Über einen Fall, in dem die Berufshaftpflichtversicherung eines Anwalts einen angeblich Geschädigten ohne Zustimmung des versicherten Anwalts auszahlte, berichtete plädoyer 5/16. In diesem Zusammenhang beantworteten verschiedene kantonale Aufsichtsbehörden die Frage, ob ein Anwalt die Haftpflichtversicherung auf Gesuch eines Klienten hin bekanntgeben müsse. Ergebnis: Die Praxis ist nicht einheitlich.
Der Luzerner Anwalt Christian Haag kritisiert mit Hinweis auf einen Entscheid der Aufsichtsbehörde des Kantons Luzern vom 11. September 2013 die klientenfeindliche Haltung. Die Anwaltsaufsicht hatte sich geweigert, die Berufshaftpflichtversicherung des ehemaligen Anwalts seiner Klientin bekanntzugeben.
Die Gesuchstellerin hatte sich auf Art. 60 Abs. 1 des Bundesgesetzes über den Versicherungsvertrag (VVG) berufen. Diese Bestimmung räume dem Geschädigten ein gesetzliches Pfandrecht am Ersatzanspruch gegen die Versicherung ein und ermächtige die Versicherung, die Entschädigung direkt an den geschädigten Klienten zu bezahlen. Dies gelte für alle gesetzlichen Haftpflichtversicherungen. Aus diesem Artikel habe die Rechtsprechung ein Recht des geschädigten Dritten abgeleitet, über den Inhalt der Police informiert zu werden.
Die Luzerner Aufsichtsbehörde entschied, beim Auskunftsbegehren handle es sich somit um eine Streitigkeit aus Versicherungsvertrag. Diese sei aber privatrechtlicher Natur und durch die Zivilgerichte zu entscheiden. Die Gesuchstellerin müsse ihren mit Artikel 60 VVG begründeten Anspruch auf Bekanntgabe der Haftpflichtversicherung also vor dem Zivilrichter geltend machen. Die Aufsichtsbehörde über die Anwältinnen und Anwälte sei dafür nicht zuständig.
Haag kritisiert diese Haltung: Der Klientschaft werde bei einer Vertragsverletzung des Anwalts faktisch zugemutet, jahrelang zu prozessieren, ohne Gewissheit darüber zu haben, ob noch eine Berufshaftpflichtdeckung vorhanden sei. «Damit werden Sinn und Zweck des Versicherungsobligatoriums faktisch erheblich geschwächt.» Zudem geht er davon aus, dass sich ein grosser Anteil von Prozessen vermeiden liesse, wenn die Berufshaftpflichtversicherung bereits zu Beginn in die Schadenregulierung miteinbezogen werden könnte. «Verweigert der Anwalt deren Bekanntgabe oder die Anmeldung des Falls, so wird ein Prozess unumgänglich.»
“Direktes Forderungsrecht dient dem Rechtsfrieden”
Haag unterstützt deshalb ein direktes Forderungsrecht auf eidgenössischer Gesetzesstufe. Mindestens müsste bei Darlegung eines geschützten Interesses ein Anspruch der Klientschaft auf Auskunft durch die kantonale Aufsichtsbehörde bestehen. «Nur so – unter Miteinbezug der Berufshaftpflichtversicherung – kann sichergestellt werden, dass bei einem insolventen oder querulanten ehemaligen Anwalt eine korrekte Schadenserledigung auch ohne Prozess möglich ist.» Dies diene dem Rechtsfrieden – und letztlich dem Ansehen des Anwaltsberufs.
Walter Fellmann, Professor für Privatrecht an der Universität Luzern, kritisiert den Entscheid der Luzerner Aufsichtsbehörde ebenfalls. Der Klient habe zwar kein direktes Forderungsrecht gegenüber der Haftpflichtversicherung, aber ein gesetzliches Pfandrecht am Befreiungsanspruch. Nach Fellmanns Beurteilung «ist in der Verpflichtung zum Abschluss einer Berufshaftpflichtversicherung die Pflicht mitenthalten, sich im Schadenfall so zu verhalten, dass der Versicherungsschutz bestehen bleibt». Nach den allgemeinen Versicherungsbedingungen seien Ereignisse, deren Folgen die Haftpflichtversicherung betreffen könnten, dem Versicherer unverzüglich anzuzeigen. Bei der Behandlung des Schadenfalls seien verschiedene Obliegenheiten zu beachten, die sich aus der Versicherungstreue ergeben.
