Kolumne: Paradoxe Interventionen
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Plädoyer 04/2024
08.07.2024
René Schuhmacher
Die Uno sei das Gewissen der Welt, sagte der einstige Generalsekretär Kofi Annan einmal. Dieses Gewissen äussert sich tagtäglich in Taten. Ende März wählten 45 Mitgliedsländer der «Kommission der Vereinten Nationen zur Rechtsstellung der Frau» den saudischen Botschafter einstimmig zum Vorsitzenden der nächsten einjährigen Sitzungsperiode. Auch die Schweiz stimmte zu und applaudierte zur Wahl. Saudiarabien steht auf d...
Die Uno sei das Gewissen der Welt, sagte der einstige Generalsekretär Kofi Annan einmal. Dieses Gewissen äussert sich tagtäglich in Taten. Ende März wählten 45 Mitgliedsländer der «Kommission der Vereinten Nationen zur Rechtsstellung der Frau» den saudischen Botschafter einstimmig zum Vorsitzenden der nächsten einjährigen Sitzungsperiode. Auch die Schweiz stimmte zu und applaudierte zur Wahl. Saudiarabien steht auf der Rangliste des Weltwirtschaftsforums 2023 über die Gleichstellung der Geschlechter auf Platz 132 von 146 Ländern.
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Saudiarabien als Hüter der Rechte der Frauen? Wer diese Wahl nicht versteht, wirft am besten einen Blick auf das höchste Uno-Gremium: den Sicherheitsrat. Dort sitzen unter den 15 Mitgliedern die Vertreter jener Staaten, welche die Welt seit Gründung der Uno im Jahr 1945 am unsichersten machten.
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Punkto Angriffskriege und Millionen von Toten führend sind die USA, mit deutlichem Rückstand auf den nächsten Plätzen liegen Russland respektive die ehemalige Sowjetunion, Grossbritannien und Frankreich. Die Vertreter dieser Staaten sitzen nicht nur vorübergehend in diesem Gremium, sondern im Gegensatz zu den übrigen zehn Mitgliedern bleibend. Und sie haben auch noch mehr Rechte: Ein Veto eines dieser Staaten verhindert jeden Beschluss – Sicherheit hin oder her.
Verstehen können dieses System wohl nur Psychologen. Sie kennen es als sogenannte «paradoxe Intervention». Darunter versteht man verschiedene psychotherapeutische Methoden, die in scheinbarem Widerspruch zu den therapeutischen Zielen stehen – aber dazu gedacht sind, diese Ziele zu erreichen. Ein Beispiel: Eine der unter die paradoxen Interventionen fallenden Techniken ist die «paradoxe Intention». Dabei wird der Patient aufgefordert, sich genau das herbeizuwünschen, wovor er Angst hat. Also beispielsweise der Saudi-Botschafter die Verbesserung der Rechte der Frauen. Oder die USA eine vor Angriffen anderer Staaten sichere Welt. Wie erfolgreich paradoxe Interventionen sind, ist unter Fachleuten umstritten.
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Übrigens: Die Uno ist kein Sonderfall. Auch die Europäische Union pflegt ähnliche therapeutische Massnahmen. Für das nächste Halbjahr übernimmt Ungarn mit Viktor Orban den Vorsitz des EU-Rats. Aufgabe des Vorsitzes der 27 Mitgliedsländer ist es, als «ehrlicher Makler zwischen den Ländern zu vermitteln und nationale Interessen hintanzustellen».