Laut Artikel 236 der Strafprozessordnung (StPO) kann die Verfahrensleitung einer beschuldigten Person bewilligen, Freiheitsstrafen oder freiheitsentziehende Massnahmen vorzeitig anzutreten, sofern der Stand des Verfahrens dies erlaubt. Mit dem Eintritt in die Vollzugsanstalt treten die Beschuldigten ihre Strafe oder Massnahme an. Sie untersteht von diesem Zeitpunkt an dem Vollzugsregime der Anstalt, wenn der Zweck der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft dem nicht entgegensteht.
Mit dem vorzeitigen Strafvollzug soll laut Bundesgericht schon vor Erlass des rechtskräftigen Strafurteils ein Haftregime ermöglicht werden, das auf die persönliche Situation der Beschuldigten zugeschnitten ist. Ausserdem könnten erste Erfahrungen mit der voraussichtlich sachlich gebotenen Vollzugsform gesammelt werden. Für eine Fortdauer der strafprozessualen Haft in den Modalitäten des vorzeitigen Strafvollzugs müsse weiterhin mindestens ein besonderer Haftgrund vorliegen. Der vorzeitige Strafantritt betreffe nur das Vollzugsregime. Die strafprozessuale Haft werde nicht wie üblich in einer Haftanstalt vollzogen, die nur für diesen Zweck vorgesehen sei. Mit dem vorzeitigen Antritt der Strafe würden sich nur die Vollzugsmodalitäten ändern, weil dann das Regime der Vollzugsanstalt zur Anwendung gelange (BGE 143 IV 160 E. 2.1).
Probleme beim Entscheid durch die Vollzugsbehörde
Die Kantone regeln die Kompetenz zum Entscheid über Vollzugslockerungen im vorzeitigen Strafvollzug unterschiedlich. In einigen Kantonen entscheidet die Vollzugsbehörde über die Versetzung in den offenen vorzeitigen Strafvollzug, in anderen hingegen die Strafverfolgungsbehörde oder das Gericht. In Zürich liegt die offizielle Entscheidkompetenz bei der Vollzugsbehörde. Die Verfahrensleitung hat ein Vetorecht. Diese Regelung führt zu höchst unbefriedigenden Situationen, wie ein konkreter Fall kürzlich zeigte.
Ein Beschuldigter befand sich seit Januar 2018 im vorzeitigen Strafvollzug. Im Dezember 2018 erging das erstinstanzliche Urteil. Dagegen erhob der Mann Berufung. Laut § 20 Absatz 2 Satz 3 der Zürcher Justizvollzugsverordnung entscheidet in einem solchen Fall das Amt für Justizvollzug über Vollzugslockerungen, sofern die Strafverfahrensleitung nicht Einspruch erhebt.
Der Beschuldigte beantragte beim Amt eine Versetzung in den offenen vorzeitigen Strafvollzug. Das Amt lehnte ab, weil sich die Verfahrensleitung dagegen aussprach. Dagegen erhob der Beschuldigte zunächst Rekurs bei der Direktion der Justiz und des Inneren des Kantons Zürich, danach Beschwerde beim kantonalen Verwaltungsgericht.
Das Verwaltungsgericht wies die Beschwerde ab (VB.2019.00541 vom 9. Januar 2020). Über den offenen Vollzug müsse gemäss Artikel 235 Absatz 2 StPO die Verfahrensleitung und nicht der Justizvollzug entscheiden. § 20 Absatz 2 Satz 3 JVV ZH verstosse gegen Bundesrecht und sei nicht anwendbar. Der Mann hätte sich mit seinem Gesuch an die Strafverfahrensleitung wenden müssen. Zudem sei die Gewährung des offenen Vollzugs beim vorzeitigen Strafvollzug grundsätzlich ausgeschlossen.
Dagegen beschwerte sich die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich beim Bundesgericht. Sie erachtete den Entscheid des Verwaltungsgerichts als bundesrechtswidrig. Das Bundesgericht trat auf die Beschwerde nicht ein. Die Oberstaatsanwaltschaft sei durch den Entscheid nicht beschwert. Ein negativer Kompetenzkonflikt läge erst vor, wenn auch das Obergericht als Verfahrensleitung die Zuständigkeit verneine (1B_82/2020 und 1B_83/2020 vom 31. März 2020).
Einheitliche Lösung notwendig
Die unterschiedliche kantonale Praxis zur Frage der Kompetenz zum Entscheid über einen offenen vorzeitigen Strafvollzug ist vor dem Hintergrund einer nationalen Strafprozessordnung überholt. Im vorzeitigen Vollzug bezweckt die Haft die Sicherung der Strafverfolgung. Deshalb ist eine Unterstellung sämtlicher Vollzugslockerungen unter die Regeln der Strafprozessordnung und damit eine Kompetenzzuteilung an die Verfahrensleitung oder das Zwangsmassnahmengericht sinnvoll. Für die Inhaftierten gilt die Unschuldsvermutung. Deshalb ist ihre Freiheit so wenig wie möglich einzuschränken.
Strafverfolgungsbehörden und Gerichte können besser als die Vollzugsbehörden beurteilen, welche Öffnungen mit der Sicherung der Strafverfolgung vereinbar sind. Sie kennen den aktuellen Stand des Strafverfahrens und erhalten die neusten Informationen nicht wie die Vollzugsbehörde verspätet und selektiv.
Sodann würde eine Prüfung der materiellen Haftvoraussetzungen durch die Vollzugsbehörden den Haftentlassungsentscheid der zuständigen Behörden präjudizieren und damit massgeblich in den Strafprozess eingreifen.
Die kurzen Fristen der Strafprozessordnung tragen überdies dem Beschleunigungsgebot besser Rechnung als die langen Wege des Verwaltungsverfahrens. Die Haftbedingungen müssen schnell und flexibel dem aktuellen Verfahrensstand angepasst werden können. Die Bewilligung des offenen Vollzugs hängt letztlich von der Beurteilung der Flucht- oder Rückfallgefahr ab. Auch dafür sind die Verfahrensleitungen und Gerichte zuständig. Anschliessend kann die Vollzugsbehörde noch immer die individuell geeignete offene Vollzugseinrichtung wählen.
Es wäre gar eine Überlegung wert, sämtliche Vollzugslockerungen als eine Ersatzmassnahme im Sinne von Artikel 237 Absatz 2 StPO zu qualifizieren und das Institut des vorzeitigen Strafvollzugs abzuschaffen, zumal der vorzeitige Strafvollzug nichts anderes als eine Variante der strafprozessualen Haft ist – und damit eine Ersatzmassnahme.
Nachhaltige Verbesserung des Haftregimes
Der vorzeitige Strafvollzug präjudiziert noch mehr als die Untersuchungshaft das Urteil, denn er setzt die Zustimmung des Betroffenen und damit eine gewisse Freiwilligkeit voraus. Die «Freiwilligkeit» dürfte meist der verzweifelte Versuch sein, dem harten Regime der Untersuchungshaft zu entkommen. Mit der Anordnung des vorzeitigen Strafvollzugs sinkt der Druck zur Beschleunigung der Strafsache. Denn während die Haft bis zum Berufungsverfahren alle drei bis maximal sechs Monate verlängert werden muss, ist der vorzeitige Strafvollzug einzig durch die voraussichtliche Strafdauer begrenzt.
Die Abschaffung des vorzeitigen Strafvollzugs würde somit zusätzlich illegitime Nebeneffekte beseitigen und gleichzeitig das für Betroffene oft destruktive Haftregime dank feinerer Abstufungen der Vollzugslockerungen nachhaltig verbessern.