plädoyer: Das Thema Ihrer Dissertation ist höchst aktuell: Weshalb wählten Sie den «Schutz des religiösen Friedens»?
Simon M. Schädler: Mich hat das Zusammenspiel von staats- und grundrechtlichen Überlegungen und religiösen Bedürfnissen seit Beginn meines Jus-Studiums interessiert. Die Fragen, die sich ergeben, wenn staatliche Regelungen und religiöse Vorstellungen kollidieren, sind komplex und spannend. Ein Grund für meine Forschung waren die Diskussionen über den Bau von Minaretten, das Tragen der Burka oder die Beschneidung. Es ist nicht zu übersehen, dass diese Themen in westlichen Gesellschaften mehr Gewicht erhalten werden. Schliesslich hat meine Themenwahl wohl auch persönliche Gründe: Ich komme aus einer konfessionell gemischten Familie, verschiedene Weltanschauungen gaben immer wieder Anlass für Gespräche und manchmal auch hitzige Debatten.
Der Titel der Arbeit unterstellt, es sei Aufgabe des Staates, den religiösen Frieden zu schützen. Wie begründen Sie diese These?
Zu einem Grossteil mit dem Schutz der Grund- und Menschenrechte. Die menschenrechtliche Doktrin ist sich heute einig, dass es dem Staat nicht nur verwehrt ist, widerrechtlich in die Medien-, Ehe- oder sexuelle Orientierungsfreiheit einzugreifen. Dazu kommt seine Pflicht, aktiv dafür zu sorgen, dass jeder seine Freiheiten auch tatsächlich ausleben kann. Der Staat wird zum Förderer dieser Rechte und hat positive Schutz- und Leistungspflichten. Das gilt selbstverständlich auch für die Glaubens- und Gewissensfreiheit: Ohne religiösen Frieden ist die Religionsfreiheit in Gefahr. Wenn sich der Staat nicht aktiv um den konfessionellen Frieden kümmert, verletzt er selbst die Religionsfreiheit.
Artikel 72 der Bundesverfassung enthält nur eine Kann-Vorschrift, dort heisst es: «Bund und Kantone können im Rahmen ihrer Zuständigkeit Massnahmen treffen zur Wahrung des öffentlichen Friedens zwischen den Angehörigen der verschiedenen Religionsgemeinschaften.»
Die Thematik ist vielschichtig: Der Konfessionsfrieden spielt auch aus der Sicht der inneren Sicherheit eine zentrale Rolle. Artikel 72 BV ist Teil des verfassungsrechtlichen Konfessionsfriedensschutzes und wurzelt in der Zeit des Kulturkampfes. Er ist stark polizei- und sicherheitsrechtlich motiviert. Geschützt wird das Rechtsgut der inneren Sicherheit. Wenn also die Kantone und der Bund zum Schluss kommen, der religiöse Frieden sei gestört und die Sicherheit des Landes oder Teile der Schweiz seien bedroht, dann könnten die verantwortlichen Behörden in Freiheitsrechte eingreifen oder Gesetze erlassen. Ich bin gegenüber Artikel 72 BV kritisch eingestellt. Ich finde, es ist Zeit für eine Reform des Religionsverfassungsrechts. Wir müssen uns verabschieden vom Bild der «Religion als Unruhestifterin» und den aktiven Schutz des multireligiösen Friedens in der Schweiz in den Vordergrund stellen.
Ist Artikel 261 des Strafgesetzbuchs (Störungen der Glaubens- und Kultusfreiheit) ein Anwendungsbeispiel von Artikel 72 der Bundesverfassung?
Ja, diese Strafrechtsnorm ist eine Möglichkeit, den konfessionellen Frieden repressiv zu schützen. Meines Erachtens wird dieser Artikel zu stiefmütterlich behandelt. Er wird oft zu Unrecht kritisiert oder als «Blasphemieartikel» verschrien. Zweck diese Artikels ist es, öffentliche Beschimpfungen und Verspottungen von religiösen Vorstellungen zu unterbinden und verfassungsrechtlich zulässige Kultushandlungen zu schützen. Dies ist ein sehr liberaler und aufgeklärter Ansatz. Im Übrigen geniessen auch Atheisten und Skeptikerinnen strafrechtlichen Schutz. Eine weitere Präzision finde ich wichtig: Der strafrechtliche Schutz dient nicht den Religionen oder einem Gott (Blasphemie), sondern der Freiheit jedes Einzelnen und dem religiösen Frieden. Den Vorwurf, Artikel 261 StGB ermögliche Zensur, teile ich nicht: Strafbar macht sich nur, wer geschützte religiöse Handlungen böswillig verhindert. Kritik an religiösen Praktiken oder problematischen Überzeugungen wird nicht kriminalisiert.
In einer Karikatur wurde Mohammed als Hund dargestellt. Die Muslime sehen in solchen Karikaturen eine Beleidigung ihres Propheten. Hat der Staat die Pflicht, einzugreifen?
