktion sei darauf verwiesen, dass das Bundesgericht z. B. entschieden hat, dass ein kantonaler Bediensteter nicht in einer gerichtsähnlichen Spezialrekurskommission mitwirken darf (Vgl. BGE 124 I 255; BGer 2A.181/1998 vom 27.11.1998,
E. 2c).
Eine solche Ämterkumulation in allen drei Gewalten des Kantons ist in demokratischen, der Gewaltenteilung verpflichteten Verfassungsordnungen mehr als problematisch. Die Ämterkumulation verstösst m.E. gegen den in Art. 3 KV
Zürich verankerten Grundsatz der Gewaltenteilung, welcher in Abs. 2 festhält: «Niemand darf staatliche Macht unkontrolliert und unbegrenzt ausüben.» Die Ämterkumulation verletzt aber auch Art. 191c BV, welcher der institutionellen Absicherung der Unabhängigkeit der richterlichen Behörden in ihrer rechtsprechenden Tätigkeit dient (René Rhinow /
Markus Schefer / Peter Uebersax, Schweizerisches Verfassungsrecht, 3. Aufl., Basel 2016, Rz. 2818 ff. Denn Art. 191c BV «verpflichtet» «sämtliche Akteure im gewaltenteilenden Rechtsstaat», diesem Grundsatz Nachachtung zu verschaffen (Gerold Steinmann, Art. 191c Rz. 5, in: St. Galler Kommentar, 3. Aufl., Zürich/St. Gallen 2014).
BGE 134 I 16, E. 4.2 und 4.3.
Vgl. Regina Kiener, Richterliche Unabhängigkeit: verfassungsrechtliche Anforderungen an Richter und Gerichte, Habil.,
Bern 2001, bes. S. 263 ff.
So das Bundesgericht in BGE
134 I 16, E. 4.3: «Der Anspruch auf
einen unabhängigen Richter bzw. auf ein faires Verfahren kann deshalb berührt sein, wenn unerfahrene Laienrichter ohne Möglichkeit der Mithilfe einer unabhängigen Fachperson ihres Amtes walten müssten; diesfalls würde sich jedenfalls die Frage stellen, ob nicht von einem iudex inhabilis gesprochen werden müsste, dem es an den für eine sachgerechte Entscheidfindung erforderlichen Eigenschaften fehlt (vgl. Max Guldener, Schweizerisches Zivilprozessrecht, Zürich 1979, S. 14).»
So BGE 114 Ia 153, E. 3.a/bb; BGE 139 III 98, E. 4.3.5 und 4.4.5.
Siehe z. B. BGE 136 I 207, E. 3.5 betr. die Zusammensetzung des Zürcher Handelsgerichts.
Zu der fachlichen Qualifikation von Gerichtsmitgliedern und den Problemen von Laienrichtern vgl. vor allem: Regina Kiener, a.a.O., S. 263 ff. Angemerkt sei, dass die für ein Wirken als Richterin oder Richter erwünschten sozialen und intellektuellen Fähigkeiten (vgl. BGE 137 I 227) selbstverständlich nicht von der juristischen Ausbildung abhängen. Wer die Mängel von Berufspersonen in der Justiz kennenlernen will, dem seien die hervorragenden Justizromane von Gianrico Carofiglio empfohlen.
Vgl. z. B. BGE 118 II 249, wo für die Beurteilung einer fürsorgerischen Unterbringung (noch nach der Regelung von
aArt. 397e Ziff. 5 ZGB) eben ein «ausgewiesener Fachmann» und
eine unabhängige Person gefordert wurde.
Vgl. auch BGE 105 Ia 157, E. 6c. Diese Frage der Beeinflussung der Laienrichter hat auch den EGMR stark beschäftigt, vgl. etwa Urteil Nr. 34896/97 des EGMR i.S. Craxi c. Italien (Nr.1) vom 5.12.2002, Ziff. 98; Urteil Nr. 11082 u. a. des EGMR i.S. Khodorkorskij
und Lebedev c. Russland vom 25.7.2013, Ziff. 547 und 555.
So Kiener, a.a.O., S. 205 f.,
unter Hinweis auf den genannten BGE 116 Ia 14, E. 7e.
Zur Praxis des EGMR bezüglich des Geltungsbereichs von Art. 6 Abs. 1 EMRK bzw. zu dessen Auslegung des Begriffs der «zivilrechtlichen Ansprüche»
vgl. Christoph Grabenwarter /
Katharina Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention: ein Studienbuch, 6. Aufl., 2016, § 24; siehe z. B. auch BGE
117 Ia 378.
Vgl. Anhang zum UN Pakt II in: SR 0.101.3.
Siehe Grabenwarter / Pabel, a.a.O., § 24 N. 31; Urteil Nr. 8790/79 des EGMR i.S. Sramek c. Österreich vom 23.10.1984, Ziff. 39; Urteil Nr. 9273/81 des EGMR i.S. Ettl c. Österreich vom 23.4.87, Ziff. 37 ff.; Urteil Nr. 11179/84 des EGMR i.S. Langborger c. Schweden vom 22.6.1989, Ziff. 30.
Urteil Nr. 1555/04 des EGMR i.S. Zakharian c. Russland vom 10.6.2010, Ziff.146.
Grabenwarter / Pabel, a.a.O., § 24 N.33; Urteil Nr. 303223/23
des EGMR i.S. Pandjikidzé u. a. c. Georgien vom 27.10.2009, Ziff. 109.
Urteil Nr. 25942/94 des EGMR i.S. Coyne c. Vereinigtes Königreich vom 24.9.1997, Ziff. 56 ff.; Urteil Nr. 37475/97 des EGMR i.S. Smith und Ford c. Vereinigtes Königreich vom 29.9.1999, Ziff. 23, etc.
Das lässt sich z. B. im Fall BGE 141 V 495, E. 2 sagen.
Zur möglichen Befangenheit und Vorbefasstheit aufgrund der Wahrnehmung verschiedener Rollen resp. Funktionen siehe z. B. BGE 117 Ia 157; BGE 124 II 255; BGer 2.A.181/1998
vom 27.11.1998, E. 2c.;
BGE 139 III 120.
Vgl. z. B. BGE 117 Ia 322, in dem das Bundesgericht übrigens die Frage offenlässt, ob ein solches befangenes Gerichtsmitglied nicht im Voraus abzulehnen ist. Zu möglichen Gefährdungen der Unabhängigkeit schon aus organisatorischen oder funktionellen Gründen siehe: BGE 142 III 732, E. 4.2.2; BGE 131 I 113, E.3.4 f.; BGE 117 Ia 372, E. 2c; in der Doktrin siehe etwa Johannes Reich, Art. 191c Rz. 5, in: Bernhard Waldmann / Eva Maria Belser /
Astrid Epiney (Hrsg.), Basler Kommentar Bundesverfassung,
Basel 2015.
Z.B. durch Wahlvorschlagsquoten, vgl. BGE 125 I 21, E. 5c.