Kolumne: Medien – Urteile in Abwesenheit
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Plädoyer 06/2024
02.12.2024
Michael Krampf, am Prozess anwesend
Das Strafverfahren Ende Oktober in Chur war aufsehenerregend: Angeklagt war ein ehemaliger Verwaltungsrichter und heutiger Anwalt. Die Staatsanwaltschaft warf ihm vor, am Gericht eine Praktikantin vergewaltigt zu haben. Das Gericht sprach den Angeklagten schuldig. In den Medien warf vor allem ein Zitat hohe Wellen. Es war der Anlass dazu, dass das Gericht während der Urteilsberatung gestört wurde, weil vor dem Grossratsgebäude in der Nähe des Gerichts «...
Das Strafverfahren Ende Oktober in Chur war aufsehenerregend: Angeklagt war ein ehemaliger Verwaltungsrichter und heutiger Anwalt. Die Staatsanwaltschaft warf ihm vor, am Gericht eine Praktikantin vergewaltigt zu haben. Das Gericht sprach den Angeklagten schuldig. In den Medien warf vor allem ein Zitat hohe Wellen. Es war der Anlass dazu, dass das Gericht während der Urteilsberatung gestört wurde, weil vor dem Grossratsgebäude in der Nähe des Gerichts «laut und hässig» demonstriert wurde, wie der «Blick» schrieb. Titel des Artikels: «Richter treibt mit pietätloser Frage 200 Menschen auf die Strasse».
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Was war geschehen? In der dreiköpfigen Strafkammer des Regionalgerichts Plessur sass ein nebenamtlicher Regionalrichter. Die Praktikantin hatte in der Befragung ausgesagt, dass sie an die Wand gelehnt die Beine zusammengepresst habe. Danach stellte die Vorsitzende im Auftrag des nebenamtlichen Richters folgende Frage: «Sie sind nicht unkräftig gebaut. Wenn Sie die Beine zusammenpressen, dürfte es nach meinem Verständnis und meiner Erfahrung eher schwierig sein, zum Geschlechtsorgan vorzukommen und in Sie einzudringen. Wollen Sie sich dazu äussern?»
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Eine «Blick»-Journalistin schrieb: «Für das mutmassliche Opfer wurde die Befragung durch den Richter teilweise zum Spiessrutenlauf. Für eine spezielle Frage fordern Berufskollegen jetzt Konsequenzen. ‹Sie sind ja nicht unkräftig gebaut›, sagte der Richter am ersten Prozesstag zu der jungen Frau. ‹Hätten Sie die Beine nicht besser zusammenpressen müssen?›» Dieselbe Wahrnehmung machte eine Reporterin von Nau.ch: «Beim Prozess stellte ein Beisitzrichter zweifelhafte Fragen, die nun die Schweiz erzürnen. Dieser fragte die Ex-Praktikantin und Juristin ungeniert: ‹Sie sind ja nicht unkräftig gebaut. Hätten Sie die Beine nicht besser zusammenpressen müssen?›»
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Eine Journalistin der WOZ schrieb: «Wenn sie die Beine zusammenpresse, dürfte es aufgrund seiner Erfahrung schwierig sein, in sie einzudringen.» Die Frage des Richters impliziere, dass das Opfer für die Verhinderung einer Vergewaltigung selbst verantwortlich sei. Ein Redaktor der NZZ bemerkte zum Strafmass: «So wollte einer der Richter im Verlaufe der Verhandlung von der Frau wissen, ob sie nicht hätte die Beine stärker zusammenpressen können, um der Vergewaltigung zu entgehen.»
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Alle diese Journalisten beschrieben die Szene vom Pult aus. Andere Medienvertreter waren zumindest physisch im Gerichtssaal anwesend. Sie hatten aber nicht bemerkt, dass die Frage von der Vorsitzenden gestellt worden war. So der Redaktor des «Tages-Anzeigers», die Journalistin der «Südostschweiz» und der Journalist der Agentur SDA. Dieser schrieb: «Während des Verfahrens sorgte eine Frage eines Laienrichters für Empörung. Er fragte das Opfer: ‹Hätten Sie nicht die Beine besser zusammenpressen müssen?›»