Der Schutz religiöser Gefühle ist ein heikles Thema. Man muss sich die Frage stellen, warum, wann und wie der Staat in den Wettstreit der verschiedenen religiösen Ideen eingreifen darf. Erstens ist die Intensität einer Gefühlsverletzung zentral. Manche Fälle leuchten jedem ein, etwa wenn der Prediger Terry Jones öffentlich dazu aufruft, den Koran zu verbrennen, oder wenn muslimische Bürger Toilettenpapier mit aufgedruckten Koranversen per Post erhalten. Dies ist keine Religionskritik, sondern greift Gläubige als Teil einer Religionsgemeinschaft persönlich an. Religiöse Gefühle werden dabei so schwer verletzt, dass ich einen staatlichen Eingriff für gerechtfertigt halte. Heikel sind die unklaren Fälle. Hier verwende ich folgende Faustregel: Wenn eine Verunglimpfung oder Kritik Menschen entwürdigt und ihnen verunmöglicht oder erschwert, ein freies religiöses Leben zu führen, halte ich Massnahmen für gerechtfertigt. Es gibt keinen Schutz vor Kritik und Konfrontation, aber niemand soll heimlich oder verängstigt seine Synagoge, seine Moschee oder seine Kirche aufsuchen müssen. Ich bin der Meinung, dass es bei einer aufgeheizten Stimmung gerechtfertigt sein kann, die Kritikfreiheit einzuschränken, wenn es Personen oder Medien nur darum geht, religiöse Gefühle zu verletzen oder ein Zeichen zu setzen. Die Meinungsäusserungsfreiheit ist ein Grundpfeiler der Demokratie; doch sie ist nicht grenzenlos. Wenn Zeitungen in einer brodelnden Stimmung bewusst die umstrittensten Mohammed Zeichnungen von «Charlie Hebdo» grossflächig wieder und wieder abdrucken, ist der religiöse Frieden in Gefahr. In solchen Situationen muss der Staat zwischen der Meinungsäusserungsfreiheit und dem Schutz des religiösen Friedens abwägen.
Wo hat der Staat über die polizeirechtlichen Massnahmen hinaus Leistungspflichten?
Vor allem dort, wo er einen grossen Einfluss auf die Lebensführung hat, also etwa in Spitälern, Schulen, der Armee oder im Friedhofswesen. Beispielsweise muss im Militärdienst oder im Strafvollzug der Gottesdienst für alle Religionen möglich sein. Der Staat muss Geistlichen grundsätzlich Zugang zu Gefängnissen oder Rekrutenschulen gewähren. Gleiches gilt für religionskonforme Ernährung für Strafgefangene, schulfreie Tage für Kinder an religiösen Feiertagen oder die Möglichkeit, dass das Grab eines Atheisten ohne Kreuz ausgestattet sein darf. Staatliche Pflichten reichen immer nur so weit, dass der «geordnete Anstaltsbetrieb» nicht verunmöglicht wird.
Wenn also die Zubereitung von koscherem Essen den ganzen Küchenablauf stören würde, wäre ein Eingriff gerechtfertigt?
Ja. Zwei weitere Klassiker wären auch der Geistliche, der die Sicherheit einer Strafvollzugsanstalt gefährdet oder die Zwangsmassnahmenrichterin, die freitags aus religiösen Gründen dringende Haftfälle nicht erledigen kann. Im Bereich der religionskonformen Ernährung ist die Rechtsprechung des Bundesgerichts und des EGMR eindeutig. Der EGMR verurteilte kürzlich Polen, da sich die Strafvollzugsbehörden auf den Standpunkt stellten, ein verurteilter Buddhist habe keinen Anspruch auf vegetarische Kost.
Der Staat sollte also dafür sorgen, dass alle Glaubensgemeinschaften einen Gottesdienst abhalten können. Gehört dazu auch, ein Gotteshaus bauen zu lassen? Auch eines mit einem Minarett?
Ja, selbstverständlich. Der Bau von Gotteshäusern gehört ohne Frage zum sachlichen Schutzbereich der Religionsfreiheit. Die Diskussion, ob ein Minarett für die Ausübung der Religion nötig ist, ist rechtlich völlig unerheblich. Es gibt den Anspruch auf den Bau eines Kultusgebäudes im öffentlichen Raum. Ob die Religionsgemeinschaften ihre Bauten mit Türmchen, Kuppeln, Kirchenschiffen oder Thoraschreinen ausgestalten, ist ihre Entscheidung. Einschränkungen sind nur aus Gründen des Immissionsschutzes oder des Raum- und Planungsrechts denkbar.
Manche Religionsgemeinschaften haben einen eigenen Friedhof, andere nicht. Müssen die Kantone und Gemeinden dazulernen?