Lasse es eine Aufsichtsbehörde darauf ankommen, dass der Klient seinen Anwalt einklagen müsse und nicht mit der Haftpflichtversicherung zuerst verhandeln könne, setze sie ihn dem Risiko aus, dass die Versicherung anschliessend die Deckung des Falls wegen Obliegenheitsverletzungen des betroffenen Anwalts verweigere. Fellmann: «Das kann ja wirklich nicht der Sinn dieser Regelung sein.»
Er sieht sich durch die Auffassung der Anwaltskammer des Kantons Bern unterstützt. Sie gibt dem Klienten in solchen Fällen die Berufshaftpflichtversicherung des betroffenen Anwalts bekannt (Entscheid AWK 0983 vom 28. August 2009). Die Argumentation: Gibt der Anwalt seine Haftpflichtversicherung nicht bekannt, hat der Klient keine Möglichkeit, an den Namen der Versicherung zu kommen. Damit würde ihm das gesetzliche Pfandrecht verweigert. Der Schutzzweck von Art. 12 lit. f des Anwaltsgesetzes wäre vereitelt.
Von einem direkten Forderungsrecht gegen die Versicherung hält Fellmann nichts, weil sich ein geschädigter Klient dann mit Deckungseinreden des Versicherers auseinandersetzen müsste.
Stephan Fuhrer, Titularprofessor an der Universität Freiburg, gibt dagegen in der Sache der Luzerner Aufsichtsbehörde recht: «Bei einem Gesuch auf Auskunft durch die Aufsichtsbehörde reicht Art. 60 VVG als Grundlage definitiv nicht. Um den Geschädigten ein solches Recht einzuräumen, bräuchte es eine Grundlage im – kantonalen oder eidgenössischen – Anwaltsgesetz.» Zweckmässig wäre seines Erachtens eine Regelung, wie sie für Versicherungsmakler gilt (Art. 45 des Bundesgesetzes betreffend die Aufsicht über Versicherungsunternehmen). «Man könnte zum Beispiel den Anwalt verpflichten, in seinem Vollmachtsformular Angaben zu seinem Versicherungsschutz zu machen.» Allerdings könnte dem Vorschlag – nicht zu Unrecht – entgegengehalten werden, dass für vergleichbare Berufe wie etwa Ärzte dasselbe gelten müsste.
Fuhrer verweist noch auf eine «sehr alte, in der Literatur aber immer wieder zitierte Rechtsprechung» (Bundesgerichtsurteil vom 9. Oktober 1926, publiziert in SVA V Nr. 294). Sie leite aus Art. 60 VVG einen Auskunftsanspruch des Geschädigten über den Inhalt des Versicherungsschutzes des Schädigers ab. «Mir ist kein neueres Urteil bekannt, das diesen Auskunftsanspruch bestätigt.» Aufgrund des Alters verblasse die präjudizierende Wirkung des Urteils womöglich etwas. Das Hauptproblem liege aber darin, dass sich das Auskunftsrecht einzig gegen den Versicherungsnehmer richte.
Auskunftsrecht löst nicht alle Probleme
Die Diskussion um das Bestehen einer Auskunftspflicht wird möglicherweise bald vorbei sein: Der Bundesrat schickte im Juli einen Vorschlag für eine Teilrevision des VVG in die Vernehmlassung. Mit einem neuen Artikel 60a soll das Auskunftsrecht im Gesetz verankert werden. Fuhrer kritisiert: Auch dieses richte sich ausschliesslich an den Versicherten. «Der Geschädigte kommt somit nicht weiter, wenn er sich an den Versicherer wendet.» Dieser müsse ihm keine Auskunft geben – und werde dies wohl auch nicht freiwillig tun.
Allianz: Auszahlung an Nichtgeschädigten
Im Artikel «Haftpflichtleistungen ohne Rücksprache» (plädoyer 5/2016) erklärte Allianz-Sprecher Bernd de Wall zum Fall des erwähnten Luzerner Anwalts: «Zu laufenden Fällen äussern wir uns nicht.» Der Fall ist aber offenbar abgeschlossen, wie der betroffene Anwalt mit Dokumenten belegt: Mit zwei Schreiben vom 7.1.2016 und vom 30.6.2015 hat die Allianz dem versicherten Luzerner Anwalt mitgeteilt, der Fall sei längst abgeschlossen, und zwar ohne dass der versicherte Anwalt von der Allianz eine Schadenersatzzahlung wegen Verletzung des Versicherungsvertrags erhalten hatte.
Entgegen den Bestimmungen in den AVB hatte die Allianz eine Auszahlung an einen Nichtgeschädigten vorgenommen und trotz Klage gegen den Versicherten keine Gutsprache für Gerichts- und Anwaltskosten geleistet.