Der Staat ist verpflichtet, jedem Verstorbenen eine würdige Bestattung zu ermöglichen. Aber den Anspruch auf eigene Friedhöfe gibt es meines Erachtens nicht. Die Stadt Zürich hat in Witikon eine muslimische Grabstätte eingerichtet. Die Gräber sind in Richtung Mekka ausgerichtet und es stehen Räume für rituelle Waschungen zur Verfügung. Die Gemeinden haben jedoch keine rechtliche Pflicht, die ewige Grabesruhe zu garantieren, wenn Religionen dies vorsehen. Ich würde auch den Anspruch klar ablehnen, dass die letzte Ruhestätte eines Verstorbenen nicht neben Andersgläubigen liegt. Nochmals: Der Staat schützt den religiösen Pluralismus, verhindert aber nicht die Konfrontation mit anderen Ansichten.
Stichwort Minarettverbot: Der Staat beschränkt mit dem Vorwand der öffentlichen Ordnung immer wieder die Freiheiten religiöser Minderheiten. Zu Recht?
Nein, diese Tendenz halte ich für gefährlich und das Minarettbauverbot für einen klaren Fehlentscheid. Der religiös neutrale Staat respektiert Religionen und Glaubensgemeinschaften und sichert den interreligiösen Frieden. Notfalls schränkt er dafür Freiheiten ein. Diskriminierende Massnahmen gegen einzelne Gruppierungen und reine Symptombekämpfung halte ich aber für schädlich.
Deshalb sollte er kein Kopftuchverbot an Schulen erlassen?
Kopftuchverbote für Schülerinnen sind nicht gerechtfertigt. Dies bestätigen nun diverse Urteile. Es ist ein Missverständnis zu meinen, Religion habe an öffentlichen Schulen keinen Platz. Wichtig ist: Der Staat und damit auch sein Lehrpersonal muss sich neutral verhalten. Kopftuchverbote für Lehrerinnen sind deshalb vertretbar. Schülerinnen haben jedoch das Recht sich zu kleiden, wie sie es aus religiöser Überzeugung tun wollen.
Frankreich erliess ein Burkaverbot, das in Strassburg erfolglos angefochten wurde. Interessant: Die Richterinnen aus Deutschland und Schweden hätten die Beschwerde gutgeheissen: Sie sahen die Artikel 8 (Achtung des Privat- und Familienlebens) und 9 (Religionsfreiheit) der Konvention verletzt. Sie rügten die zu grosse Einschränkung der Rechte einer Burkaträgerin gegenüber den sehr schwammigen staatlichen Interessen: «Konkrete individuelle Rechte, welche die Konvention garantiert, wurden hier abstrakten Prinzipien unterworfen.» Hätten Sie dieses Minderheitsvotum auch unterschrieben?
Ja, absolut. Die Gerichtsmehrheit argumentierte, man müsse dem Umstand Rechnung tragen, dass das Tragen eines Gesichtsschleiers im öffentlichen Raum für andere Personen eine Abgrenzung bedeute und den offenen zwischenmenschlichen Kontakt beeinträchtige. Die Möglichkeit, mit Mitmenschen in Kontakt zu treten, sei unverzichtbar für das Zusammenleben in einer Gesellschaft. Das Gericht erschuf damit ein neues öffentliches Interesse: Living together als Grundrecht Dritter. Ich kann die Argumentation nachvollziehen, halte sie aber für gefährlich und missbrauchsanfällig. Die unterliegenden Richterinnen sagten richtig, dass damit ein selektiver Pluralismus geschützt werde. Ein Verbot der Burka also, da sie das Zusammenleben stört? Ich finde es prekär, wenn aufgrund eines «Unbehagens» in der Bevölkerung religiöse Ausdrucksformen beschränkt werden. Pessimistisch betrachtet könnte das Urteil ein Präjudiz dafür sein, dass kulturell-religiöser Pluralismus nicht mehr begrüssenswert ist, sondern als potenzielle Gefahr gewertet wird.
Der Entscheid in Strassburg fiel immerhin mit 15 gegen 2 Stimmen. Wie erklären Sie sich das?
Ich glaube, dass das Begriffspaar der öffentlichen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung zunehmend verwischt wird. Es ist essenziell, eine real drohende Gefahr von einer blossen Belästigung abzugrenzen. Religiöse Rituale, Prozessionen, Überzeugungen, Demonstrationen oder Kleidungsstücke mögen uns provozieren, beleidigen, verstören oder bedrängen. Vielleicht finden wir sie lächerlich oder abstossend – sie sind aber keine Gefahr im Rechtssinn. Ich finde es bedenklich, wenn multikulturelle und freiheitliche Demokratien sich dazu hinreissen lassen, möglicherweise Belästigendes zu verbieten. Zudem lenken solche Diskussionen von realen Problemen ab: Religionen bergen durchaus ein Missbrauchspotenzial, können diskriminierend, intolerant, extrem und gefährlich werden – ihre Gefahren liegen aber sicher nicht in einer Burka, einem Minarett oder einer speziellen Haartracht.
Simon M. Schädler, 31, hat in Zürich, Bern und Luzern studiert und bei Helen Keller, Professorin an der Universität Zürich und Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, promoviert. Nach längeren Forschungsaufenthalten für seine Dissertation in Berlin und Israel arbeitet Schädler heute als Jurist in Zürich.